Der dicke Major.

Humoreske aus dem deutschen Militärleben von Freiherr v. Schlicht
in: „Deutscher Herold”, (Sioux Falls), vom 25.3.1909 und
in: „Deutsche Roman-Zeitung”, Beiblatt, Jahrgg. 1909, Heft 20, Seite 245


Major Will, im Regiment kurzweg der Dicke genannt, war wirklich beinahe zu dick, und wenn er nicht ein so hervorragend tüchtiger Offizier gewesen wäre, hätte man ihn schon längst abgesägt. Das war die gewissenhafte Überzeugung aller und auch seine eigene, denn er, der seinen jungen Leutnants immer von neuem vorhielt, daß eine gute Erscheinung vor der Front im militärischen Leben beinahe die Hauptsache wäre, wußte ja am besten, wieviel Wert die Vorgesetzten auf den äußeren Menschen legen.

Der Major tat alles, was er konnte, um schlank oder um wenigstens nicht noch stärker zu werden. Er kasteite seinen Leib dadurch, daß er sich nie satt aß und noch seltener satt trank, er trieb Gymnastik, machte weite Spaziergänge und so kam es, daß er eine für seinen schweren Körper fast unglaubliche Beweglichkeit besaß.

Das zeigte sich am deutlichsten darin, daß er auf den Kasinobällen und auf allen anderen Festen es bei dem Tanzen mit dem jüngsten Fähnrich an Ausdauer und Geschicklichkeit aufnahm. Er tanzte fabelhaft leicht und so war der Major bei den Damen einer der beliebtesten Tänzer.

Das ärgerte die Leutnants, denn um sich von dem Major nicht allzusehr in den Schatten drängen zu lassen, mußten sie viel mehr tanzen, als ihnen lieb war, und es war ihnen, den Jüngeren, nicht angenehm, daß sie von den Damen immer ermahnt wurden, sich an dem Vorgesetzten ein Beispiel zu nehmen und wie dieser unermüdlich dahinzuwalzen.

Namentlich der Leutnant Bergen ärgerte sich darüber, denn wenn er auch ein guter Tänzer war, so tanzte er dennoch sehr ungern. Viel lieber saß er im Rauchzimmer und rauchte nach den Klängen der „Blauen Donau” eine gute Importe und schlürfte nach der Musik des Schlittschuhläuferwalzers einen Kognak auf Eis.

Aber wenn er sich dann doch einmal wieder im Saal zeigte, dann fügte es der Zufall stets, daß gerade der Major an ihm vorbeitanzte, und ein weiterer Zufall wollte es, daß der dann gerade immer mit Fräulein Hildegard von Loor tanzte.

Und das ärgerte den Leutnant Bergen dann stets so, daß er sich schnell wieder in das Rauchzimmer zurückbegab, denn „Schön Hildegard”, die Tochter des Oberforstmeisters, war schon lange seine stille Liebe, und wenn er allein darüber zu entscheiden gehabt hätte, dann wäre er nicht nur schon lange mit ihr verlobt, sondern schon noch viel länger mit ihr verheiratet gewesen.

Aber „Schön Hildegard”, ein wirklich bildhübsches schlankgewachsenes junges Mädchen, von vielleicht fünfundzwanzig Jahren, wurde schon seit Jahren von allen Leutnants derartig becourt, daß es keinem einzigen gelang, ihr noch mehr den Hof zu machen, als die anderen es auch schon taten, und so war niemand imstande ihr zu beweisen, daß er sie noch vielmehr liebe als die Kameraden. Man fand auch nie Gelegenheit, einmal mit ihr allein zu sprechen, denn sie war stets von einer Schar junger Herren umgeben. Zehn zu gleicher Zeit forderten sie zum Tanz auf, und während sie mit dem einen tanzte, warteten die übrigen neun auf den Augenblick, in dem sie frei würde.

Anders war es nur, wenn der Major „Schön Hildegard” engagierte. Die Disziplin, die Subordination und die Rücksicht verboten es da, ihm Konkurrenz zu machen und sich gleichzeitig der jungen Dame zu nähern. Für den Major war die „Schöne Hildegard” stets frei, denn auch, wenn sie schon engagiert war, trat jeder Leutnant dem Vorgesetzten gegenüber „mit dem größten Vergnügen” zurück, in Wirklichkeit aber scheltend und fluchend.

Wie oft tanzten der Major und „Schön Hildegard” nicht im Laufe eines Abends zusammen! Das war nach der Ansicht der Leutnants überhaupt gar nicht zu zählen und auch heute wieder, auf dem Ball bei dem Regierungsrat, tat der Major wirklich so, als wenn es unter den mehr als fünfzig anwesenden Damen nur eine einzige Tänzerin gäbe.

„Das war einfach un — er — hört!”

Leutnant Bergen konstatierte das bei dem dritten Kognak, den er ingrimmig hinter die Binde goß, bereits zum drittenmal, aber das änderte nichts an der Tatsache, daß der Major ruhig mit Fräulein Hildegard weiter tanzte und sich den Deubel um das kümmerte, was seine jungen Leutnants darüber dachten.

Leutnant Bergen sah dem, als er jetzt in der Tür des Ballsaales stand, voller Ingrimm zu. Das mußte doch einen Grund haben, daß der Major fast ausschließlich Fräulein Hildegard engagierte. Gewiß, keine andere tanzte auch nur annähernd so schön als sie, und eine Menge Geld sollte ihr Vater auch haben.

Er unterbrach seinen Gedankengang: Das gehörte doch nicht hierher, oder doch?

Sollte der Major etwa — ?

Er fühlte, wie ihm das Herz beinahe stillstand. Zuzutrauen war es dem Major schon. War der vielleicht deshalb bis zu dieser Stunde nur Junggeselle geblieben, um nun noch „Schön Hildegard” zu freien?

Ihm wurde schwach, er mußte noch einen Kognak trinken, nein zwei, der Schreck war zu groß. Zwei Kognaks würden sein inneres europäisches Gleichgewicht wieder herstellen.

Aber dann wurden es doch drei.

Und bei dem vierten Kognak (die Gläser waren Gott sei Dank sehr klein) faßte er einen männlichen Entschluß: Der Liebelei darin mußte so oder so ein Ende gemacht werden, das ging denn doch unmöglich, daß die beiden sich am Ende heirateten. Schon der Unterschied der Jahre war zu groß, dazu das Verschiedene in der Erscheinung. Der Major groß und schwer, und Hildegard groß und schlank, biegsam und geschmeidig wie eine Gerte.

Die Ehe konnte nicht glücklich werden, das mußten die beiden sich doch selbst sagen, und wenn sie es nicht taten, dann war es die Pflicht eines Dritten, der es wirklich gut mit ihnen meinte, dazwischen zu treten und sie zu trennen, bevor sie eine Dummheit gemacht hätten.

Und dieser Dritte wollte er sein. Mit Hildegard meinte er es ja schon lange gut, viel besser als alle anderen zusammen, und mit dem Major? Der hatte ihm neulich einen ganz gehörigen Rüffel erteilt, weil er eine halbe Stunde zu spät zum Dienst kam, und den hatte er ihm noch nicht ganz verziehen, aber solche kleinlichen Gedanken durften jetzt natürlich nicht in ihm aufkommen. Nicht an sich, nur an die anderen mußt' er denken, deren Lebensglück allein auf dem Spiele stand.

Und war es ihm erst gelungen, die beiden zu trennen, dann wollte er so bald wie möglich „Schön Hildegard” heiraten, damit der Major seine alte Liebe dann völlig überwände und an seiner Seele wieder gesund würde.

Die schwere Frage war nur, wer die beiden auseinanderbringen solle. Aber in einer schlaflosen Nacht hatte er ein sehr einfaches Mittel gefunden.

Er erinnerte sich, daß der Major eines Tages seine Leutnants bat, in ihm nicht nur den Vorgesetzten, sondern einen väterlichen Freund zu sehen, der ihnen jederzeit helfend mit Rat und Tat zur Seite stände. Das hatte sich schon mancher Leutnant zunutze gemacht und den Vorgesetzten um hundert Mark und mehr angepumpt und auch stets mit Erfolg.

Nun wollte auch er zu dem Major hingehen, aber nicht, um dessen Börse zu erleichtern, sondern um ihm zu gestehen: „Ich bin in Fräulein Hildegard verliebt, aber die Konkurrenz der Kameraden ist so groß, allein komme ich nicht dagegen an. Da wollte ich den Herrn Major nun höflichst und ergeben bitten, wenn der Herr Major wieder einmal mit Fräulein Hildegard einen Walzer tanzen, ein gutes Wort für mich einzulegen, und wenn es geht, sogar noch ein paar gute Worte mehr.”

Er freute sich schon auf das Gesicht, das der andere machen würde: Ei wei!

Und dieses einfache Mittel war auch das radikalste. Wenn der Major merkte, daß ein Leutnant in dasselbe junge Mädchen verliebt war, das er selbst zu heiraten vielleicht schon beschlossen hatte, dann konnte ihm das nicht angenehm sein. Und wenn er, Bergen, einige ganz diskrete Äußerungen fallen ließ, auch er glaube Fräulein Hildegard nicht völlig gleichgültig zu sein, er glaube bemerkt zu haben, daß sie an seinem Wesen Gefallen fände und so weiter, da würde der Major auf ihn eifersüchtig werden, und die Eifersucht ist der Tod der Liebe.

Bergen rieb sich vergnügt die Hände. Er war doch ein verfluchter Kerl! Wie er das wieder ausgeheckt hatte, einfach Puppe! Nur ein wahres Glück, daß er sich gestern keinem der Kameraden anvertraute! Angemerkt hatte er es denen ja auch, wie sie sich darüber ärgerten, daß der Major Fräulein Hildegard völlig mit Beschlag belegte, aber er glaubte die Kameraden zu kennen. Sie hatten sicher noch in der Ressource ihren Ärger mit ein paar Glas Bier heruntergespült und waren dann über den Vorfall zur Tagesordnung übergegangen. Er allein hatte die Nacht wach gelegen, er war der einzige, der erkannte, daß man handeln müsse.

So trug er denn nach Beendigung des Dienstes dem Major seine Bitte vor, ihn im Laufe des Nachmittags in einer persönlichen Angelegenheit um Rat fragen zu dürfen, und mit der größten Liebenswürdigkeit erklärte der Vorgesetzte sich bereit, ihn nachmittags um fünf Uhr in seiner Wohnung zu empfangen.

Nur um ja nicht zu spät zu kommen, war Bergen schon zehn Minuten früher zur Stelle, aber der Bursche erklärte ihm, er müsse noch einen Augenblick warten, der Herr Major hätte Besuch von dem Herrn Oberleutnant Menges.

Das war Bergen mehr als unangenehm, denn sicher pumpte Menges den Major wieder an, und angepumpt zu werden, trägt nur in den allerseltensten Fällen dazu bei, die gute Laune zu erhöhen.

Bergen wurde in ein kleines Vorzimmer geführt, um dort zu warten, und kaum saß er fünf Minuten, da öffnete sich die Tür, aber es erschien nicht der Herr Major und auch nicht der Herr Oberleutnant Menges, sondern der Leutnant von Faller.

Ganz erstaunt sahen sich die beiden Kameraden an:„Was, Du auch hier?”

Gleichzeitig kam die Frage über beider Lippen.

Bergen hatte sich zuerst gefaßt: „Wieviel willst Du denn pumpen?”

Der andere sah überrascht auf: „Pumpen? Das habe ich doch, Gott sei Dank, nicht nötig.”

Berger wurde hellhörig: „Ja, was willst Du denn hier?”

Anstatt zu antworten, fragte der andere: „Ja, was willst Du denn hier?”

Da öffnete sich plötzlich die Tür, und herein trat der Leutnant Hochberg.

„Na nu?”

Allen dreien entschlüpfte der Ausruf zu gleicher Zeit, und eine halbe Minute später gesellte sich als vierter Leutnant Scholz hinzu.

Und Leutnant Menges mußte immer noch drin bei dem Major sein. Und niemand begriff, warum die Unterredung so lange dauern könne. Entweder gab der Major das Darlehen oder er gab es nicht, das war in einer Minute erledigt.

Draußen auf dem Korridor aber klingelte die Glocke fortwährend, und ein Leutnant nach dem andern trat ins Zimmer; fast schien es, als ob sich nicht nur die Offiziere des Bataillons, sondern des ganzen Regiments hier ein Rendezvous geben wollten.

Jeder, der eintrat, blieb wie erstarrt auf der Schwelle stehen, daß er nicht allein sei, und die schon da waren, wurden immer starrer, daß beständig neue hinzukamen.

Argwöhnisch betrachtete der eine den anderen. Keiner von ihnen sprach. Es war still und stumm wie im Wartezimmer eines Arztes, in dem sich einander wildfremde Personen gegenübersitzen und des Augenblicks harren, in dem sie vorgerufen werden.

Wohl eine halbe Stunde und länger verging so, da trat endlich der Major zu ihnen hinein. Alle sprangen von ihren Stühlen auf und stellten sich stramm hin, während der Vorgesetzte mit einem heiteren gkücklichen Lächeln auf den Lippen und mit einem frohen hellen Schein in seinen gütigen Augen die Besucher musterte.

Dann sagte er: „Meine Herren, auch ohne daß Sie es mir sagen, weiß ich, was Sie hierher führte, so schlau bin ich nun auch schon, und die Bitte, die Ihr Kamerad Menges mir vorhin vortrug, bewies mir, wie recht ich mit meiner Vermutung hatte. Da bin ich der Einfachheit halber, während Sie hier warteten, gleich zu Fräulein von Noor hingefahren, um zu sehen, wie für Sie alle die Aktien ständen, damit ich Ihnen dann gleich den richtigen Bescheid geben könne. Und das Resultat wird Sie nicht nur überraschen, sondern vielleicht doch ein klein wenig erfreuen: Ich habe mich vor einer Viertelstunde mit der jungen Dame verlobt, und mein Glück verdanke ich eigentlich Ihnen allen, denn wenn Sie gestern abend zwar nicht ein jeder für sich, aber doch alle zusammen beschlossen hätten, mich von meiner Liebe zu kurieren – ich glaube, dann hätte ich es gar nicht gewagt, meiner jetzigen Braut von meiner Zuneigung zu sprechen.”

Wie eine Bombe schlugen diese Worte ein. Starr und sprachlos, blaß und verlegen standen die Leutnants da. Ein jeder von ihnen hatte geglaubt, so klug zu sein, und nun waren sie alle gleichmäßig dumm geblieben.

Leutnant Bergen faßte sich zuerst. Mochten die anderen auch ruhig zugeben, daß der Vorgesetzte sie durchschaute, er selbst wollte nicht bis auf die Knochen blamiert dastehen.

So sagte er denn jetzt, wenn auch mit einer etwas unsicheren Stimme: „Gestatten der Herr Major zunächst meine herzlichsten Glückwünsche. Dann aber möchte ich mir gehorsamst die Bemerkung erlauben, daß mir die Worte des Herrn Major völlig unverständlich sind. Ich persönlich bin wenigstens nur deshalb hergekommen, um den Herrn Major um ein Darlehen von hundert Mark zu bitten, da ich mich momentan in einer großen Verlegenheit befinde.”

Der Bergen war doch ein Teufelskerl, er zog sich wenigstens mit Anstand aus der Affäre, das Zeugnis mußte der Major ihm ausstellen.

Und mit einem Male folgten alle anderen dem Beispiele ihres Kameraden Bergen, der hatte sie da auf eine glänzende Idee gebracht, die unbedingt ausgenutzt werden mußte. Die Stimmen schwirrten durcheinander, jeder war einzig und allein gekommen, um zu borgen. Der eine bat um fünfzig Mark, der zweite um dreißig und der dritte um fünfundsiebzig, aber jeder nannte eine andere Summe, und die gar nichts brauchten, nannten die höchste, damit es wenigstens halbwegs glaubwürdig erschien, daß sie wirklich in Verlegenheit wären.

Von der ganzen Leutnantsschar gefolgt, ging der Major schließlich in sein Arbeitszimmer, schloß seinen Schreibtisch auf und zählte jedem das erbetene Darlehen in blanken Goldstücken und in Hundertmarkscheinen in die Hand.

Eine Viertelstunde später war er wieder allein, und als er dann lachend die einzelnen Posten, die er teils auf lange Zeit, zum Teil vielleicht auf noch längere, verborgt hatte, zusammenzählte, bekam er es doch beinahe mit der Angst.

Und unwillkürlich mußte er daran denken, daß er eigentlich nur deshalb solange Junggeselle geblieben war, weil das Heiraten und das Verheiratetsein eine Menge Geld kostete.

Auf den Gedanken, daß auch das Verloben ein kostspieliges Vergnügen sei, war er bis zu diesem Augenblick nie gekommen.


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© Karlheinz Everts