Der Zweck der Uebung.

Von Freiherrn von Schlicht.
in: „Simplicissimus”, VIII.Jahrgg. Nr. 31, S. 242-244, 27.10.1903,
in: „Neue Hamburger Zeitung” vom 21.11.1903,
in: „Zu dumm!”,
in: „Die Frau Oberst” und
in: „Rekrutenbriefe”


Hauptmann von Bewitz machte mit seiner Kompagnie eine Felddienstübung. Hätte man ihn gefragt, warum, weshalb und wieso, dann hätte er ganz einfach zur Antwort gegeben: „Nur mal so!” Eigentlich hatte er heute exerzieren wollen, aber da war ihm eingefallen, daß er gestern exerziert hatte und den Tag vorher auch und den Tag vorvorher auch und den Tag vorvorvorher auch und daß er morgen exerzieren würe und übermorgen auch und überübermorgen auch und überüberübermorgen auch. Und wie es gekommen war, hatte er sich selbst nicht zu erklären vermocht, aber mit einemmal hatte er keine Lust gehabt, heute auch zu exerzieren. Dann hatte er daran gedacht schießen zu lassen, aber er hatte keinen Scheibenstand, und ohne den geht's doch nicht. Irgend etwas mußte er aber mit seinen Leuten tun, denn das tun, was er am liebsten getan hätte: nichts tun, durfte er nicht tun, und so zog er denn mit seinen Leuten ins Gelände, und auf dem Dienstzettel, den er dem Bataillon und dem Regiment eingereicht hatte, damit die Höheren wüßten, wo der nach ihrer Ansicht Törichte und Ergebene sich in der Welt herumtrieb, stand geschreiben: „6 Uhr Abmarsch zu einer Felddienstübung in dem Gelände bei Dedorf.” Um 7 Uhr langte man bei Dedorf an, und als erstes berief der Hauptmann seine Leutnants zu sich:

„Meine Herren, wir wollen uns heute hier nicht lange aufhalten, ich werde eine Vorpostenstellung nehmen und die üblichen Feldwachen und Doppelposten ausstellen. Wir instruiren dann die Leute über den Felddienst und bauen dann so bald es geht wieder ab.”

Die Herren Leutnants hatten aufmerksam zugehört, wenigstens bei Beginn der Rede. Als die Worte an ihre Ohren klangen: Wir wollen uns heute hier nicht lange aufhalten, hatten sie verständnisinnig mit dem Kopf genickt. Ausnahmsweise waren sie einmal ganz der Ansicht ihres Vorgesetzten. Was sollte man auch hier, das Wetter war nicht das beste, es war kalt und windig, und außerdem drohte noch Regen. Da war es schon das beste, daß man so bald wie möglich ins Kasino zur wärmenden Kognacflasche zurückkehrte.

So gingen denn die Herren Leutnants zu ihren Zügen und rückten mit ihren Feldwachen ab:

„Wir werden hier eine Vorpostenstellung nehmen, und ich werde euch instruieren; je mehr ihr eure Grütze zusammennehmt, desto kürzer dauert die Sache, also bitte habt die Güte.”

Die Instruktion begann, und dann wiederholten die Leute, was sie eben gelernt hatten:

„Ich bin der Doppelposten No. X, rechts von mir steht der Posten, noch weiter rechts steht der Posten, und noch weiter rechts steht kein Posten mehr. Links von mir steht der Posten No. Y, noch weiter links steht der Posten, und noch weiter links steht kein Posten mehr.”

So ging das in einem fort, wenn aber ein Kerl „links” war, dann machte er die Sache umgekehrt, dann zählte er zuerst die Posten auf, die links von ihm standen.

Die Kerls hatten heute ihren beau jour, sie stellten sich nur wenig dümmer an, als sie es von Haus aus waren, und so näherte sich die Zeit, die sich der Hauptmann für die geistige Erleuchtung seiner Untertanen gesteckt hatte, schon ihrem Ende, als plötzlich der Herr Oberst auf der Bildfläche erschien. Das war allen, die es sahen, sehr unangenehm, und alle sahen es und alle sagten sich: „Nun passiert etwas!” denn aus ihrer mehr oder weniger langen Erfahrung wußten sie, daß immer etwas passiert, wenn der Herr Oberst kommt. Der Hauptmann hatte in dieser Hinsicht die längste Erfahrung hinter sich und sah das kommende am deutlichsten voraus. Er wollte deshalb den Versuch machen, dem Geschick zu entgehen, und er meldete daher dem Herrn Oberst, daß er gerade im Begriff sei abzurücken, d.h. nach der Kaserne zu marschieren.

„Na, fünf Minuten werden Sie wohl noch Zeit haben,” meinte der Kommandeur, „Sie werden wohl gestatten, daß ich mir einen Augenblick die Instruktion anhöre.”

Gerade das hatte der Häuptling vermeiden wollen, trotzdem dienerte er jetzt beständig:

„Aber selbstverständlich, Herr Oberst, selbstverständlich!”

Der Herr Oberst war schon zu einem Doppelposten geritten und ließ sich den Vers herbeten:

„Ich bin der Doppelposten No. X, rechts von mir steht der Posten, noch weiter rechts steht der Posten, und noch weiter rechts steht kein Posten mehr.” So weit war alles sehr schön, aber der Herr Oberst vermißte in dem Vers eine kleine Strophe, die aber über die Hauptsache handelte, über den Feind.

Mit dem Feind ist das bei solchen Felddienstübungen eine eigene Sache, er wird natürlich nur markiert, entweder durch ein paar Flaggen oder durch eine kleine Abteilung, die als Zeichen ihrer Feindseligkeit Helmkappen trägt. Trotzdem der Feind also eigentlich gar kein Feind ist, ist er doch die Hauptsache, schon deshalb, weil es in der Instruktion heißt:„Der Posten hat unausgesetzt nach dem Feinde auszuspähen und auf jedes verdächtige Anzeichen zu achten. Merkt er etwas vom Feind, so hat er dies sofort zu melden.” Na und wenn nun gar kein Feind da ist, kann der Posten nicht nach ihm ausspähen, und der Feind, der nicht da ist, kann keine verdächtigen Anzeichen von sich geben, und der Posten kann über den Feind, der nicht da ist, nichts melden. Ohne einen markierten Feind ist eine Felddienstübung also ein Unsinn, aber der markierte Feind hat eine Eigentümlichkeit, er verläuft sich immer und ist nie da, wo er sein soll, und wenn dann hinterher die Uebung beendet ist und zum Sammeln geblasen wird, dann kann man zwei Stunden und eine Ewigkeit warten, bis der Feind eintrifft, der Abmarsch wird nur verzögert, und so hatte der Hauptmann denn das einfachste getan, was es gibt: er war über den markierten Feind einfach zur Tagesordnung übergegangen und hatte gar keinen aufgebaut.

Und deshalb machte der brave Musketier ein ganz erstauntes Gesicht, als der Herr Oberst sich bei ihm erkundigte, wo der Feind sei und welche Nachrichten bisher durch die Patrouillen über ihn eingegangen wären.

Der Mann blieb die Antwort auf die Frage des Herrn Oberst schuldig.

„Schafskopf,” sagte der Herr Oberst.

Und der Mann blieb die Antwort auch auf diese Bemerkung schuldig.

Der Kommandeur wandte sich an den zweiten, aber der wußte über den Feind genau so viel wie der erste, und der dritte wußte genau so viel wie die beiden ersten zusammen. Der vierte aber nahm einen Anlauf zum Reden und sagte mit lauter, vernehmlicher Stimme:

„Der Feind —”

Der Herr Oberst atmete erleichtert auf: „Wenigstens ein Verständiger unter euch Hornochsen,” und wohlwollend fuhr er fort: „Nun mein Sohn, was wissen Sie über den Feind?”

Und noch einmal begann der Krieger:

„Der Feind —”

Aber weiter kam er nicht, denn weiter wußte er nichts.

Der Häuptling saß inzwischen mit sehr gemischten Gefühlen auf seinem Roß und sah seinen Oberst heimlich von der Seite an, ihn offen anzusehen, wagte er nicht, und der Oberst saß auch mit sehr gemischten Gefühlen auf seinem Roß und sah seinen Untergebenen heimlich von der Seite an, ihn offen anzusehen wagte er nicht, denn er sagte sich:

„Wenn du den Häuptling mit offenen Augen ansiehst, wirst du die Entdeckung machen, daß er wahnsinnig ist.”

Und Entdeckungen haßte der Herr Oberst ebenso wie Erfindungen, seitdem er selbst einmal einen nach seiner Ansicht außerordentlich praktischen Entfernungsmesser erfunden hatte, der nach Ansicht aller anderen Leute nicht 10 Pfennig wert war, obgleich er dem Herrn Oberst einen nicht unbeträchtlichen Teil seines Vermögens gekostet hatte. Und plötzlich wandte der Oberst sein Pferd und ritt davon. Mit verklärten Augen sah der Hauptmann ihm nach. „Gott sei Dank!” sagte er vor sich hin, „Gott sei Dank!” Und dieses Wort kam aus der tiefsten Tiefe seines dankbaren Herzens.

Und noch einmal sagte er „Gott sei Dank!”

Da hielt der Herr Oberst sein Pferd an und wandte sich nach dem Häuptling um:

„Wollen Sie nicht so freundlich sein, mich zu begleiten?”

„Erbarmung!” stöhnte der; aber niemand erbarmte sich seiner, und so ritt er denn dem Herrn Oberst nach.

Je gröber ein Vorgesetzter seinem Untergebenen werden will, desto weiter entfernt er sich mit ihm von der Truppe, damit die Disziplin und Subordination nicht zum Teufel gehen, wenn die Mannschaften hören, was der Höhere dem andern sagt. Und der Oberst entfernte sich mit dem Hauptmann sehr weit. Endlich hielt der Kommandeur sein Pferd an:

„So, nun kann es losgehen,” dachte der Hauptmann. Und es ging los.

Zuerst sprach der Herr Oberst über den Zweck der Felddienstübung im allgemeinen und dann über den Zweck der heutigen Uebung, die absolut gar keinen Zweck hätte, und dann über den Zweck, den es habe, oder besser gesagt nicht habe, daß sich ein Offizier wie der Herr Hauptmann überhaupt noch in der Armee aufhalte.

„Und das sage ich Ihnen, noch eine solche Felddienstübung, und ich werde höheren Ortes über Sie Meldung erstatten. Ich werde die nächste Gelegenheit, die sich mir bietet, benutzen, um mich davon zu überzeugen, ob Sie überhaupt imstande sind, eine Uebung zweckmäßig zu leiten. Und jetzt danke ich Ihnen.”

Als der Oberst endlich mit seiner Rede zu Ende war und den Atem anhielt, war dem armen Hauptmann bei allen Grobheiten, die er zu hören bekommen hatte, der Atem beinahe ausgegangen. Er kam sich vor wie ein militärischer Scheintoter, starr und regungslos saß er auf seinem Pferd, und es kam erst wieder Leben in ihn, als der Oberst zu ihm sagte:

„Ich habe Ihnen bereits gedankt, oder bin ich Ihnen noch nicht deutlich genug geworden?=”

Da gab der Häuptling seinem Roß die Sporen und jagte davon, als ob der leibhaftige Satan hinter ihm her wäre.

Als er bei seiner Kompagnie ankam, war er noch ganz blaß, trotzdem bemühte er sich nicht ohne Erfolg, ein gleichgültiges Gesicht zu machen und so gelassen wie nur möglich, gewissermaßen als ob er sich mit dem Kommandeur soeben über die nächsten Ernteaussichten unterhalten hätte, sagte er:

„Ich habe soeben mit dem Herrn Oberst gesprochen, der Herr Oberst ist der Ansicht, daß es vielleicht doch zweckmäßiger und praktischer sein dürfte, in Zukunft bei den Uebungen einen Feind zu markieren, damit den Leuten der Zweck der Uebung noch klarer und deutlicher vor Augen geführt wird, als es so geschieht. Der Herr Oberst wird wohl Recht haben — Feldwebel, notieren Sie 'mal, daß in Zukunft immer der Feind markiert wird.” Der Feldwebel notierte sich den Fall, und gleich darauf trat die Kompagnie den Heimmarsch an. Der Herr Hauptmann war etwas sehr gedrückt, aber er tröstete sich damit, daß er dem Herrn Oberst schon bei der nächsten Gelegenheit zeigen würde, was er könne. Und da der Herr Oberst nach seiner Ansicht auf diese Gelegenheit ebenso ungeduldig wartete, wie er selbst, setzte er schon für den nächsten Tag wieder eine Felddienstübung an. Und zu dieser traf er seine Vorbereitungen, es wimmelte am nächsten Morgen im Gelände von kleinen feindlichen Abteilungen und Patrouillen, er hatte seine Anordnungen brillant getroffen und zwar nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch, denn er hatte am Abend vorher mit seiner Kompagnie eine Instruktionsstunde abgehalten, und so wußten die Leute schon am Abend, als sie zu Bett gingen, wo sie am nächsten Morgen nach dem Aufstehen den Feind suchen und finden würden. Die Folge war, daß die Instruktion im Gelände geradezu glänzend klappte, selbst der dümmste Kerl blieb keine Antwort schuldig und der Zweck der Uebung war allen klar.

Der Herr Hauptmann verfolgte aber mit dieser Uebung noch einen anderen Zweck: er wollte dem Herrrn Oberst imponieren und das ungünstige Urteil von gestern verwischen. Gestern war er hineingefallen, heute würde ihm das nicht passieren.

Wenn der Herr Oberst nur käme!

Hoch zu Roß hielt der Hauptmann auf einer Anhöhe und spähte ins Tal hinab, und die Leutnants spähten mit und die Unteroffiziere spähten mit, und die Kerls spähten auch mit, aber alle zusammen erspähten sie den Herrn Oberst doch nicht.

Und der Herr Oberst kam immer und immer noch nicht.

Und es wurde später, und es wurde spat, und der Hauptmann wußte sich keinen Rat, sollte er noch bleiben und auf den Oberst warten? Würde der doch noch kommen? Er wartete und wartete, und als er nach seiner Ansicht und der seiner Untergebenen länger als genug gewartet hatte, da wartete er noch eine Stuinde und dann zählte er an den Knöpfen ab: Was soll ich tun? Und das Orakel sagte: „Gehe nach Haus!”

Und traurig zog der Häuptling mit seiner Kompagnie von dannen, und je länger er darüber nachdachte, desto klarer wurde es ihm, daß jede Uebung nur einen Zweck habe, nämlich den: Irgendwie dabei hineinzufallen!


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© Karlheinz Everts