Zeit- und Unzeitgemäßes

(Harmlose Plaudereien.)

Ach hätt' ich —

Von Freiherr von Schlicht.
in: „Allg. Thür. Landeszeitung Deutschland” vom 27.Mai 1923

Drei Worte nenne ich Euch inhaltsschwer — aber nein, so darf ich nicht anfangen, das hat schon lange vor mir ein anderer, ein ganz Großer getan, mit dem ich weiter nichts gemeinsam habe, als daß auch mein Name mit einem großen Sch anfängt. Aber trotzdem, da ich mir den Anfang nun einmal bei Schiller gepumpt habe, kann er meinetwegen auch stehen bleiben, zumal ich selbst wirklich keinen besseren wüßte, denn wenn auch nicht wie Schiller in Versen, sondern in ganz gewöhnlicher Prosa nenne auch ich Euch drei inhaltsschwere Worte und die lauten: Ach hätt' ich!

Die drei Worte hört man jetzt überall in Stadt und Land. Gehst du aufs Land hinaus, in jedem Bauernhaus und selbst im Kuhstall drin, da stöhnt die Melkerin: Ach hätt' ich!

Aber sie haben alle nicht gehättet und sie jammern und klagen trotzdem oder gerade deshalb.

Ach, seufzt und stöhnt die arme Witwe, ach hätt' ich gewußt, daß das Leben noch einmal so teuer würde, daß ein Ei bald tausend Mark kostet und ein Wecken Butter soviel wie damals als ich heiratete meine ganze Aussteuer, dann hätte ich bei Kriegsausbruch nicht alle meine mühselig ersparten schönen Goldstücke abgeliefert, sondern hätte sie hübsch aufbewahrt und bekäme dafür heute für das Stück mehr als zweihunderttausend Mark. Und das machte, da ich siebenundsechzig Zwanzigmarkstücke hatte —

Und wie jeden Abend rechnet sie sich auf einem Stück Papier aus, was sie heute hätte, wenn sie damals nicht hätte. Aber sie hat damals doch und vergißt in der Not der jetzigen Zeit, wie stolz und wie glücklich sie war, daß auch sie damals dem Vaterland mit ihren paar Goldstücken zur Hilfe kommen konnte.

In seinem Wohnzimmer sitzt der pensionierte Major a.D., raucht seine Zigarre und weiß nicht, ob er sich an dem Genuß erfreuen oder ob er während des Rauchens mordsmäßig vor sich hin fluchen soll, denn die Zigarre, die er da ihrem Ende entgegen raucht, ist seine letzte, wenigstens seine letzte anständige und vielleicht bald überhaupt seine letzte, denn wer kann sich heute noch Zigarren kaufen? Die im Preise noch halbwegs erschwinglichen sind so klein, daß man sie, wenn man mit ihr im Munde vor dem Spiegel steht, nur dann sieht, wenn man sich ein Opernglas auf den Nasenrücken geschnallt hat, und die großen sind so teuer, daß einem vor Entsetzen die Streichhölzer ausgehen, noch bevor man eine anzündet, um die Zigarre anzubrennen.

Und immer und immer wieder stöhnt der Herr Major a.D.: Ach hätt' ich mir doch damals vor ein oder zwei Jahren, als die Zigarren noch billiger waren, noch ein paar tausend oder wenigstens ein paar hundert oder allerwenigstens noch hundert Stück oder auch nur ein Dutzend gekauft, dann säße ich nicht schon heute so da, wie ich nun dasitze.

Ach hätt' ich doch, aber er hat nun doch einmal nicht gehättet und er vergißt ganz, daß er damals wegen anderweitiger Ausgaben gar nicht die Mittel besaß, sich noch mehr mit seinen geliebten Zigarren einzudecken.

In ihrem Bett liegt die junge, hübsche, schlanke Ilse, ringt die Hände und weint und schluchzt: Ach hätt' ich doch nie, aber auch nie diesen schrecklichen Menschen, diesen Hans Heinrich kennen gelernt, ach und hätt' ich mich doch nie, nie von ihm küssen lassen, so schön das auch war. Und wenn ich mich auch von ihm hätte küssen lassen, ach hätte ich ihn dann wenigstens nie wiedergeküßt, obgleich ein altes Wort sagt: Man kann viele Menschen küssen, ohne sie zu lieben, aber man kann keinen einzigen lieben, ohne ihn zu küssen. Ach und nur sie weiß, wie sie ihren Hans Heinrich geliebt hat und nun ist er ihr untreu geworden und poussiert mit der schwarzen Paula, und sie weiß, er wird sich nie mehr um sie kümmern.

Und sie weint und schluchzt: Ach hätt' ich nie, nie, nie — Aber sie hat nun einmal doch nicht gehättet.

Und der Herr Devisenspekulante sucht auf seiner Glatze nach winzig kleinen Haarresten, um sich wenigstens die ausreißen zu können. Wie hat er, ausgerechnet er, der doch sonst für alles, was in der Luft liegt, eine solche gute Nase hat, nur so dumm sein können, damals seine ganzen Dollars zu verkaufen, als sie auf — Nein, er will gar nicht daran denken, wie sie damals standen und wie sie heute stehen, und erst recht will er nicht daran denken, wie sie vielleicht in vier oder sechs Wochen stehen können und werden. Aber er denkt trotzdem nichts anderes und stöhnt und flucht und schlägt sich die Fäuste an den Kopf: Ach hätt' ich, ach hätt' ich — Aber er hat nun doch einmal nicht gehättet und wenn er gehättet hätte, dann stöhnte und fluchte er heute vielleicht wegen eines anderen Papieres: Ach hätt' ich — ach hätt' ich!

Und ach hätt' ich doch nur nicht auf Fräulein Lerchenbein gehört und hätt' ich mich doch nur nicht von der überreden lassen, zu dieser entsetzlichen Schneiderin zu gehen, die von nichts eine Ahnung hat, stöhnt und jammert Fräulein Goswinda Wasserbauch, ein nicht mehr ganz junges Mädchen von 47 Jahren, und sich erneut zu ihrer Freundin wendend, die sie nur zum Kaffee geladen hat, um ihr etwas vorjaulen zu können, jammert sie weiter: Ach hätt' ich doch nur nicht auf Fräulein Lerchenbein gehört. Sagen Sie doch selbst, Liebste, dieses Kleid ist doch mehr als eine Mißgeburt geworden. Und alt macht es, alt, gar nicht zu sagen. Ich sehe darin aus, als wäre ich bald vierzig und dabei sind es doch noch volle drei Jahre, bis ich achtunddreißig werde. Ach hätt' ich doch nicht — ach hätt' ich doch getan, was ich selbst wollte.

Und der Ehemann, den seine Ehefrau schon wieder um erhöhtes Wirtschaftsgeld angegangen ist, versucht sich in seiner Verzweiflung selbst ein paar schmerzende Backenzähne auszuziehen und stöhnt und jammert: Ach hätt' ich — ach hätt' ich doch damals auf Freund Otto gehört, der mir eine Predigt nach der anderen über das nach seiner Ansicht einzig wahre Bibelwort hielt: Mensch, sei helle, bleib' Junggeselle! Wie sorglos könnte ich heute von meinem hohen Gehalt leben, wenn ich dreimal gesalbter Brathering nicht so dumm gewesen wäre, auf die sündhaft schönen Augen meiner Aenne hineinzufallen. Nun habe ich Frau und Kinder auf dem Halse, nein, auf der Brieftasche, und wie soll ich meine Familie trotz aller Zulagen anständig durch die Welt bringen? Es ist einfach, um ein Krokodil zu werden, um für den ganzen Rest des Lebens unechte Krokodilstränen zu vergießen. Und einen glücklich herausbekommenen hohlen Backenzahn an die Wand schleudernd, stöhnt und flucht er weiter: Ach hätt' ich — ach hätt' ich!

Der von der Gicht und anderen erfreulichen Krankheiten geplagte Junggeselle aber stöhnt: Ach hätt' ich doch nur geheiratet, dann hätte ich jetzt wenigstens einen Menschen, dem ich den ganzen Tag über etwas von meinen Schmerzen vorjammern könnte, denn das einzige Vergnügen, das man von dem Kranksein hat, besteht doch darin, andere damit elenden zu können. Ach hätt' ich doch — ach hätt' ich doch!

Der eine stöhnt, ach hätt' ich dies, der andere stöhnt, ach hätt' ich jenes, der dritte stöhnt: ach hätt' ich beides, aber keiner macht sich klar, daß er mit diesen drei Worten: ach hätt' ich, nicht nur seiner Umgebung, sondern namentlich sich selbst dieses in der jetzigen Zeit von der lieben Sonne ohnehin so außerordentlich be-schienene Leben noch viel schwerer macht, als es das ohnehin schon ist.

Ob es wahr ist, was mir neulich ein Herr erzählte, daß auch fortan in den Geschäftsbüchern zu den bisherigen Rubriken Soll und Haben eine neue dritte „Ach hätt' ich” eingeführt werden soll, entzieht sich meiner Kenntnis, wenigstens kann ich mich dafür nicht verbürgen. Wohl aber verbürge ich mich dafür, daß wir in meinem Elternhaus vor tausend Jahren, als ich noch jung war, ein ebenso häßliches wie heiratslustiges und heiratsbedürftiges Mädchen hatten, das jeden Abend ein Stoßgebet zum Himmel sandte. Und das lautete in das Hochdeutsche übersetzt, schön und poetisch:
Ach hätt' ich — nur Ein'   Ach hätt'ich — nur Ein'
Ach hätt' ich nur Ein'   mit zwei krumme Bein'!


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© Karlheinz Everts