"Rumpelstilzchen"

"Mecker' nich!"
(Jahrgangsband 1925/26)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1926

Glossen 40 - 42
17. Juni bis 1. Juli 1926


40

Ein Junge ertrunken - Die Tyrannis der Schlagzeile - Sufi-Bewegung - Die gutgehende Arztfirma - Witwen mit Geschäft - Die lebenslustige Berlinerin

In Stolpmünde an der Ostsee ertrinkt vielleicht einmal ein Junge beim Baden. Dann wird die Zeitung für Hinterpommern in Stolp wohl 40 bis 50 Zeilen darüber an der Spitze ihres lokalen Teils bringen. Die Blätter in Kolberg vielleicht 10 Zeilen im provinziellen Teil. In Stettin genügen schon 5 Zeilen unter Vermischtem. Weiter weg kräht kein Hahn mehr nach dem Ereignis. Alljährlich ertrinken ja in Deutschland rund 5100 Menschen.

Geschieht so etwas aber in Berlin auf dem Wannsee, ja, Bauer, das ist etwas ganz anderes. Dann hat das Mittagsblatt, das Abendblatt, die Nachtausgabe, die Morgenzeitung die gegebene und aktuelle "Schlagzeile" als zollhohe Überschrift über zwei oder drei Spalten hinweg. Dann werden Berichterstatter und Ausfrager rudelweise hinausgeschickt. Dann ist alles sofort amerikanisiert, die todtraurigen Eltern müssen Rede stehen, müssen die letzte Photographie des Jungen zur Veröffentlichung heraussuchen, die richterlichen und die Medizinalbehörden und die Dampferkapitäne und die Sportpräsiden werden interviewt - und die Berliner Vertreter der Zeitungen von Stolp und Kolberg und Stettin kriegen eins auf den Hut, wenn sie nicht ausführliche Auszüge aus der hauptstädtischen Presse sofort telephonieren, denn über ein solches Weltereignis, weil es eben in Berlin dazu gemacht worden ist, muß man doch am entferntesten Stammtisch unterrichtete sein.

Also es ist wirklich ein Junge im Wannsee ertrunken, und zwar bei der Gelegenheit einer Rettungsübung von Sanitätsmannschaften, für die, sechzig Meter vom Ufer ab, eine Dampferexplosion fingiert wurde; dabei mußten verschiedene Erwachsene, mit denen es vorher ausgemacht war, ins Wasser springen, um sich retten zu lassen, und der dreizehnjährige Schuljunge aus Zehlendorf tat es auch. Selbstverständlich war er wie die Großen auch ein guter Schwimmer. Vielleicht hat er beim Sprung ins Wasser einen Herzschlag bekommen. So etwas kommt vor, so etwas ist im Einzelfalle - auch in Stolpmünde - sehr traurig, aber wahrscheinlich springen dieselben Jungen, denen die freiwillige Teilnahme an der Übung sicher ein Vergnügen war, tagtäglich beim Baden ins Wasser, ohne daß sie zur Rechten und zur Linken einen Sanitäter haben. Wenn einer einmal beim Baden (oder beim Turnen oder beim Spielen) verunglückt, so ist das, wie gesagt, sehr traurig, aber doch nur Stoff für eine teilnahmsvolle Lokalnotiz; sonst ziehen wir doch nur ein Geschlecht von Pimpelfritzen heran. Hier aber mischt sich Berlin ein, Berlin, auf das die Welt schaut, Berlin, die Metropole, und da bringt denn ein Mittagsblatt die Schlagzeile "Durch eine Rettungsübung gemordet!", denn Berlin ist nun einmal verpflichtet, Sensation zu liefern. Und schon haben allerlei Hochgestellte Angst, den Anschluß an die Sensation zu versäumen, der hauptstädtischen Pressegier nicht dienlich gewesen zu sein, ihren Senf nicht abgegeben zu haben: auch zwei Chefs von Staatsanwaltschaften geben, noch bevor sie amtlich mit der Sache befaßt sind, ja bevor ihre örtliche Zuständigleit geklärt ist, ihre Ansicht durch die Presse kund. Die Eltern, meinen sie, müßten Strafantrag stellen. Selbstverständlich ist auch der unvermeidliche berühmte Rechtsanwalt zur Hand, der durch die dicke Überschrift "Zweifellos Fahrlässigkeit!" dem Gericht, das sich vielleicht mit der Sache zu befassen haben wird, das Urteil vorwegnimmt. Fehlen nur noch - aber das kommt wohl noch - die bekannten Ärzte, die für ihre Praxis gemäß Standesbrauch keine Reklame machen dürfen, es aber zum Ersatz dafür mit ihrer Namensnennung unter belanglosen Zeitungsartikeln versuchen. Ob im Reichstag schon eine Interpellation angemeldet ist, weiß ich nicht, aber das weiß ich, daß in einem großen Berliner Verlage einem unglücklichen Berichterstatter mit Kündigung gedroht worden ist, weil die Konkurrenz 220 Zeilen mehr hatte.

In hundert anderen Fällen, wo vielleicht sogar mehrere Personen verunglückt sind, wird nicht solcher Skandal gemacht. Hier in Wannsee ist aber unter den zufälligen Zuschauern angeblich eine Prinzessin entdeckt worden. Ha! Nun gerät die demokratische Volksseele ins Kochen. Also nun ist alles klar, man hat der königlichen Hoheit etwas vorführen wollen und dafür den Jungen geopfert . . .

Das ist nachgerade unerträglich. Für Menschen von Geschmack ist die amerikanische Aufbauschung von Alltäglichkeiten ein Grund mehr, diese hauptstädtische Wichtigtuerei als Zeichen der Verdummung zu registrieren. Man braucht hier mehr als anderswo Ablenkung von seiner eigenen Geistlosigkeit, man ist es hier mehr als anderswo gewohnt, durch Veranstaltungen oder Zeitungsartikel beschäftigt, unterhalten, erregt, amüsiert zu werden. Es ist nicht zufällig, daß in allen Jahrtausenden der Geschichte immer die Großstädte es sind, in denen auch die Religionen und Sekten so reichhaltig assortiert waren, wie der Sommerausverkauf in einem Warenhause. Man läßt sich eine Auswahl vorlegen. Man nimmt, um der eigenen Gewissensarbeit enthoben zu sein, das bequem Passende. Die große Mode unter den rund zweihundert verschiedenen Heilslehren, die ich im Laufe der Zeit in Berlin kennengelernt habe, ist immer noch der Orient; Persien und Indien voran. Da kommen die "Meister" her, die Männer mit dem frommen Vollbart und dem bernsteingelben Augenaufschlag, denen zu Hause in ihrem Lande vielleicht niemand auch nur einen Turban auf Kredit gäbe, geschweige denn den eigenen ganzen Menschen. In Europa aber und in Nordamerika finden sie immer noch ihre Gruppe und ihr Grüppchen. Das feinste vom feinen ist in Berlin augenblicklich die Sufi-Bewegung, die einstweilen ganz exklusiv ist, noch keine 100 eingeschriebenen Vollmitglieder zählt, die allerdings - das gehört dazu - zum großen Teil genügend mit Glücksgütern gesegnet sind, um dem "Murschid", dem Meister, sein Leben angenehm machen zu können. Dieser Mann mit den seelenvollen Augen, ein Mohamedaner aus Indien, wohnt mit Frau und Kindern in Suresne bei Paris, wo allsommerlich auch seine Berliner Anhänger sich zu religiösen Kursen und Übungen versammeln. Die Berliner Gottesdienste finden allwöchentlich in einem Privathause statt. Der "Murschid" ist sehr tolerant, nimmt Leute aller Religionen als Jünger auf und läßt auch, wenigstens symbolisch, jedermann seinen Glauben. An dem Altar in dickem Weihrauchduft habe ich mir diese Symbolik von einer Ergriffenen erklären lassen. Da steht im siebenarmigen Leuchter, den man dem jüdischen Ritus entnommen hat, ein dickes großes Licht in der Mitte, unter dem sich die Sufi-Gläubigen Jesus oder Moses oder Buddha oder Mohamed vorstellen sollen, während die je 3 Lichter zu beiden Seiten "die sechs Hauptreligionen" versinnbildlichen. Dazu gibt es sechs Bücher von Bibel zu Koran. Unter den religiösen Übungen ist - die Schweigeübung, verbunden mit innerer Versenkung, noch die eindrucksvollste. Einmal in der Woche gibt es auch Heilübungen für solche Brüder und Schwestern, die über suggestive Kräfte verfügen. Der Rest ist das übliche Geschleim über Liebe und Menschenverbrüderung, das urewig anziehende Thema für alle sitzengebliebenen Jungfrauen von über 30 Jahren. Noch ist Berlin erst kleine Filiale, hat aber bereits eine eigene deutsche Sufi-Zeitschrift. Hauptgeschäftsstelle ist Genf. Aber da die Christian Science schon vier Riesengemeinden hier bei uns hat, die Bahai-Prediger sich mehren, Häußer dreimal in der Woche einen vollen Saal von Entréezahlern bekommt, die Buddhisten in einem nördlichen Vorort immer zahlreicher sich versammeln und auch sonst die "Vereinszimmer" aller Kneipen allwöchentlich von irgendeiner exotischen Betübung oder einem einheimischen Schwindel widerhallen, müßte es wunderbar zugehen, wenn der indisch-pariserische Murschid nicht auch bald von uns Lichtstädtern seine größten Einnahmen bezöge. Und wer nicht zu einer funkelnagelneuen Religion läuft, der läuft zu einem funkelnagelneuen Genesungssystem. Wir wissen alle, wie schlecht es zurzeit den Ärzten geht. Wenn sie aber Mephistos Rat befolgen, nämlich der Frauen ewig Weh und Ach "aus einem Punkte zu kurieren", so haben sie noch Zulauf. Nur müssen sie sich in Szene setzen. Müssen populäre Bücher schreiben, populäre Vorträge halten. Und da die großstädtische Presse überall nach Hautgoût schnüffelt, fehlt es dann auch nicht an der nötigen Reklame durch die Presse.

Da sitze ich abends in der Aula eine Charlottenburger Mädchenschule bei solch einem Vortrag. Unter Kollegen erzählt man sich allerlei darüber, worin die Hauptpraxis dieses Arztes bestünde, aber ich will mich an dem Gerede natürlich nicht beteiligen. Ich halte mich bloß an erlebte Tatsachen. Und da muß ich allerdings sagen: was mitunter dieser Arzt, um nicht vom "Inhaber eines gutgehenden Arztgeschäfts" zu sprechen, den anwesenden Frauen und Mädchen, von der Greisin bis zum vierzehnjährigen Schulkind herunter, vorträgt, das ist stellenweise geeignet, einen alten Schimpansen erröten zu lassen. Alles natürlich in einer Form, die äußerlich das wissenschaftliche Dekorum und den Ton der allgemeinen Menschenliebe wahrt. Der Effekt aber ist die Erregung von Lüsternheit, um kein übleres Wort zu wählen, und bei den verbrauchteren Exemplaren der Gattung Weib die Hoffnung, durch Einspritzung von Drüsensekreten - sie sollen von Affen stammen, können aber auch jungen Ziegen entnommen werden - zu neuem Jugendglück zu gelangen. Im Vorsaal werden derweil fleißig die Bücher des Herrn Doktors verkauft. Es ist bei allen solchen Veranstaltungen immer derselbe Kreis von Themen. "Hygiene der Liebe."   "Müssen wir früh sterben ?"   "Neue Eßkunst für Dicke und Dünne."   "Die verjüngte Frau."   "Die Schwäche des Mannes."   "Hygiene der Ehe."   "Die Alternde."   "Heilung der Häßlichkeit."   "Aufklärung für junge Mädchen."   "Mädchenleiden."  Stück für Stück 2 Mark. Die unverstandene Frauen und die unverständigen Mädchen kaufen sich mit heißen Augen die Bücher und schicken voll fieberischer Ungeduld dem Vortragenden auch noch Fragezettel zum Katheder: wie man einen faltigen, dicken Hals los werde oder wie man seinen Mann wieder zur Liebeserweisung bringen könne oder wie man überhaupt - einen Mann kriege. Läßt sich alles machen. Man braucht ja bloß in die Sprechstunde des Arztes zur Behandlung zu gehen, seine Adresse steht im Telephonbuch und über den Vortrag berichtet ausführlich - denn er ist ja einer der ihren - die gesinnungstüchtige Ullsteinpresse mit voller Namensnennung.

Natürlich gibt es Ärzte und Ärztinnen genug, die, ohne populäre Vorträge zu halten und populäre Bücher zu schreiben, auch in puncto puncti manchem in Gram und Scham versinkenden weiblichen Wesen helfen, wirklich helfen. Dazu muß der Helfer aber mehr Menschenfreund und Seelenkenner als Geschäftsmann sein. Patienten sind reichlich da, heute mehr denn je; denn die ungleichartigen Ehen sind in den letzten Jahren Legion geworden, seit für viele Leute die materielle Grundlage als ausschlaggebend gilt. Was ist für den strebsamen Durchschnittsberliner aus kleinen Kreisen heute das Ersehnte ? "Die Witwe mit Geschäft." Die kriegt alleweil ihren Mann; wenn sie will, zehn an jedem Finger. Sehr bald aber merkt er, was er geheiratet hat. Neulich sprach ich solch Umglückswurm. Der junge Mann hatte in das Tapeziergeschäft, fünf Häuser von uns weg, eingeheiratet und stöhnte nun: "Ach, Sie kennen ja meine Frau nicht! Sie wird mehr und mehr meine Schwiegermutter!" Dabei werden diese Berlinerinnen mit Geschäft, wenn sie erst wieder geheiratet haben, meist sehr lebenslustig, nur nicht dem eigenen Mann gegenüber; der ist für die Firma. Im neuen Bierkabarett der Komiker am Kurfürstendamm, in dem ich mich ein spätes Abendstündchen lang von dem "ärztlichen" Vortrag zu erholen gedachte, saß solch ein Ehepaar an meinem Tisch. Die Firma trumpfte auf: eine Flasche Sekt, - "bitte, lachhaft billig, steuerfrei". Nachher hatte der Mann - den Sketsch mit Max Adalbert kenne er schon - eine halbe Stunde dringend anderswo zu tun. Je wortkarger ích blieb, desto lebhafter wurde die Frau mit Geschäft und bemühte sich sichtlich ums Hochdeutsche: so spütz und lüblich und foin. Ich goß ihr aus meiner Flasche ein, um sie still zu kriegen. Sie trank und trank, fiel dann plötzlich zurück ins Berlinerische und sagte: "Hau' ma eens in de Fresse, ick jloobe, ick bin zu jlicklich!"
17. Juni 1926 (Donnerstag)


41

Der altmodische Haeseler - Vertikale Hauswirtschaft - Die Anschlagsäulen vor dem Volksentscheid - Die Frau im Kommunistenkeller - Dieners Sieg in der Boxmeisterschaft - Das Ende des Hungerkünstlers

Wirkliche "Federn" zum Schreiben, nämlich Gänsekiele, habe ich zum letzten Male beim Grafen Haeseler in Harnekop gesehen. Alle seine Briefe an mich sind damit gekratzt. Ob das Hängen am Alten oder - wahrscheinlicher - die eingewurzelte Sparsamkeit den Feldmarschall dazu bewog, kann ich nicht feststellen; gefragt habe ich natürlich nie. Er konnte in manchen Dingen sehr modern sein. Schon zehn Jahre vor dem Weltkriege erklärte er, die taktische Einheit sei heute nicht mehr das Bataillon, sondern der Mann, der Schütze. Auf anderen Gebieten wieder war er höchst altmodisch. So war er offenbar der Ansicht, daß weibliche Wesen sich mit der Badebütte zu Hause zu begnügen hätten. Jedenfalls ließ er, als das Warenhaus Wertheim einmal einen Schub junger Verkäuferinnen zum Sommerurlaub im Dorfe Harnekop einquartierte, durch den See am Schloß sofort einen festen Bretterzaun ziehen, so daß den Mädchen nur das knietiefe Wasser ganz vorn am Ufer blieb. Eine weitere Wertheim-Expedition erfolgte nicht. Solcher alten Sonderlinge haben wir aber nicht viele gehabt. Hie und da trifft man noch einen Schäfer mit Stahl und Stein, der sich zu Streichhölzern nicht bekehren will, oder einen Landpfarrer mit Fidibussen auf dem Pfeifenständer. Als Junge habe ich noch in Familien verkehrt, in denen nicht nur wie bei uns "selbstverständlich" das Brot zu Hause gebacken und das Schwein gepökelt, sondern auch Wolle gesponnen, Tuch gewebt, Seife gekocht, Licht gezogen, Tinte gemacht und das Wort "Die Axt im Haus ersetzt den Zimmermann" in die Tat umgesetzt wurde.

Dieser, man würde heute sagen, vertikale Aufbau der Hauswirtschaft hatte sein Gutes. Zunächst: welch reichhaltiger Anschauungsunterricht für die Kinder! Sodann: welch treffliche Vorbereitung für ein praktishes Leben! Aus diesen altmodischen Häusern sind unsere besten kolonialen Pioniere hervorgegangen.

Das heutige Großstadtkind steht zwischen Staubsauger und Rundfunk und weiß kaum, wie Wäsche gewaschen wird, denn auch die wird dank der modernen Arbeitsteilung aus dem Hause gegeben. Man weiß überhaupt nichts mehr vom Zufassen. Man hat sein Adressenverzeichnis vor sich auf dem Schreibtisch und - man telephoniert. Ist auch nur ein Vorhang aufzuhängen, so kommt dazu der entsprechende Spezialist. Der Drang nach dem eigenen Häuschen mit Garten oder auch nur nach der Wohnlaube auf Schreberland ist die natürliche Reaktion gegen solche Zustände. Man will zugreifen, man will pflanzen, man will basteln; man will wieder ein natürlicher Mensch werden und nicht bloß Besteller am Fernsprecher sein. Bei ganz armen Großstadtmenschen ist der Drang derselbe, auch wenn sie das Telephon nur vom Hörensagen kennen; bei ihnen ist es die Reaktion gegen das so unnatürliche, vielfach menschenunwürdige Eingepferchtsein in ungesunden Räumen.

Während der erregten Tage, die dem Volksentscheid über die Fürstenberaubung vorangingen, hat mancher von uns da hineinsehen können. Man steht vor einer Anschlagsäule, man wird mitteilsam, man schließt Bekanntschaften, man sucht sie auf. Daß wir 14½ Millionen zum Stehlen bereite Deutsche haben, ist natürlich nicht wahr. Das erschütterndste und gleichzeitig erhebendste an den Berliner Vorgängen war für mich die kindliche Gläubigkeit dieser entwurzelten und eigentumslosen deutschen Großstadtmenschheit. Sie liest die Aufrufe. Sie steht fassungslos vor der sogenannten Proklamation des Kaisers an sein Volk, dem infamsten und plumpsten Schwindel des von dem landfremden Herrn Kuczynsky geleiteten Ausschusses. "Da ist es doch gedruckt, das muß doch wahr sein!" Das einfältigste und wahrheitsliebendste Volk der Erde wird es nie begreifen, wie frech das asiatische Gewächs der Lüge wuchert; auch im Kriege sind wir ja nur ihr erlegen und nicht etwa feindlicher Tapferkeit. Ächzend steht eine arme junge Frau aus dem Volke, die sichtlich nicht mehr allzuweit von ihrer schweren Stunde entfernt ist, vor der Proklamation und faßt sich an den Kopf. "Da soll doch gleich . . ." Sie ist in diesem Augenblick - bisher hat sie sich darum nicht gekümmert - für den kommunistischen Volksentscheid gewonnen. Wir kommen ins Gespräch, sie schüttet mir ihr ganzes Herz aus, ich höre nur zu und "agitiere" nicht etwa, ich geleite sie schließlich nach Hause. Ist das überhaupt noch ein Heim ? Es ist ein Kellerraum nach dem Hofe zu, in dem die Frau mit ihrem arbeitslosen Manne haust. Wenn sie nachts ein Bedürfnis hat oder wenn sie Wasser holen will, muß sie durch den Vorderkeller durch und die Treppe hinauf zum Hof. In den Pfingsttagen, während der Kommunistenparade, mußte sie über 30 dort einquartierte Rotfrontler hinwegsteigen und wollte vor Scham schier vergehen. Sie beschwerte sich beim Wirt, der das veranlaßt hatte, einem kommunistischen Budiker. Darauf ließ der ihre Tür zunageln, so daß sie (in ihrem Zustande!) gezwungen war, zu dem engen Kellerfenster hinaus- und hereinzuklettern! Das ist - in der Praxis - die proletarische Solidarität. Du lieber Himmel; auch da nur Ausgebeutete und Ausbeuter. Diese Frau ist schließlich doch nicht zum Volksentscheid hingegangen, auch ihr Mann nicht. Aber Ungezählte haben es getan, aus Angst oder aus Betörung, denn sie haben kindlich jeder Drohung und jedem Versprechen geglaubt, geglaubt auch jeder Verleumdung. Ein Volksentscheid könnte ein Volksgericht sein. Etwas ganz Heiliges. Aber er ist nur eine Geldfrage. Wer 14½ Millionen Mark zur Betäubung der Massen aufwenden kann, der kriegt eben so viele Millionen Betäubter. Die Lügenpest ist nicht etwa nur von Moskau finanziert worden, sondern zum größten Teil durch Beiträge aus Deutschland selbst. Auf unserem Hofe erscheint wohl ein dutzendmal ein Sprecher der Reichsbannerleute. Trompetenstoß. Ansprache. "Keinen - Pfennig - den Fürsten! Stimmt - alle mit - Ja!" Nachher werden die einzelnen Etagen abgegrast. Die Bankiersfrau unter uns gibt reichlich zu der Kollekte. Wir hören, wie sie dabei sagt, weiter hinauf möchten die Herren sich nicht bemühen, bei mir hätten sie sicherlich schlechten Empfang.

Am Tage nach dem Volksentscheid ist Berlin wieder ruhig. Alles bekommt sein Alltagsgesicht, die Aufrufe werden von den Häusern gekratzt, man schrubbert, man wäscht, man putzt. Das Endziel ist nichts, die Bewegung alles, pflegten die Sozialisten früher zu sagen. Sie wissen es ja selber aus den amtlichen Ziffern, daß eine völlige Ausplünderung der früheren Fürstenhäuser nur so viel einbrächte, daß auf jeden von uns Deutschen - 9 Pfennige jährlich entfielen. Das lohnt also kaum. Aber das Hineintreiben in revolutionäre Stimmung lohnt, das Einfangen in die Lüge lohnt, das Hinwegtäuschen über die eigene Mißwirtschaft in Staat und Gemeinde lohnt. Man muß das Volk in Aufregung halten, man muß die Großstadtmenschheit beschäftigen, sie darf nicht zur Besinnung kommen.

Noch zwei Tage vor dem Volksentscheid ist alles Interesse dafür, auf die Dauer eines Tages, wie weggewischt, denn da hält ein viel wichtigeres Ereignis die Bevölkerung in Atem, da gibt es den "Entscheid" über die deutsche Boxmeisterschft der Schwergewichte. An die 16 000 Menschen fiebern im großen Oval der Treptower Radrennbahn, weitere Tausende harren vor den Toren auf die erste Nachricht über den Sieger, viele Zehntausende in ganz Berlin warten zu Hause am Rundfunk oder in der Kneipe darauf.

Das muß man ja sagen: es ist phantastisch schön. Das Menschenmeer in tiefem Dunkel, leise grollende Brandung, darüber der nachtschwarze Himmel, in der Mitte aber fast überirdisch hell "der Ring", das viereckige Kampfpodium zwischen den Seilen; vierzehn Bogenlampen eng aneinander machen die Boxerleiber marmorweiß, beinahe durchsichtig. Es sind stattliche große Kerle, dieser Samson-Körner, dieser Diener, und wenn sie rund 84 und 87 Kilo wiegen, so ist doch kein Lot Fett dabei, sondern nur Knochen und Muskelstahl. Samson-Körner, der bisherige Meister, der erprobte, 38 Jahre alt. Sein Gegner Diener, der das "blaue Band" erkämpfen will, nur 24 Jahre. Er hat nicht solche Muskelgebirge wie der Alte. Er hat auch noch nicht eine so zertrümmerte Sattelnase, auch wenn sie schon reichlich plattgeschlagen ist; alle diese Boxer haben etwas Negerhaftes. Die vorhergegangenen Kämpfe leichterer Gewichte haben keinen Niederschlag gebracht, sondern nur Entscheidungen je nach der gezeigten Technik, nun aber hält man den Atem an, nun stockt schier das Herz, denn unter einem sinnverwirrenden Hagel von Hieben - Herzschlag, linker Schwinger, Kinnhaken, Kinnhaken, Kinnhaken - muß Samson-Körner gleich im ersten Gange zu Boden, der Ringrichter zählt 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, - da erhebt sich taumelnd der Koloß, ehe die 10. Sekunde, die die Niederlage besiegelt, verkündet wird, stellt sich wieder zum Kampf, alles denkt, daß er nun knockout geboxt wird, aber da ertönt der Gong: die 3 Minuten der ersten Runde sind vorüber. In der zweiten ist es ähnlich. Wieder muß Samson-Körner nieder; aus einem großen Riß über dem rechten oberen Augenhöhlenrand trieft das Blut ihm über das Gesicht. Aber dieser eiserne Stier ist ungeheur "hart" im Nehmen, er ist nicht unterzukriegen, sein Herz arbeitet ruhig und kräftig weiter, wie in der Skagerrakschlacht unter den Granataufschlägen die Maschinen der deutschen Panzerschiffe, er erholt sich sogar sichtlich im Laufe des Kampfes. Die Menschenbrandung donnert um ihn her. Er hat alle Sympathien für sich, auch derjenigen Zuschauer, die für den jungen Gegner voreingenommen waren. Dieser, der Schlächtergeselle Diener aus Bibra in Thüringen, bleibt in den weiteren Gängen seiner forschen Angriffstaktik treu, ist aber vom vierten Gange an auch stark behindert; bei einem Zusammensto0 der beiden Schädel ist ihm das rechte Auge völlig verquollen, so daß er nur noch mit dem linken sehen kann. Sein Trainer, der Türke Sabri Mahir, wirft sich in der Pause über ihn, küßt ihm das Blut weg, saugt es ihm ab, - nun fängt die Geschichte an fast widerlich zu werden. Samson-Körner hält sich bis zur letzten, der 15. Runde, prachtvoll, kann aber den Punktverlust nicht mehr aufholen: Diener wird als neuer Meister ausgerufen und bekränzt und umarmt und gefilmt. Die "größere Börse" ist sein. Mindestens 25 000 Mark kann wohl Sabri Mahir für ihn kassieren und nun mit ihm nach Amerika fahren, wo sein Schützling den letzten Kampfschliff erhalten soll, um "internationale Klasse" zu werden. Zwei Tage nach dem Kampf sitzt Diener schon zurechtgeflickt und abgeschwollen in einer Tanzbar. Mein Gott, 24 Jahre! "Wein, Weib und Gesang entsagen, mag ganz gut sein," sagt er, "aber vorläufig baue ich nur mit Gesang ab!" Im übrigen hat er wenig zu sagen. Über sein Heim und seine Liebhabereien lassen sich nicht Feuilletons schreiben. Er futtert tüchtig, wie eben alle Schlächtergesellen es gewohnt sind, er übt sich tüchtig, dieses aber nur am Vormittag; nachmittags wird Billard gespielt, abends wird getanzt. Er hat keinen gelehrigen Piepmatz wie Breitensträter, er züchtet nicht seltene Blumen, er liest keine Bücher, er ist ein ganz animalisches Wesen und, nehmt alles nur in allem, eben der Meisterboxer von Deutschland. Also das Objekt der Begeisterung von Hunderttausenden, die vielleicht "Nie wieder Krieg!" brüllen, aber an lädierten Kinnladen ihre Berserkerfreude haben.

Der Stern eines anderen deutschen Nationalhelden ist inzwischen im Niedergehen. Man hat den Hungerkünstler Jolly verhaftet. Er hat seinen Spießgesellen nicht genug gegeben. Sie haben nun verpfiffen, daß er allnächtlich durch ein winziges Löchelchen im Glaskasten Schokolade zugesteckt bekommen habe. Er hat also nicht gegen Eintrittsgeld buchstäblich gehungert. Vorspiegelung falscher Tatsachen zur Erzielung eines Vermögensvorteils: Betrug.

Leise Zweifel an der Reellität des Hungerunternehmens habe ich schon damals vor Monaten geäußert, nur nahm ich damals an, daß eine flüssige Zuckerlösung dem Selterwasser zugefügt war, das Herrn Siegfried Herz - so heißt Jolly mit bürgerlichem Namen - batterieweise zur Verfügung stand. Der ingeniöse junge Mann hatte vor seiner Glaskastenkur schon 14 Tage lang im Asyl für Obdachlose genächtigt. Es ging ihm also schlecht. Einmal ließ er sich in einer Kneipe in der Gormannstraße von einem Mann eine Zigarette schenken, erzählte diesem von seinem früheren Dauerhungern in Kriegsgefangenschaft und wurde daraufhin von dem Gelegenheitsbekannten "gemacht". Der Fremde inszenierte die ganze Sache, peitschte die Öffentlichkeit durch die Presse auf, ließ sich alles ein schönes Stück Geld kosten und wurde zum Dank dafür von Siegfried Herz - vor die Tür gesetzt. Herz-Jolly selber benutzte seine Rieseneinnahmen zu "entsprechendem" Leben, ließ sich für einen Bummel nach Krefeld ein Sonderflugzeug ankurbeln, liebte probeweise die lange Reihe der Berliner Mädchen durch, die von dem reichen Hungerer gern geheiratet worden wären, wohnte in einem Luxushotel und - blieb kleine Rechnungen aus früherer Zeit schuldig.

Vielleicht landet er bald wieder im Asyl für Obdachlose. Wenn er nicht inzwischen anderswo für längere Zeit zurückbehalten wird.

Einen Kilometer rund um die Grenadierstraße aber herrscht tiefe Bekümmernis, denn dieser Jolly war doch die große Hoffnung bis weit nach Berlin N. Ein Tüchtiger, der sich freie Bahn erkämpft hatte, ein proletarisches Genie, das sich durchzusetzen vermochte. In den Sternen stand's geschrieben, so erklärte jede Wahrsagerin der Gegend, daß dieser Mann noch einmal als Minister enden würde.
24. Juni 1926 (Donnerstag)


42

Von deutschen Kellnern - Restaurant español in der Kurfürstenstraße - Der Mann mit dem Stammbaum - Hofbräu in Berlin - Schüler-Achterrennen - Einzug der siegreichen Truppen im Film - Achtung, Lippenstift

Killarney. Mitten im südwestlichen Irland. Hotel am See. Die - damals - trotz grauer Fäden immer noch berückend schöne Baronin d'Inohan, die Tochter des einstigen portugiesischen Gesandten in Rio, legt den Finger an den Mund: "Pst! Sagen sie mir das nicht auf deutsch! Jeder zweite Kellner versteht es!" Wahrhaftig. Eine Probe bestätigt es. Überall in der Welt, jetzt auch allmählich wieder nach dem Kriege, gibt es deutsche bedienende Geister, ganz unauffällig, neben den Landeskindern. Nach Jahren findet man sie dann daheim in Berlin oder an anderen Mittelpunkten des deutschen Fremdenverkehrs. Immer noch unauffällig. Der deutsche Spießbürger bringt auf Reisen sofort die paar Brocken französisch oder italienisch an, die er kennt, auch wenn es gar nicht nötig ist, der deutsche Kellner aber ist der schweigsamste Diplomat, der ungefragt nie erkennen läßt, daß er so sprachenkundig ist wie weiland der Kardinal Mezzofanti. Ich habe seit jeher eine Schwäche für diesen Stand. Es ist mancher Schönheitssucher in ihm, der von Land und Leuten in märchenhafter Ferne mehr weiß, als der durchschnittliche Schiffskapitän, der in den Häfen alle Hände voll zu tun und keine Zeit für vergleichende Völkerpsychologie hat.

In der Kurfürstenstraße 73 in Berlin bestand einst ein pomphaftes Lokal, das nur von nicht mehr zweifelhaften Männern aufgesucht und schließlich polizeilich verboten wurde. Das "Ristorante Roma" zog ein und machte sehr bald bankerott, denn italienische Kneipen gibt es schon bald im Überfluß bei uns. Jetzt ist seit zwei Wochen das "Restaurant español" dort einquartiert, während es bisher in Berlin nur den spanischen Südfruchthändler in der Potsdamer Straße gab, der fabelhafte Geschäfte - auch mit levantinischen Schleckereien - macht. Mit einem Blick überschaut man beim Eintritt die Zusammensetzung der Gesellschaft. Da sitzt in Erinnerung versonnen vor einer Flasche Rioja der deutsche Oberlehrer mit Frau und Kind. Da gackert eine italienische Gesellschaft junger Leute. Da unterhält sich in stolzer Zurückhaltung eine spanische Familie, die es aber nicht übelnimmt, wenn man im Vorbeigehen mit stillem Kopfneigen der glutäugigen Tochter huldigt. Da verhandelt eine moderne Mißgeburt vom Kurfürstendamm mit den Kellnern über die Weinkarte. Unter diesen Kellnern ein spanischer Sancho Pansa, eine rollende kleine Fettkugel. Seine Kollegen aber sind samt und sonders Deutsche, nur daß sie das Deutsche schon schwerfällig sprechen; der, der mich gerade bedient, ist bis vor kurzem, lange Jahre, sein halbes Leben, in Rosario und Valparaiso und Bogota in Stellung gewesen. Der Arroz a la valenciana, den er mir serviert, ist vortrefflich und zaubert mir ganz Spanien wieder her. Auch zu Hause am Familientisch beflügeln wir manchmal unsere Phantasie durch ausländische Leibgerichte; und für uns haben sie ja alle sozusagen Fleisch und Blut. Im Reichstagsrestaurant radebrechte neulich ein Abgeordneter über einem "ausländischen" Worte herum. Diskret neigte sich der Kellner über ihn und flüsterte ihm die Deutung zu. Große Überraschung. "Woher wisse se denn dees ?" Je nun, man sei doch viel draußen in Stellung gewesen. "So, wo den ?" Na, in Newyork, in Kairo, in Kalkutta, in Saigon und anderswo. Ein anderer Kellner im Kaminsaal des Reichstags wird von einem biederen Reichsboten gefragt, wie er den freien Sonntag verbracht habe; er sei wohl im Kino gewesen. Und der erwidert: "Nein, ich habe mir Hebbels Herodes und Mariamne im Theater angesehen; aber das kennen Sie wohl nicht." Demselben Kellner zahle ich dieser Tage mit einem neuen Fünfmarkschein und bemerke beiläufig, der Kopf des kleinen deutschen Bauernmädchens darauf sei doch wirklich nett. "Deutschen Bauernmädchens ? Das ist doch slavischer Typ!" sagt er. Ja, das müsse er wissen. Er beschäftige sich viel damit. Er selber sei rein germanisch, er komme aus einem Hof in der Lüneburger Heide, der Stammbaum seiner Familie reiche lückenlos bis zum 14. Jahrhundert.

Man kann in Deutschland - in Berlin nachgerade mindestens so reichlich wie in Hamburg - Speisen und Getränke und Menschen und Kunst aus aller Herren Ländern genießen und sich dadurch auch in Nichtreisejahren ein Paradies der Erinnerung schaffen. Viel seltener ist im Auslande für die Fremden Deutsches zu haben. Hätte die Zeit der deutschen Ausbreitung, die wir von 1888 bis 1914 erlebten, bis heute angehalten, hätten die Feindbundmächte diese Entwicklung nicht durch den Krieg unterbrochen, so gäbe es heute schon in sämtlichen Hauptstädten der Erde sicher ein "Deutsches Haus" mit konzentrierten deutschen Genüssen leiblicher und geistiger Art. Aber sogar im Lande selbst ist der kolonisatorische Drang dieser Sorte bei uns ja noch nicht rege genug. Die Werbung versagt. Von der Wunderherrlichkeit der wasserreichen Mark ahnen die wenigsten Süddeutschen etwas. Umgekehrt sieht mancher Urbayer scheel dazu, daß die norddeutschen Besucher ihm angeblich das Bier wegsaufen. Da besteht das Münchener Hofbräu - ach, allein dieser Maibock könnte einen Republikaner mit der Monarchie versöhnen - schon seit Jahrhunderten und hat doch erst heute, am 1. Juli 1926, seine erste Kolonie außerhalb Münchens "eröffnet", das eigene Heim im neuen Europahaus am Askanischen Platz in Berlin, just gegenüber dem Anhalter Bahnhof, in dem die Münchener Züge einlaufen. Das Lokal, das mehr als 1000 Personen gleichzeitig atzen und tränken kann, ist 60 Meter tief, hat auf der einen Seite die Brandung des tosenden Großstadtverkehrs, auf der anderen den ruhigen Waldfrieden des Prinz-Albrecht-Parks, und wenn erst der Dachgarten dem Betriebe übergeben sein wird, haben wir hier die - soweit es in dem Steinmeer überhaupt denkbar ist - ideale Stätte zum Aufatmen nach des Tages Last und Mühe. Drunten im Keller, neben den 4 Kegelbahnen, lagern täglich frisch bei einer Temperatur von nur 4 Grad selbst an heißen Tagen 130 Hektoliter Bier. Das reicht. "Eins, zwei, drei, gsuffa!", übt schon heute der Berliner im Chorus. Er ist ja so gelehrig. Und er liebt alles Süddeutsche so sehr. Je unangenehmer er selber zuweilen auffällt, desto angenehmer fallen ihm die entlegeneren Landsleute auf. Ganz Berlin pilgert zum Hofbräu auf der Suche nach einem richtigen Bayern Und wenn wirklich einer da säße und mit dem Daumen auf eine Berliner nebenan deutete und wohlwollend erklärte: "Dees is a Viech!", so würde besagter Berliner vor Freude erröten, denn so viel weiß er schon, daß Viech auf norddeutsch Mordskerl bedeutet, famoser Bengel, oder wie der Engländer sagt: a fine fellow. Seit langen Jahren habe ich immer ein ästhetisches Unbehagen gespürt, wenn wieder ein Bierpalast oder eine Weinkathedrale in Berlin entstand, weil es immer auf Protzen und Prunken hinauskam. Fast nicht zu überbieten die - Aborte bei Kempinski: mit echter Goldmosaik. Man denkt, man kommt in die Markuskirche von Venedig. Hier das Münchener Hofbräu im Europahaus ist schlicht und gemütlich. Architektonisch ist der gotische Laubenstil der Innstädte in den Spitzbogen und den linienklaren großen Beleuchtungskörpern angedeutet. Zwei Gemälde von Professor Herterich-München - Isar und Frauentürme, Bavaria und Oktoberwiese - sollen noch den Gartensaal schmücken, im übrigen ist Dekoratives nur ganz leicht hingewischt, so in dem Trinkstübel Münchener Kindl und Berliner Bär, die einander Patsche und Pranke reichen, - alles in allem eine wohltuende Angelegenheit, die dem Geschmack der Münchener Baufirma zur Ehre gereicht.

Allen weinerlichen Propheten zum Trotz, die in jedem Kellner einen Abgesandten des Teufels sehen und unseren nationalen Zusammenbruch durch Alkohol vorhersagen, sei übrigens festgestellt, daß wir nüchterner werden. Wir alle. Auch die Bayern. Selbst im Hofbräuhaus in München wird heute erheblich weniger Bier konsumiert als vor dem Kriege. Das ist nicht etwas nur dadurch zu erklären, daß wir heute eben weniger Geld haben. Sichtlich tut der Sport das seinige dabei. Sogar die eingeborensten Münchenr, wenigstens die jüngeren, haben doch im Laufe des letzten Menschenalters entdeckt, daß es vor den Toren Berge gibt, und wenn man vor der Skitour etliche Maß heruntertrinkt, kommt man nachher nicht weit. Die gleiche Erkenntnis ist dem Berliner für seine Ruderfahrten aufgegangen und für allerlei Wettspiele auf dem grünen Rasen. Man braucht nur einmal in das Gewimmel auf dem Werbefest der Schülerruderer im Wannsee oder auf die prachtvollen Gestalten bei der Regatta der Turnlehrerinnen gesehen zu haben, um das zu wissen. Fast ist bei uns die begeisterte Anteilnahme an solchen Dingen schon so groß wie in England, wenigstens in den Kreisen, "die es angeht". Der Achterkampf auf der Themse zwischen Richmond und Morlake, den die studentischen Mannschaften von Oxford und Cambridge alljährlich ausfechten, ist ungeheuer populär. Wochenlang vorher wird auf Hellblau oder Dunkelblau gewettet. Und an dem Tage selbst hallen die Ufer wider von den erregten Zurufen der Menge: "Oxford go!"   "Cambridge go!" Etwas derartiges entwickelt sich bei uns zwischen den Schülerruderern der Havel und der Spree, zusammen über 50 Vereine, aus denen jeweils im Juni die je 8 besten Ruderer nach monatelangem tüchtigen Training im Rennachter um den großen Wanderpokal kämpfen. Die von der Oberspree hatten alle die letzten Jahre hindurch den Gewinn für sich gebucht. Die vom Wannsee haben jetzt zum erstenmal einen harten Sieg erfochten; die ältesten Protektoren glucksten vor Rührung über das Ergebnis. Die von der Spree seien gut im finish, aber zu weich im Einsatz, erklärten die Sachverständigen. Einer unserer beiden Oberprimaner saß mit im Siegerboot. Ich kann es bezeugen, daß er den Teufel Alkohol redlich gemieden hat, eine Zeitlang fast übertrainiert war, aber seine Schulaufgaben nicht etwa vernachlässigt hat.

Am letzten Sonntag ging es wieder hinaus, diesmal auf Wanderfahrt. Unter Verzicht auf den "Feez", der derweil in Staaken bei Berlin winkte. Da wären die Buben auch gar zu gern gewesen. "Sechstausend Zuschauer gesucht!", hatte in den Zeitungen gestanden. Zuschauer - zum Siegeseinzug der Truppen am 16. Juni 1871 unter Kaiser Wilhelm I. durch das Brandenburger Tor. Das gehört zum zweiten Teil des großen nationalen Bismarckfilms. Man hat - als Publikum - sich nur auf die Tribünen zu setzen und im entscheidenden Moment mit Taschentüchern zu winken; dafür wird man "umsonst gefilmt". Nur auf die ersten Bankreihen darf man nicht. Da sitzen im Stil der Zeit kostümierte Statisten, die in der nächsten Umgebung geworben sind, darunter junge Mädchen aus den Dörfern hinter Spandau, die jubelnd in die Hände klatschen, als ihnen gesagt wird, sie müßten auf die heranmarschierenden Soldaten Blumen werfen und könnten dann auch wohl im Siegestaumel den und jenen Krieger umarmen. Diese Krieger von 1870/71, denen man zum Teil Vollbärte angeklebt hat, sind Stahlhelmer aus Potsdam und Umgegend, die die Nacht zum Sonntag auf Stroh in der großen Filmhalle - früher Zeppelinhalle - geschlafen haben und am frühen Morgen eingekleidet worden sind. Mitglieder des Kriegervereins Staaken (Kriegervereinsmitglieder besitzen immer Zylinderhüte!) markieren die Berliner Stadtverordneten und die Reichstagsabgeordneten am Brandenburger Tor. Eine ungeheure Organisationsarbeit ist geleistet, bis alles klappt. Der Architekt hat den unteren Teil des Brandenburger Tores, bis zu etwa 5 Meter Höhe, kulissenmäßig in richtiger Höhe aufgebaut. Auf dem Gerüst der Kurbelleute aber ist der obere Teil samt Quadriga - auf eine Glasscheibe gemalt, durch die hindurch photographiert wird, so daß Glasbild und Kulisse unmerklich in einander übergehen. Außer den Mannschaften zu Fuß, zum Teil in bayrischem Raupenhelm, zum Teil in schwäbischem Käppi, tummeln sich hier Hunderte von Pferden und harren ihrer hohen Herren. Moltke macht ein ganz unglückliches Gesicht, denn erstens wackelt ihm der zu kleine Helm oben auf der Perücke und zweitens hat er Bedenken, "an Bord eines Pferdes" sich verfrachten zu lassen. Für den Prinzen Friedrich Karl muß der Gaul mehrfach gewechselt werden; der eine blieb stehen, wenn der Prinz eigentlich vorwärts wollte, der andere ging in sausendem Schritt ab, wenn der Prinz gern gehalten hätte. Bismarck ist, um militärisch zu sprechen, halbnackt, er reitet nämlich ohne Handschuhe und auch sonst in nicht ganz korrekter Uniform. Ja, es ist schwierig, aus großen Filmschauspielern plötzlich richtige Soldaten zu machen. Kaiser Wilhelm I. begegnet mir auf Kammer noch in Bratenrock und Unterhosen. Der Kronprinz von Sachsen ist eine Weile unauffindbar. Ein reitender Schutzmann mitsamt Pickelhaube, der durch das Brandenburger Tor "hervorsprengen" soll, fällt zweimal vom Pferde und muß ausgetauscht werden.

Der Regisseur setzt immer wieder das Megaphon an die Lippen, und rollende Sätze schallen über das Blachfeld. "Die drei Mitteltore müssen für das 1. Bataillon freibleiben!"   "He, Sie da, der Schutzmann: machen Sie, daß Sie wegkommen!"  (Unerhört; so etwas ist einem Schutzmann noch nie gesagt worden.)  "Wo ist das Pferd für Moltke ? Das Pferd für Moltke ?"   "Bitte, die gnädige Frau da, - raus!"   "Der Herr, der den Kronprinzen von Sachsen spielt, hierher!"   "Bei der Probe die Blumen noch nicht wegwerfen, nur markieren!"  Eine, zwei, drei Proben; Musik, Tschingtara, Fahnenkompagnie, Kürassiere, Ulanen; zuerst ist alles mehr oder weniger Horde, dann halten allmählich die deutschen Bundesfürsten und die Generäle (unter denen sich einige wirkliche, allerdings von 1914/18 befinden) schon leidlich Richtung und Fühlung. Es klappt! Es klappt!

Es klappt unter mächtiger Begeisterung. Man ist von der großen Erinnerung hingerissen. Eben erst haben die Staakener Ehrenjungfrauen unter Scherz und Gelächter die Unterröcke heruntergelassen und an die Knie festgebunden, um die langen weißen Gewänder von 1870 vorzutäuschen, aber jetzt, wo der gütige alte Kaiser heranreitet, um von ihnen den goldenen Lorbeerzweig zu empfangen, da geht das Herz ihnen durch, da möchten sie auf einmal heulen und ihm die Hand küssen. Kleine Buben in steifgestärkten weißen "Vatermördern" und blauem oder braunem Bratenröckchen laufen herzu. Am liebsten liefe alles herzu.

Auf dem Heimweg. Bummel durch die entfernte Vorstadt. Noch ganz befangen in alten Zeiten. Da grellt ein Plakat im Drogenladen, zieht unsere Blicke auf sich. Wir sind wieder in der Gegenwart. Da steht nämlich:

Lippenstift,
kuß- und weinecht!

1. Juli 1926 (Donnerstag)



Glossen 37 - 39

Jahresinhalt

Glossen 43 - 46

© Karlheinz Everts