Stabsoffiziers-Parole

Humoristische Plauderei.
Von Freiherrn von Schlicht.
in: „Frankfurter Zeitung und Handelsblatt” vom 10.April 1898,
in: „Der Deutsche Correspondent” vom 8.5.1898 und
in: „Excellenz kommt”


Man unterscheidet beim Kommiß eine Geld- und eine Naturalverpflegung - die letztere besteht aus den ungezählten Quantitäten von Speck mit dicken Erbsen und anderen guten und nahrhaften Gerichten, die der Soldat zum Besten des Vaterlandes in sich hinein - ißt; die Geldverpflegung beträgt im Monat, wie allgemein bekannt, pro Kopf und pro Nase zehn Mark und 50 Pfennig. Auf daß damit der Soldat aber nicht übermüthig wird, wenn er so viel Geld in die Hand bekommt, werden ihm hiervon allerlei Abzüge für die Menage gemacht. Der Rest ist in diesem Falle nicht Schweigen, sondern sechs Mark und sechzig Pfennig. Auch diese Summe bekommt der Soldat nicht auf einmal ausbezahlt, sondern dekadenweise, an jedem ersten, elften und einundzwanzigsten des Monats. Dann steht die Kompagnie in Linie zu drei Gliedern auf dem Kasernenhof, und in Gegenwart des Hauptmanns zahlt der Feldwebel an jeden im ersten Glied stehenden Mann sechs Mark sechzig - und wie die Raubthiere sich bei der Fütterung, wenn sie könnten, sich auf ihren Wärter stürzen würden, um ihm den Anfang der lateinischen Genusregel ( canis, piscis ) zu entreißen, so stürzen sich die im zweiten und dritten Gliede stehenden Musketiere auf ihren Vordermann und nehmen sich die ihnen von einem hohen Reichstag bewilligten zwei Mark und zwanzig Pfennig. Für den Tag sind das zweiundzwanzig Pfennig, viel ist das ja gerade nicht, aber es ist doch immerhin mehr, als der Offiziersoldat, der Herr Leutnant, am Ersten des Monats bei der Auszahlung des Gehaltes zu sehen bekommt. Hat er Glück, so macht die Rechnung =0, hat er Pech, so muß er in die eigene Tasche greifen und das Defizit decken. Ach! und man braucht wirklich nicht unsolide zu sein, um am Ersten des Monats einen Rest zu haben.

Gehalt bekommt der Offiziersoldat im Gegensatz zu dem gemeinen Soldaten nur einmal im Monat. Naturalverpflegung erhält er garnicht, - er würde sich also bedeutend schlechter stehen als der Muschko, wenn die hohen Vorgesetzten nicht dafür sorgen würden, daß er in anderer Hinsicht genug bekäme.

Und was er da bekommt, bekommt er auf den Kopf, um nicht zu sagen auf den chapeau -Hut.

Für den, der es mag, ist das wie der Berliner sagt „gerade was Schönes".

Ein richtiger Lieutenant bekommt eigentlich den ganzen Tag etwas auf den Hut, selbst wenn er nur eine Mütze auf hat: bei der Instruktion, beim Exerziren und Marschiren, beim Schießen und beim Turnen macht er es nie so, wie der Vorgesetzte es haben will - die Ansicht des Vorgesetzten ist die allein richtige und maßgebende, folglich ist die Seinige, auch wenn sie viel richtiger ist, die falsche, und wer Unrecht hat und wer die Beine nicht hoch genug wirft und wer es duldet, daß ein Mann auf dem Scheibenstand vorbeischießt - bekommt in diesen und in tausend anderen Fällen etwas auf den Hut.

Es gibt aber auch Gelegenheiten, bei denen Jemand Anders als nur der Herr Lieutenant etwas auf den Hut bekommt, das ist, von vielen anderen Fällen abgesehen, die wöchentlich einmal, gewöhnlich am Samstag Mittag in jeder Garnison, in jedem Regiment und bei jedem Bataillon stattfindende „ Stabsoffiziers-Parole ", zu der sämmtliche Stabsoffiziere und Hauptleute ein für allemal befohlen sind.

Es wird nie so viel im Kasino gefrühstückt, als vor der Stabsoffiziers-Parole - einmal, weil bei dieser Gelegenheit sämmtliche berittene Offiziere versammelt sind, dann aber auch, weil sie nicht wissen, ob sie hinterher, wenn sie daheim an dem von der theuren Gattin gedeckten Tisch sitzen, noch Appetit haben werden.

Es soll vorgekommen sein, daß gar Manchem der Appetit für lange, lange Zeit bei solcher Besprechung verdorben wurde.

Auf den unbefangenen und unbetheiligten Zuschauer macht es einen gar seltsamen Eindruck, wenn man die Herren so in aller Eile frühstücken sieht, gleichsam als wenn sie in einem Bahnhofsrestaurant säßen und den Zug erwarteten. Ängstlich sieht Alles nach der Thür, ob der Gefürchtete auch schon kommt, man kaut so schnell man kann, das Beefsteak kostet doch auch eine Reichsmark, da will man nichts stehen lassen. Ob man noch einen Schnitt Bier trinkt? Gerade will man sich das Gewünschte bei der Ordonnanz bestellen, da erscheint der Regimentsadjutant - das ist das Zeichen: „er kommt"; das macht denselben Eindruck, als wenn bei feierlichen Gelegenheiten der Ober-Hofmarschall durch dreimaliges Klopfen mit dem Stabe das „Nahen der Allerhöchsten Herrschaften" verkündet.

Alles springt auf, trinkt schnell sein Glas leer, streicht sich mit der Serviette über den Bart, zieht sich die Handschuhe an, glättet die Falten im Rock, ergreift die Mütze und begibt sich in das Nebenzimmer, in dem die Besprechung stattfinden soll.

Der älteste Hauptmann eines jeden Bataillons sieht sich um, ob seine Kameraden zur Stelle sind, dann meldet er dem Herrn Major und die Herren Majors melden dem Oberstlieutenant und der Herr Etatsmäßige meldet dem Herrn Oberst - aber noch ist dieser nicht da.

Doch Stille, wie das Todesschweigen,
Liegt über'm ganzen Hause hehr,
Als wenn die Gottheit nahe wär'.

Feierliche Stille herrscht im Zimmer, Keiner wagt zu sprechen, in einem großen Halbkreis gruppiren sich die Herren um den Tisch, hinter dem der Herr Oberst zu stehen pflegt.

Eine Minute verrinnt nach der anderen, gespannt und neugierig blickt Alles auf den Adjutanten, der aus seinen Taschen verschiedene Briefe und Papiere hervorholt, die er auf „den Tisch des Hauses" niederlegt. Was mögen die Schriften enthalten? Sie Alle werden es ja erfahren, aber sie möchten es so gerne jetzt schon wissen, wen die Sachen etwas angehen - Jeder gönnt bei solcher Besprechung dem Anderen Alles, sich selbst nichts. Man könnte ja den Adjutanten fragen, welche geheimnißvollen Schriften er dort vor sich ausbreitet, aber man würde dadurch den Anschein erwecken, als wenn man ein schlechtes Gewissen hätte - so etwas muß unter allen Umständen vermieden werden - außerdem wäre jedes Fragen unnöthig und zwecklos, denn auf Adjutanten paßt thatsächlich das Wort, daß sie verschwiegen sind, wie das Grab, die sagen nichts.

Der Herr Oberst kommt immer noch nicht.

Man sieht sich heimlich, fragend an, die ganz Muthigen sehen nach ihrer Uhr, aber auch nur ganz heimlich, heimlich, damit Niemand es bemerkt, am allerwenigsten der Herr Oberst, wenn er in diesem Augenblick ins Zimmer treten sollte - hohe Vorgesetzte haben stets einen Grund und eine Veranlassung, wenn sie nicht pünktlich sind, Untergebene nie - da könnte es doch auf den Herrn Oberst einen sehr schlechten Eindruck machen, wenn er sähe, daß einer seiner Unterthanen die Uhr in der Hand hätte und gleichsam das Verhalten seines Vorgesetzten kritisirte. Das wäre ja unerhört.

Da hört man draußen auf der mit Fliesen ausgelegten Diele Sporengeklirr - das ist er.

Der Herr Oberstlieutenant nimmt seine Mütze, die er für einen Augenblick auf die Fensterbank gelegt hatte, wieder zur Hand und wirft einen prüfenden Blick über die Versammlung - die Herren Stabsoffiziere und Hauptleute fassen mit der Linken vorschriftsmäßig ihre Säbel an, nehmen die Mütze in die Rechte, und dann öffnet sich die Thür.

Der Herr Oberst tritt herein.

Mit militärischem Ruck reißen Alle die Hacken zusammen und machen eine tiefe Verbeugung, der Herr Oberstlieutenant geht dem Kommandeur entgegen, um ihm zu melden - stolz schreitet der Herr Oberst auf seinen Platz.

Langsam heben sich die Rücken und die Köpfe seiner Untergebenen wieder in die Höhe.

Der Herr Oberst legt die Mütze neben sich, zieht sich die Handschuhe aus und öffnet das Notizbuch, das er aus der Rocktasche herausgenommen hat.

Tiefe, erwartungsvolle Stille.

Nur ganz besonders Muthige wagen laut zu athmen.

„Meine Herren," beginnt der Herr Oberst, „ich bitte Sie, Ihre Notizbücher hervorzuholen."

Alles greift in die Tasche - Einer aber zieht seine Hand leer zurück - er hat sein Notizbuch vergessen, das ist beinahe dasselbe, als wenn ein Rekrut zum Dienst ohne Gewehr kommt. Wenn das der Oberst sieht - Schaudern erfaßt den Armen bei dem Gedanken, er hört im Geiste schon die tadelnden Worte: „Wenig Interesse anscheinend für das, was wir hier besprechen, anscheinend sehr starkes Gedächtniß, daß Sie Alles so behalten wollen, nur zu loben, sehr anzuerkennen, aber oft vergißt man doch Kleinigkeiten, wie z.B. ein Notizbuch", - nein, diesen ironischen Worten will er sich nicht aussetzen, so reißt er denn seinem Nachbarn eine Seite aus dem Buch, ergreift dessen Bleifeder und bricht sie schnell halb durch. Er ist kameradschaftlich genug, seinem Nebenmann die nicht angespitzte Hälfte der Bleifeder zurückzugeben, eingedenk des Wortes: „Geteilter Schmerz ist keine doppelte Freude."

„Meine Herren," erhebt der Herr Oberst zum zweiten Mal seine Stimme, „ meine Herren, seitdem wir uns zum letzten Mal sahen -"

„Wenn es doch endlich einmal das allerletzte Mal sein möchte," denkt Einer.

- „ ist mir leider viel, sehr viel aufgefallen, das nicht meinen Beifall und nicht meine Zustimmung gefunden hat, nicht hat finden können. Meine Herren, ich habe mich bei der letzten Stabsoffiziers-Parole so ausführlich über die verschiedensten Punkte ausgesprochen, daß ich eigentlich glaubte, ich würde heute zu gar keinen Bemerkungen Veranlassung haben, ich könnte die Parole ausfallen lassen."

Der Herr Oberst schweigt und macht eine der sogenannten Verdauungspausen, während der er seinen Untergebenen Zeit läßt, über seine Worte nachzudenken.

Sie denken nach, und sie denken allerlei. Der Eine sagt sich: Der Herr Oberst macht Redensarten, er hört sich viel zu gern selbst sprechen, um irgend eine Gelegenheit, sich zu bewundern, freiwillig vorübergehen zu lassen.

Der Zweite sagt (natürlich nur im tiefinnersten Innern zu sich selbst:) „heute ist Samstag, am Samstag ist Stabsoffiziers-Parole, das ist schon seit Esaus Zeiten so gewesen und wird auch so bleiben, folglich mußte heute Parole sein, und wenn wirklich nichts zu besprechen gewesen wäre, so wäre darüber gesprochen worden, daß nichts zu besprechen war, und darüber wäre solange gesprochen worden, bis man doch etwas gefunden hätte, über das man hätte sprechen können."

Der Dritte denkt: Aha, das läßt tief blicken, und der Vierte, der kein ganz reines Gewissen hat, sagt: „Gute Nacht, Emma."

Sagen und denken thun sie aber Alle etwas.

Noch einmal räuspert sich der Herr Oberst, dann beginnt er mit der Aufzählung der Vorkommnisse, die seinen Unwillen erregt haben.

„Ein Mann von der dritten Kompagnie, jawohl Herr Hauptmann von Ihrer Kompganie, Sie brauchen garnicht solch erstauntes Gesicht zu machen, ist kürzlich wiederum bei mir vorbeigegangen, ohne Front zu machen, und gestern hat ein Mann Ihrer Kompagnie, als er auf Posten vor meinem Hause stand, einen Griff gemacht - ich sage Ihnen, Herr Hauptmann, das war schon gar kein Griff mehr zu nennen. Ich bitte, daß Sie die beiden Leute bestrafen."

Bei jeder Kompagnie ist dem Herrn Oberst etwas aufgefallen, die eine ist mit dem Schießen zuweit zurück, die andere ist verhältnißmäßig schon zu weit, bei der einen Kompagnie gefällt dem Herrn Oberst der Anzug ganz und gar nicht, er vermißt die genügende Sorgfalt, wieder bei einer anderen Kompagnie hat er einen Mann gefunden, dessen Haare nicht vorschriftsmäßig geschnitten waren, und er wundert sich und kann sich mit Recht nicht genug darüber wundern, daß die Herren Stabsoffiziere die Herren Hauptleute nicht genügend kontrolliren; der Herr Oberst spricht die Erwartung aus, daß die Herren Stabsoffiziere sich gelegentlich in der nächsten Zeit „einmal", das heißt auf deutsch: „morgen", den Haarschnitt im Bataillon ansehen werden und etwa dennoch auftretende Unregelmäßigkeiten abstellen.

Der Herr Oberst hat so viel auf dem Herzen, daß er gar kein Ende finden kann.

„Ich war gestern Morgen bei meinem Spazierritt zufällig auf dem Exerzierplatz -"

Was dieses Wort „zufällig" bedeutet, wissen Alle, sie kommen ja auch oft „zufällig", oder weil ihr Weg sie gerade vorbeiführte, häufig zu dem Dienst, den ihre Lieutenants abhalten, nur „zufällig", das versteht sich, kontrolliren thun sie nicht, das ist unter ihrer Würde.

Als die Herren Hauptleute das Wort „Exerzierplatz" hören, fallen sie beinahe todt um; sie wissen aus eigener Erfahrung, daß man vom Exerzirplatz nur schwer wieder nach Hause findet, man bleibt, wenn man einmal da ist, auch ewig und eine halbe Stunde dort. Und wie es ihnen bei dem Exerziren geht, so geht es dem Kommandeur, wenn er von dem Exerzirplatz spricht. Beide können kein Ende finden. So benutzt der Herr Oberst denn auch heute die Gelegenheit, um seinen Herren einen Vortrag über das Reglement, die Schießvorschrift und die Felddienstordnung im Allgemeinen und über das Ineinandergreifen dieser drei Reglement im Besonderen zu halten.

Und diesen Vortrag hören die Herren alle acht Tage, denn daß ein Oberst sich eine Woche lang nicht auf dem Exerzirplatz zeigt, gibt es nicht, und daß ihm nichts auffällt, gibt es erst recht nicht.

Die Herren kennen die Rede Wort für Wort, so oft haben sie sie gehört, sie könnten fortfahren, wenn der Kommandeur sich einmal verschlucken oder stecken bleiben sollte, aber was hilft's? Sie müssen zuhören.

Schrecklich ist es zwar, aber doch noch nicht so schrecklich, als wenn über ihre eigenen Sünden gesprochen wird, so beugen sie denn ihr Haupt und hören zu.

Und wer sich bei seinem Vorgesetzten „schustern" will, macht ein Gesicht, als hörte er die oberstlichen Worte heute zu ersten Mal.

Das freut den Herrn Oberst, und er gibt dem aufmerksamsten Zuhörer in seinem Innern das Prädikat eines sehr tüchtigen Offiziers. Und darüber freut sich den wieder der „Schuster".

Nichts macht so müde wie Zuhören, besonders wenn man dabei stehen muß, so werden die Sekunden zu Minuten, die Minuten zu halben Ewigkeiten.

Aber selbst einem Regimentskommandeur geht endlich die Puste aus.

Und dann ist Schluß.

Schluß? Ach nein.

Der Herr Oberst dankt den Herren Hauptleuten, er wünscht nur noch die Herren Stabsoffiziere einen Augenblick zu sprechen.

Schon wollen die Herren Hauptleute frohen Sinnes nach Haus eilen, da kommen die Adjutanten: „Der Herr Major läßt die Herren bitten, noch einen Augenblick zu warten, der Herr Major möchte die Herren nachher gerne noch einen Augenblick sprechen."

Was hilft's? Gewartet muß werden.

Die Herren Stabsoffiziere warten, bis der Herr Oberst fertig ist, und die Herren Hauptleute warten auch darauf, es ist die reine Warteschule.

Und wenn der Herr Oberst endlich sich verabschiedet hat, fängt die Unterredung noch einmal seitens des Herrn Major wieder von vorne an. Der Herr Major muß doch wissen, warum der Mann der dritten Kompagnie vor dem Herrn Oberst nicht Front gemacht hat und warum die Haare immer noch nicht vorschriftsmäßig geschnitten sind, obgleich er, der Herr Major, nun doch schon so und so oft darauf hingewiesen hat.

Endlich, endlich ist die Stabsoffiziers-Parole aus. Und die Meisten denken: „Das ist auch nur ein Glück, denn wie bei jedem militärischen Dienst ist auch bei der Parole das Beste das - Ende."


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© Karlheinz Everts