Das Mädchen von zwanzig Jahren.

Von Freiherr von Schlicht
in: „Die süssen kleinen Mädchen — wie sie lieben.”


Hedi, die auch Lisbeth, Anny, Dora oder sonst irgendwie heißen könnte, ist nun ein vernünftiges junges Mädchen geworden. Die Jugend mit all den Torheiten, die sie selbst natürlich nie beging, die sie aber trotzdem aus den Erzählungen ihrer Freundinnen kennenlernte, liegt hinter ihr. Sie ist jetzt in dem Alter, in dem sie ernsthaft an das Heiraten denken muß, wenigstens sagt das die Mutter und die Gründe, die sie dafür anführt, sind sehr stichhaltig. Erstens hat Lotte Krüger neulich auch schon geheiratet, obgleich die beinahe ein ganzes Jahr jünger und lange nicht so hübsch ist wie ihre Hedi. Und Hedi ist wirklich ein auffallend hübsches junges Mädchen. Sie ist mittelgroß und schlank, hat ein sehr frisches Gesicht mit sehr schönen Farben, große braune Augen, reiches dunkles Haar, einen entzückenden Mund und vor allen Dingen ein bezaubernd helles und natürliches Lachen.

Dieses Lachen ist völlig natürlich, ihm fehlt alles Gesuchte und Gemachte, aber zum großen Ärger der Mutter ist trotzdem noch niemand auf dieses Lachen hineingefallen, oder besser gesagt, selbst auf dieses Lachen hat noch keiner angebissen.

An Courmachern hat es Hedi natürlich nicht gefehlt. Jeder hat um die Gunst des hübschen, jungen Mädchens gerungen, aber keiner hat um sie angehalten, denn sie ist arm. Außer einer guten Aussteuer und ihrer Schönheit wird sie ihrem Manne nichts mit in die Ehe bringen.

Das ist in den Augen der Mutter auch mehr als genug, aber die Männer denken leider anders, sie sind ja so gemein, so geldgierig. Und wenn die Mutter ihr Kind nicht über alles liebte,und ihr nicht schon deshalb von ganzem Herzen einen guten Mann wünschte, damit sie selbst endlich die erwachsene Tochter aus dem Hause los wird — wenn sie ihr Kind nicht über alles liebte, dann verdienten die Männer es gar nicht, daß sie irgendeinem ihr Kind gäbe.

Aber dieser eine ist noch nicht da, er muß erst gefunden werden.

Gesucht ist er schon lange, wenigstens von seiten der Mutter.

Hedi selbst hat das Suchen bisher nicht allzu ernsthaft betrieben, sie war noch jung und hatte so viel zu flirten, daß sie darüber gar keine Zeit fand, an das Heiraten zu denken.

Nun aber wird es höchste Zeit, denn nicht nur, daß Lotte Krüger schon verheiratet ist, auch Lilly Böhme ist schon verlobt und Käthe Hausner ist bereits mit dem Rechtsanwalt im Gerede, da wird auch die Verlobung nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Daran erinnert die Mutter ihre Tochter täglich und auch sonst hat die noch gewichtige Gründe, die für eine baldige Verheiratung sprechen. Hedi hat nun schon vier Jahre hindurch alle Bälle mitgemacht, vier Jahre lang hat die Mutter sie auf jeden Ball begleitet und dazu hat die jetzt keine Lust mehr. Die Gesellschaften kosten auch zu viel Geld, immer neue Toiletten, die Wagen, die Trinkgelder. die Einladungen, durch die man sich revanchieren muß, es wird höchste Zeit, daß das alles ein Ende nimmt.

Und vor allen Dingen: Waren, die zu lange im Schaufenster aus liegen, ziehen keinen Käufer mehr an und Hedi liegt jetzt schon vier Jahre im Schaufenster.

Da haben sich die meisten, so hübsch sie auch ist, an ihr bereits satt gesehen. Eine jüngere Generation wächst heran und die Jugend steht auf dem Heiratsmarkt am höchsten im Kurs, wenn man über keine Reichtümer verfügt.

Das sind so die Gründe, die die Mutter anführt, so oft sie mit ihrer Tochter über das Heiraten spricht und das geschieht täglich wenigstens dreimal, bei dem Morgenkaffee, bei dem Mittag- und bei dem Abendessen.

Und zu ihrer großen Freude hat die Mutter die Genugtuung, daß ihr Kind ihr beistimmt.

Den wahren Grund, weshalb jetzt auch Hedi ernstlich an das Heiraten denkt, nennt diese natürlich nicht. Die Sehnsucht nach dem Mann als solchen ist in ihr erwacht, nicht nur vorüber­gehend, wie in früheren Jahren bei dieser oder jener Gelegenheit, sondern dauernd.

Die Natur verlangt nach ihrem Recht. Der Gedanke, vielleicht eine alte Jungfer zu werden, läßt sie oft erschauern, alles, nur das nicht.

Nein, sie will einen Mann haben. Natürlich muß er sehr hübsch sein, er muß sie sehr liebhaben und viel Geld besitzen, wenn auch nicht gerade so viel, wie sie es sich in ihren jungen Jahren erträumte. Und im Gegensatz zu früher, will sie später auch ein Kind haben. Das ist doch der Zweck der Ehe, aber nicht mehr als eins, höchstens zwei, denn das Kinderkriegen verdirbt leicht die Figur und sie will schlank bleiben, damit ihr Mann nicht aufhört, sie zu lieben.

Und außerdem ist schlank zu sein heutzutage so modern.

Wenn sie nur erst einen Mann hätte. Schwarze Augen muß er haben und einen dunklen Schnurrbart, schlank muß er sein, das ist die Hauptbedingung, dann kann er ihretwegen auch braune Augen haben, aber unter keinen Umständen blaue und erst recht darf er nicht blond sein. Blond findet sie bei einem Manne gräßlich, dann lieber gar keinen. Bis dann doch plötzlich das Schreckgespenst der alten Jungfer wieder vor ihr auftaucht. Nein, das nicht, dann lieber doch sogar einen Blonden.

Sie will und sie wird heiraten. Als die Wintersaison jetzt aufs neue beginnt, erklärt sie das ihrer Mutter auf das bestimmteste und sie schließt mit den Worten: „Wenn der Winter vorüber ist, bin ich verlobt und wenn nicht, dann ist es nicht meine Schuld.”

„Und meine auch nicht,” stimmt die Mutter ihr bei, „da kannst du ganz unbesorgt sein.”

Mit diesen guten Vorsätzen ausgerüstet, ziehen beide in den Winterfeldzug, um den Gegner, den Mann, zu bekämpfen.

Ob er will oder nicht, er muß zur Strecke gebracht werden.

Die Mutter hat es sich etwas kosten lassen, um ihr Kind schön und verführerisch zu kleiden. So erregt Hedi auf dem ersten Ball der Saison geradezu Sensation und die Freundinnen und die Herren, die sie bewundernd ansehen, flüstern einander zu: „Nun wird es ernst, nun geht sie aufs Ganze.”

Man merkt die Absicht und wird ein klein wenig verstimmt.

Nur einer wird das nicht, ein Leutnant von Birken, ein junger Mensch von vierundzwanzig Jahren, der neu in die Garnison versetzt ist und Hedi heute zum ersten Male sieht. Er hat sogar das Glück, sie zu Tisch zu führen und während er an ihrer Seite sitzt, zeigt er ihr immer wieder, wie ihre Erscheinung und ihr Wesen ihn bezaubere.

Und wie er von ihr, so ist sie von ihm entzückt. So wie ihn hat sie sich ihren zukünftigen Mann immer gedacht, der hat alles, was der andere haben soll, schwarze Augen, schwarzes Haar, schwarzen Schnurrbart und eine schlanke Figur.

Und außerdem ist er noch ein Leutnant!

Gewiß, sie ist über alle Kindereien erhaben, aber ein Leutnant bleibt nun einmal ein Leutnant!

Und wie nett und lustig und amüsant er ist. Sie ist im Laufe der Jahre schon von vielen Offizieren geführt worden, aber so wie mit ihm, hat sie sich noch mit keinem anderen unterhalten. Und dann kann er so herzlich lachen und sein Lachen muß jeden für ihn einnehmen, ebenso wie sie durch ihr Lachen jeden bezaubert, ohne daß sie trotzdem zu einem hätte sagen können: „Sprechen Sie mit meiner Mama.”

Nur zu schnell steht man wieder vom Tisch auf und als sie dann einander die Hand reichen, liest jeder in den Augen des anderen, daß sie den schnellen Aubruch vom Tisch bedauern.

Gleich darauf, nachdem die meisten Herren sich in das Rauchzimmer begeben haben, sucht Hedi ihre Mutter auf und findet diese zu ihrem Erstaunen im lebhaftesten Gespräch mit einem ihr ganz fremden Herrn, den sie bisher nicht bemerkte und der sich ihr auch noch nicht hat vorstellen lassen. Das holt die Mutter jetzt nach: „Liebe Hedi, Herr Assessor Holdhaus bittet um die Ehre deiner Bekanntschaft.”

Der entschuldigt sich mit tausend Worten, daß er das bisher versäumt hat: „Es gibt dafür nur eine Erklärung, ich muß vorhin blind gewesen sein, daß ich so viel Schönheit und Anmut übersehen konnte, denn ohne Ihnen eine Schmeichelei sagen zu wollen, gnädiges Fräulein, Sie sind die Königin des heutigen Festes.”

Während er fortfährt, ihr Komplimente zu machen, hat sie Zeit genug, um sein Äußeres zu prüfen, er ist mittelgroß, ein klein wenig zur Fülle neigend und das hat selbst die Kunst seines Schneiders nicht ganz zu verbergen vermocht, obgleich er hervorragend gut angezogen geht. Sein Gesicht gefällt ihr weniger, es zeigt verschiedene Schmisse, auch hat er blaue Augen und die haben noch dazu etwas Verschwommenes, als wenn er es liebe, zuweilen gut und reichlich zu trinken. Wenigstens hat er keinen blonden Schnurrbart, aber seine Kopfhaare sind nicht mehr allzu dicht, wenngleich von einer Glatze noch nicht die Rede sein kann. Aber sie wird kommen, dafür sprechen schon manche Anzeichen.

Im Verlauf des Gespräches erfährt sie, daß er vorläufig für die Dauer von sechs Wochen zur Vertretung eines erkrankten Kollegen an das hiesige Amtsgericht versetzt ist: „Ich brauche Ihnen nicht erst zu sagen, gnädiges Fräulein, daß ich im ersten Augenblick über diese Versetzung nicht sehr erfreut war, man hat doch seinen Kreis und seine Freunde, von denen man sich, wenn auch nur vorübergehend, sehr ungerne trennt. Dazu kommt, daß meine Tätigkeit hier sehr anstrengend und auch sonst wenig angenehm ist. Aber so viel ich früher auch schalt, jetzt bin ich dem Geschick dankbar, das mich hierher führte. Schon bei Tisch habe ich kein Auge von Ihnen verwandt, gnädiges Fräulein, wenngleich Sie selbst auch nichts davon bemerkten, Sie befanden sich ja in einer so angeregten Unterhaltung —”

Es klingt deutlich etwas wie Eifersucht aus seinen Worten hervor und das und manches andere, über das sie sich im Augenblick nicht klar ist, ärgert sie. Sie unterbricht ihn jetzt: „Ja, ich habe mich wirklich ausgezeichnet unterhalten.”

Die Mutter wirft ihr einen lobenden Blick zu, der ihr da deutlich sagt: „So ist es recht, mein Kind, mach ihn nur eifersüchtig, das ist das beste Mittel, um ihn einzufangen, darauf fallen alle Männer herein.”

Solche Gedanken, wie ihre Mutter ihr da unterschiebt, liegen Hedi vollständig fern. Sie erschreckt jetzt förmlich, als sie den Gedankengang der Mutter errät. Hat die im stillen vielleicht schon diesen Assessor als Mann für sie bestimmt? Ein Wunder wäre das ja weiter nicht, der ist schließlich jeder Schwiegersohn willkommen, vorausgesetzt, daß er Geld hat und wenn es ihm mit dem, was er da spricht, Ernst ist, scheint er ja wirklich schon in sie verliebt zu sein. Ihre Erscheinung allein muß genügt haben, sein Herz zu entflammen, denn sie ist noch kaum dazu gekommen, etwas zu sprechen, das besorgt er allein.

Dabei wendet er keinen Blick von ihr ab und jetzt bleiben seine Augen zwar bewundernd, aber zugleich auch begehrlich auf ihrem Busen haften, daß sie sich Gewalt antun muß, um nicht verlegen zu werden.

Sie hat es ihrer Mutter ja von Anfang an zu Hause erklärt, daß sie für ein junges Mädchen wirklich etwas reichlich tief ausgeschnitten sei, aber die hat widersprochen: „Du kannst deinen Busen ruhig sehen lassen und brauchst ihn nicht zu verstecken, Glaub' dem Urteil deiner Mutter, der Ausschnitt ist durchaus dezent.”

Daß er es doch nicht ist, merkt sie ja jetzt in seinen Blicken zur Genügen.

So ist sie denn mehr als glücklich, als in diesem Augenblick aus dem inzwischen abgeräumten Eßsaal die Töne der Geigen erklingen. Der Ball ist eröffnet und gleich darauf steht der junge Offizier neben ihr: „Wenn ich um den Tischwalzer bitten dürfte, gnädiges Fräulein?”

Dann führt er sie davon: „Sie glauben gar nicht, gnädiges Fräulein, wie ich mich auf diesen Walzer freue. Nicht nur, um wieder mit Ihnen plaudern zu können, sondern auch, weil ich in Ihnen eine glänzende Tänzerin vermute.”

Da drehen sie sich auch schon im Kreise, aber trotzdem er sich darauf gefreut hat, mit ihr plaudern zu können, spricht er kein Wort. Ruhig und sicher führt er sie durch all die um sie herumwirbelnden Paare hindurch und sie glaubt, noch nie so schön getanzt, noch nie einen solchen Partner gehabt zu haben. Und er scheint dasselbe zu denken, das schließt sie daraus, wie er nicht müde wird, sie immer von neuem im Kreise zu drehen, wie kein Wort über seine Lippen kommt, sondern wie er sie nur zuweilen mit seinen großen dunklen Augen ansieht, als wolle er sagen; „Wie ist es schön.”

Erst als der letzte Ton der Geigen verklungen ist, gibt er sie frei und lacht dann plötzlich fröhlich auf: „Nicht wahr, gnädiges Fräulein, das war doch noch mal ein Walzer? So muß der getanzt werden, aber wann findet man eine solche Tänzerin wie Sie? Hoffentlich sind Sie auch ein klein wenig mit mir zufrieden?”

Daß sie es ist, beweist ihm das helle Aufleuchten ihrer Augen.

Stumm stehen sie nebeneinander und beiden ist so froh und so glücklich zumut, wie kaum je zuvor und sie wissen doch beide nicht, warum. Da tritt mit schnellen Schritten der Assessor heran: „Mein gnädiges Fräulein, ich habe während des ganzen Walzers gehofft, daß der Herr Leutnant mir eine Extratour mit Ihnen ermöglich würde, aber leider vergebens. Um den nächsten Tanz darf ich Sie aber nun wohl bitten?”

Und damit sie ihm nicht von einem anderen entführt wird, bleibt er gleich neben ihr stehen und plaudert mit ihr, bis der Tanz beginnt. Sie muß zugeben, daß er angenehm zu unterhalten weiß. Er macht ihr keine Komplimente mehr wie vorhin und ist eifrig bemüht, sich ihr im guten Lichte zu zeigen. Aich sein Organ, das vorhin ein klein wenig meckerte, ist jetzt ruhig und sympathisch und als dann der neue Walzer beginnt, erweist er sich als ein noch besserer Tänzer als der Leutnant und doch erscheint ihr auch jetzt der erste Tanz viel schöner als dieser.

Endlich ist der Walzer beendet, als der junge Offizier auch schon wieder auf sie zutritt: „Jetzt bin ich aber wieder an der Reihe, gnädiges Fräulein.”

Das erscheint auch ihr ganz selbstverständlich und im Laufe des Abends spinnen sich zwischen ihnen beiden zarte dünne Fädchen, die sie schon jetzt miteinander verketten. Und als es dann zum Abschied kommt, als die Gesellschaft aufbricht, da trennen sie sich nicht mit einer offiziellen Verbeugung, sondern sie reichen einander gleichzeitig wie auf Kommando die Hand und wenn auch keiner die des anderen drückt, so glaubt doch jeder einen leisen Gegendruck zu verspüren, so daß beide ein klein wenig rot und verlegen werden. Dann aber lachen sie fröhlich auf, sehen einander harmlos übermütig in die Augen und was sie da beide lesen, läßt jeden nun doch die Hand des anderen ein klein wenig fester drücken, als es gerade nur die Höflichkeit verlangt.

Die Mutter drängt zum Aufbruch und ihrer sonstigen kühlen Natur entgegen, schließt sie schon im Wagen ihre Tochter in die Arme und gibt ihr einen Kuß: „Mein Kind, mein heißgeliebtes Kind, ich wußte es ja, daß ich noch einmal Freude an dir erleben würde, ach, ich bin ja so glücklich.”

„Warum denn nur?” will Hedi fragen, die mit ihren Gedanken noch bei ihrem Leutnant ist. Da fällt ihr wieder der Assessor ein und wenn auch gerade kein eisiger Schreck sie befällt, so fühlt sie doch, wie ihre ganze fröhliche Stimmung verfliegt.

Mit einmmal weiß sie es, ihr Schicksal ist besiegelt, sie wird den Assessor heiraten.

„Denk dir nur,” fährt die Mutter freudestrahlend fort, „er hat gebeten, gleich übermorgen seinen Besuch machen zu dürfen. Er ist wirklich ganz vernarrt in dich, ich muß dir aber auch das Kompliment machen, du sahst heute abend wirklich pompös aus. Namentlich der Halsausschnitt wirkte und der Assessor war nicht der einzige, der keinen Blick von deinem Busen wandte. Ich weiß ja, wie du selbst darüber denkst, aber wenn du erst verheiratet bist und jemals zu Hofe kommen solltest, muß du dort noch viel tiefer dekolletiert erscheinen, das verlangt das Zeremoniell. Wie gesagt, er ist von deiner Erscheinung einfach hingerissen, er hat sich mir darüber offen ausgesprochen und mich geradezu um Erlaubnis gebeten, sich um deine Gunst bewerben zu dürfen. Ich müßte nicht deine Mutter sein und dich nicht über alles lieben, wenn ich ihm das nicht sofort erlaubt hätte. Denn wenn sich später herausstellen sollte, daß die Andeutungen über seine Vermögenslage, die er mir machte, nicht in allen Punkten der Wahrheit entsprechen, dann ist es ja immer noch Zeit, ihn wieder fallen zu lassen. Ich werde gleich morgen das Auskunftsbureau beauftragen, sich auf das genaueste nach ihm zu erkundigen und wenn dann, wie ich hoffe, alles stimmen sollte, — du weißt, mein liebes Kind, wie schwer es mir werden wird, mich von dir zu trennen, aber dein Glück geht dem meinen vor.”

„Müssen wir uns denn wirklich trennen, Mutter, können wir nicht weiter so zusammen leben, wie bisher?” fragte Hedi, die den Gedanken, den Assessor heiraten zu sollen, nicht sehr sympathisch findet. Ja, wenn die Mutter ihr den Leutnant vorschlüge, dann sofort, wenn es sein müßte, gleich heute abend noch.

Einen Augenblick sitzt die Mutter fassungslos da, dann aber kehrt das Leben in sie zurück: „Verrückt bist du, total verrückt. Ewig zusammenbleiben, damit man seine Witze darüber macht, daß es mir nicht gelingt, dich an den Mann zu bringen. Dafür danke ich und die neuen Gesellschafts­kleider für diese Saison sind ohnehin noch nicht bezahlt und mein Kredit ist überhaupt so gut wie erschöpft. Denke auch an alles andere, was ich dir in der letzten Zeit sagte. Du heiratest den Assessor, ob du willst oder nicht, da hilft dir kein Gott. Und wenn du trotzdem dein eigenes Glück mit Füßen treten solltest und dich, Gott weiß warum, weigerst, den Assessor zu nehmen, dann mußt du sehen, wie du ohne mich durch das Leben kommst, dann trennen sich unsere Wege für immer. Ich verstehe überhaupt nicht, daß nicht auch du vor Freude ganz außer dir bist. Vor einigen Tagen schien dir noch jeder Mann recht zu sein und heute —” Und von einem plötzlichen Argwohn befallen, setzte sie schnell hinzu: „Sollte etwa der Leutnant, der dich zu Tisch führte — nein,” beschwichtigte sie dann selbst wieder ihre Gedanken, „das ist es nicht, denn auch du wirst schon gehört haben, daß der Leutnant bettelarm ist und für eine solche Dummheit bist du denn doch zu klug.”

„Gewiß, Mutter,” pflichtet Hedi ihr bei, wenn auch sehr gegen ihre Überzeugung, aber sie will jetzt im Wagen eine lebhafte Auseinandersetzung vermeiden und auch als sie zu Hause angekommen sind, sucht sie gleich ihr Zimmer auf: „Ich bin so müde, Mutter.”

Die küßt sie zärtlich und liebevoll, wie kaum je zuvor: „Geh schlafen, mein Kind, es ist auch schon spät geworden, morgen sprechen wir in Ruhe über dein großes Glück.”

Aber das Glück erscheint Hedi nicht allzu groß, weder heute, noch in den nächsten Tagen. Der Assessor hat seinen Besuch gemacht, er hat ihr auch ganz gut gefallen und würde ihr sicher noch sehr viel besser gefallen, wenn sie nur den Leutnant nicht kennengelernt hätte.

Fortwährend stellt sie Vergleiche zwischen den beiden an und sie fallen sehr zugunsetn des jungen Offiziers aus.

Aber das nicht allein, sie liebt ihn, ohne zu wissen, warum und weshalb, sie hat keinen anderen Gedanken, als nur ihn, sie ist glücklich, wenn sie ihn nur auf der Straße sieht und nun erst, wenn sie auf Gesellschaften mit ihm zusammentrifft. Und das geschieht jetzt fast täglich, denn ein Ball löst den anderen ab, irgendwo ist immer etwas los.

Die jungen Mädchen haben für ihre gegenseitigen kleinen Schwächen einen sehr scharfen Blick, sie haben es immer sehr schnell heraus, für wen die einzelne sich interessiert und bei Hedi wird der Fall dadurch noch interessanter, daß sie den Assessor heiraten soll. Das haben sie dem Verhalten der Mutter schon lange angemerkt und wie es um den Assessor selbst steht, sieht ja ein Blinder.

So richten die Töchter des betreffenden Hauses, in dem das Fest stattfindet, es stets so ein, daß der junge Offizier Hedi zu Tisch führt, oder wenigstens an ihrer anderen Seite sitzt. Das tun sie, um Hedis Mutter ein wenig zu ärgern, um den Assessor immer eifersüchtiger zu machen und vor allen Dingen, um Hedi eine Freude zu bereiten.

Wenn die erst verlobt ist, kann sie sich ja doch nicht mehr amüsieren, dann ist es damit vorbei, da soll sie die kurze Spanne Zeit, die ihr noch verbleibt, nach besten Kräften ausnutzen.

Auch heute sitzt Hedi wieder neben ihrem Leutnant. Sie hatten beide im stillen gehofft, daß sie wieder ein Tischpaar bildeten, zugleich aber auch im stillen gefürchtet, daß ihnen das Glück nicht doch schon wieder zuteil würde.

Sie verbergen einander nicht, wie sie sich jetzt beide freuen, sie sind lustig und übermütig, sie scherzen und lachen und jeder fühlt sich an der Seite des anderen so grenzenlos glücklich und wissen doch beide, daß dieses Glück keinen Bestand hat, daß es sehr schnell vorüber sein wird, für immer.

Sie müssen plötzlich denselben Gedanken gehabt haben, denn sie verstummen gleichzeitig und werfen einander einen Blick zu, der da deutlich verrät, was sie beschäftigt.

Grenzenlose Trauer spricht aus ihren Augen, jeder hat den Wunsch, dem anderen zu zeigen, wie lieb er ihn hat.

Wie zufällig läßt Hedi ihre Serviette fallen, er bückt sich schnell, um sie aufzuheben, auch sie beugt sich etwas zur Seite nieder und als er ihr dann das Tuch zurückreicht, da finden sich unter dem Tisch, von den anderen ungesehen und unbemerkt, ihre Hände und pressen sich fest ineinander, als wollten sie sich festhalten für das Leben.

Und als sie dann die Hände wieder loslassen müssen, da finden sich zu zartem Gegendruck unter dem Tisch ihre Füße. „Da hat mein Fuß mit deinem Fuß Zwiesprache heimlich gepflogen,” singt der moderne Tannhäuser und sie fühlen beide deutlich, wie ein elektrischer Strom durch ihre Adern geht.

Ihnen ist, als wären sie nie so glücklich gewesen, wie in diesem Augenblick.

Und sie beide haben nur den einen Gedanken, nur den einen Wunsch, sich wenn auch nur ein einziges Mal durch einen Kuß sagen zu können, wie lieb sie sich haben.

Dann kann für sie beide die Trennung kommen, aber einmal müssen sie sich vorher küssen.

Und als Hedi dann später am Abend nach Haus kommt, liegt sie die ganze Nacht hindurch wach. Sie fiebert nach einem Kuß von seinen Lippen und im Zusammenhang damit erwacht der Wunsch nach einer heimlichen Zusammenkunft und nach einer Aussprache. Sie glaubt es sich und ihm schuldig zu sein, daß sie ihm erklärt, warum sie sich nun bald mit dem anderen verloben wird, trotzdem sie keinen anderen Gedanken hat, als nur ihn.

Aber wo sollen sie sich denn sehen? Trotz allen Nachdenkens kommt sie immer wieder auf dasselbe zurück, sie muß in seine Wohnung gehen. Sie ist schon oft an seinem Haus vorüber­gegangen, oben in der dritten Etage ist ein Modemagazin, da ist es ganz unverdächtig, wenn sie das Haus betritt.

Natürlich muß sie ihm vorher ihren Besuch ankündigen, damit sie ihn auch antrifft und damit sie vor jeder Störung sicher sind.

Am nächsten Nachmittag treffen sie sich auf der Eisbahn, sie ist fest entschlossen, ihm ihre Absicht mitzuteilen, aber im letzten Augenblick wollen ihr die Worte doch nicht über die Lippen, bis er dann plötzlich zu ihr sagt: „Gnädiges Fräulein, ich ertrage es nicht länger. Ich habe die ganze Nacht wach gelegen und wenn ich auch noch nicht über alles, was ich Ihnen sagen möchte, ganz im klaren bin, wir wissen ja doch, wie es um uns steht, warum sollen wir uns da nicht einmal aussprechen, aber nicht hier vor anderen Menschen, sondern da, wo wir ganz allein sind.”

So hat er also auch an sie gedacht, wie sie an ihn. Zärtlich drückt sie ihm die Hand und ermutigt fährt er fort: „Es gibt nur einen Platz, wo wir beide ganz sicher sind, aber ob Sie sich je entschließen könnten, zu mir zu kommen?”

Einen Augenblick zögert sie nun doch, dann sagt sie: „Ich komme, aber wann?”

Für den nächsten Nachmittag wird die Zusammenkunft verabredet und als es dann so weit ist, schlüpft sie heimlich und leise durch die nur angelehnte Etagentür in seine Wohnung und befindet sich gleich darauf in seinem Zimmer.

Gott, wie ärmlich er wohnt, diese dürftigen Räume, dazu die billigen, uneleganten Möbel, an den Wänden schlechte Bilder und auf dem Fußboden eine einfache Matte an Stelle eines Teppichs.

Der arme, arme Mensch! Das Mitleid mit ihm ergreift sie und aus diesem Mitleid heraus hat sie ihn noch viel lieber als sonst und in leidenschaftlicher Aufwallung lehnt sie sich an seine Brust und bietet ihm ihre frischen Lippen dar.

Sie haben ja beide viele Tage und viele Wochen nach diesem Kuß gelechzt, da dauert es lange, bis sie einander wieder loslassen. Dann zieht er sie zu sich herab auf das Knie und während sie auf seinem Schoß sitzt, spricht er immer nur von seiner Liebe und wie berauscht vor Glückseligkeit hört sie ihm zu: „Ich kann nicht ohne dich leben, Hedi, ich kann es einfach nicht. Ich kann es nicht ertragen, daß ein anderer sich mit dir verlobt, daß du dem angehören sollst fürs ganze Leben. Ich würde ihn oder mich erschießen, wenn es wirklich dahin kommen sollte.”

Jetzt aber unterbricht sie ihn ganz erschrocken: „Erni, was redest du da, höre mich ruhig an,” und sie setzte ihm auseinander, warum sie den anderen heiraten muß.

„Du liebst ihn doch aber nicht,” widerspricht er, „und wenn das bei euch Frauen und bei uns Männern ja auch sonst kein Hinderungsgrund ist, du liebst doch mich.”

„Nur dich,” flüstert sie, während sie ihn von neuem küßt, „und ich werde auch nie aufhören dich zu lieben, aber sei doch vernünftig, du mußt doch einsehen, daß ich nicht anders handeln aknn.”

Aber das sieht er absolut nicht ein: „Tag und Nacht habe ich darüber nachgedacht, mir alles reiflich überlegt und deshalb frage ich dich jetzt, warum sollen wir beide einander nicht heiraten?”

Sie glaubt nicht recht gehört zu haben: „Wir beide? Aber du bist doch arm, noch ärmer als ich, wovon sollen wir da leben?”

„Ich werde für dich arbeiten,” gibt er mit fester Entschlossenheit zurück. „Ich reiche meinen Abschied ein und wenn es einem verabschiedeten Offizier ja auch doppelt schwer wird, eine lohnende Tätigkeit zu finden, mir wird es schon gelingen. ich werde mich vor keiner Arbeit scheuen, wenn sie auch noch so schwer und noch so niedrig ist, ich bin jung, ich bin stark, ich habe den ernsten Willen, da ist mir um den Erfolg nicht bange. Und wir brauchen ja auch nicht gleich zu heiraten, nicht heute oder morgen. Ein oder zwei Jahre, dann bin ich sicher so weit und wenn wir auch bescheiden anfangen müssen, was liegt daran? Hungern wirst du schon nicht und durch unsere Liebe werden wir trotz der Armut reicher sein, als viele Millionäre.”

Gott, was für ein Kind er noch ist! Sie ist ganz gerührt von seinen Worten und küßt ihn aufs neue. So wie ihn hat sie noch keinen anderen geliebt und so wie ihn wird sie auch keinen anderen wieder lieben können, schon deshalb nicht, weil kein anderer ihr und seiner Liebe solche Opfer zu bringen bereit ist.

Aber die darf sie natürlich nicht annehmen, dazu muß sie zu verständig sein, schon um ihrer selbst willen. Ihr graut vor der Zukunft, die er ihr da schildert, sie hat genug von den ewigen Einschränkungen zu Hause und von den vielen Sorgen, die nicht zu verscheuchen sind.

Nein, es ist ja mehr als wahnsinnig, so etwas auch nur im Scherz zu denken, aber so sehr ihr Verstand und ihre Vernunft sich dagegen auflehnen, sie unterliegt mit der Zeit doch dem Zauber seiner Liebesworte, die er ihr immer zärtlicher und immer leidenschaftlicher zuflüstert.

Wie sie ihn, so liebt auch er sie mit allen Empfindungen seines Herzens. Es ist die erste ganz reine, ganz keusche und deshalb doppelt große Liebe, von der sie beide erfüllt sind. Jeder sündhafte Gedanke liegt ihnen ganz fern, sie haben keinen anderen Wunsch, als sich zu küssen, einander die Hände zu drücken und sich immer wieder zu sagen, wie sehr sie sich lieben.

„Ich kann nicht ohne dich leben, Hedi, ich kann es nicht. Du weißt ja nicht, wie arm und freudlos mein Dasein bisher war,” und er erzählt ihr die Geschichte seines Lebens, die alltägliche Geschichte des jungen Menschen, der in das Kadettenkorps mußte, weil es den Eltern an dem nötigen Erziehungsgeld für eine andere Lehranstalt fehlte. Dann starb der Vater, vergrämt wegen seiner frühen Verabschiedung, die Mutter blieb zurück, allein mit den Geschwistern, ohne andere Mittel als die geringe Witwenpension. zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Er war die Hoffnung der Familie, eine reiche Partie mußte ihn und die Seinen von aller Not befreien.

„Ich habe mich ja auch verkaufen wollen, Hedi, sobald sich mir eine Gelegenheit dazu bietet. Ich bin ja so arm, die Königszulage ist außer meinem Gehalt alles, was ich habe und wenn das Elend zu Haus gar zu groß ist, muß ich selbst davon noch ein paar Mark an die Mutter und an die Schwester schicken. Da sah ich dich, Hedi. ich wußte, daß du arm bist und trotzdem, von dem ersten Augenblick an, liebte ich dich. Und so froh und glücklich wie jetzt bin ich früher nie gewesen und in deiner Nähe lernte ich wieder das Lachen und wieder fröhlich zu sein. Alles, was mich jahrelang bedrückte, war von mir gewichen in der Minute, in der ich dich sah, in der ich zum erstenmal an deiner Seite saß. Wie oft habe ich nicht früher über die Liebe gelacht, wie oft mir nicht immer wieder gesagt, die Liebe ist ein Unsinn. Liebe ist Geld und noch mehr Geld, Reichtum und Luxus, Equipagen und Diener. Wer mir das nicht mit in die Ehe bringen konnte, der kam für mich nicht in Frage. Seit ich dich kenne, weiß ich, wie leer und albern das alles ist, daß nur die Liebe allein glücklich machen kann. Und ich habe dich lieb, Hedi, und mit dieser Liebe werde ich weiterleben oder ich werde an ihr sterben.”

So hat noch nie einer zu ihr gesprochen, jedes seiner Worte packt ihr Herz und findet dort einen flammenden Widerhall. Jetzt weiß auch sie erst, was wirkliche, reine, keusche und selbstlose Liebe ist.

Und ihr Herz beginnt zu bluten bei dem Jammer und bei der Verzweiflung, die aus seinen Zügen spricht.

Aber die Vernunft, diese bittere und grausam unerbittliche Vernunft.

„Erni, ich flehe dich an, hab' Erbarmen mit mir, sprich nicht so weiter, du brichst mir sonst das Herz, sei auch du vernünftig.”

Völlig verständnislos sieht er sie an: „Wie könnte ich das wohl sein, wo ich dich über alles liebe, wo ich keinen anderen Gedanken habe, als nur dich?”

„Ich habe dich doch auch über alles lieb, aber trotzdem —”

„Aber trotzdem,” unterbricht er sie, „trotzdem denkst du an etwas anderes, als was die Stimme deines Herzens dir befiehlt. Nein, Hedi, das ist dann doch bei dir nicht die richtige Liebe, dann liebst du mich überhaupt nicht.”

Sie schreit auf, weil er ihr mit seinen Worten bitter weh getan hat und sie fühlt, wie sich ihr Herz krampfhaft zusammenzieht. Laut aufschluchzend verbirgt sie ihr Gesicht in beiden Händen: „Ich dich nicht lieben,” jammert sie vor sich hin. „Zu jedem Opfer bin ich bereit, um dir zu beweisen, wie lieb ich dich habe, alles will ich tun, was du von mir verlangst —”

Er springt auf und schließt sie freudestrahlend in die Arme: „Du willigst ein? Du willst die Meine werden, für immer?”

„Das kann ich nicht,” stöhnt sie unter seinen flammenden Küssen, „aber ich will dir trotzdem angehören, wenn auch nicht für alle Zeiten, ich will heute ganz die Deine sein, um dir zu zeigen, wie lieb ich dich habe. Hier bin ich, nimm mich in deine Arme und laß uns, bevor wir uns für immer trennen müssen, wenigstens einmal ganz glücklich zusammen gewesen sein.”

Er läßt sie los und als er sie jetzt beinahe entsetzt ansieht, da bemerkt er in ihren Augen ein heißes, leidenschaftliches Feuer, das seine Küsse und seine Liebkosungen allmählich in ihr entflammt haben müssen.

Und mit einemmal kennt er sie nicht mehr. Sie ist ihm ganz fremd geworden, ihm ist, als sähe er sie jetzt zum erstenmal. Nein, das ist nicht mehr die Hedi, die er über alles liebte.

Sie versteht den Ausdruck in seinen Zügen nicht, sie hält den für das Widerspiel der Erregung, in die ihre Worte ihn versetzt haben. Sie findet das auch nur zu begreiflich, aber daß er jetzt auch nur noch eine Sekunde zögert, sie in seine Arme zu nehmen, das begreift sie nicht.

Jedes Wort, das er vorhin zu ihr sprach, hat ihr ja bewiesen, daß er ein Träumer, ein Idealist ist. Aber er ist doch kein Kind mehr, sondern ein erwachsener Mensch. Sollte er sie trotzdem nicht verstanden haben? Oder aber vermag er vor Glückseligkeit nicht an das Opfer, das sie ihm darbringen will, zu glauben. Und sie will es ihm darbringen mit tausend Freuden. Die Sinnlichkeit, die vorhin in ihr aufloderte, ist verraucht und trotzdem, nein, gerade deshalb will sie ihm ihren jungen Leib preisgeben, nicht voll sündhafter Lust, sondern voll der reinsten Liebe, die keine Grenzen kennt und selbst in dem Äußersten nur das ganz Natürliche sieht.

Aber er denkt anders, das erkennt sie mit einem immer größer werdenden Entsetzen an dem Ausdruck seiner Züge. Und plötzlich fängt sie an, sich zu schämen, obgleich dazu nach ihrer Auffassung nicht die leiseste Veranlassung vorliegt, denn sie hat sich nichts Schlechtes dabei gedacht und sie hat ihn doch über alles lieb.

Bis dann plötzlich bei ihr an die Stelle der Scham etwas anderes tritt, die Furcht, er könne sie zurückweisen. Das wäre eine tödliche Beleidigung für sie, der schwerste Schlag, den ihre Liebe erleiden könnte.

Vorhin wollte sie, jetzt muß sie ihm angehören. Sie sieht es ihm an, daß sie im Begriffe ist, seine Achtung zu verlieren. Rückgängig kann sie die Worte, die sie sprach, nicht mehr machen, auch nicht vorschützen, daß sie nur scherzte, denn über so etwas darf eine junge Dame nicht scherzen. Es gibt nur eins, auch in ihm muß die Sehnsucht wach werden, ihr ganz anzugehören.

Mag dann kommen was da will, dann sind sie beide schuldig und sie braucht nicht mehr vor ihm die Augen niederzuschlagen.

Und je länger er sie traurig ansieht, um so mehr senkt sie den Blick.

Aber er darf nicht traurig sein, ihretwegen nicht, denn sie ist nicht schlecht, ganz gewiß nicht, sie hat ihn ja nur über alles lieb.

So wirft sie sich denn an seine Brust und als er leise versucht, ihre Hände von seinem Körper zu lösen, klammert sie sich nur noch fester an ihn. Sie muß Siegerin bleiben, das ist sie sich selbst schuldig.

Aber will sie siegen, dann gibt es dazu nur ein Mittel, sie muß seine Sinne entflammen, daß er darüber sich selbst und alles andere vergißt.

Aber je leidenschaftlicher sie ihn küßt, um so kühler, um so leidenschaftsloser wird er, bis er sie schließlich fast gewaltsam beiseite drängt: „Geh, Hedi, laß das.”

Sie taumelt zurück, als hätte sie einen Schlag in das Gesicht bekommen, ihre Wangen brennen dunkelrot.

Er selbst steht ihr totenblaß gegenüber und jetzt findet sie dafür auch eine Erklärung, eine gewaltige Erregung tobt in seinem Innern und er hat sie nur von sich gestoßen, um nicht zu unterliegen.

Sie will sich von neuem an ihn schmiegen, aber er hält sie zurück: „Laß das, Hedi, tu es schon um deiner selbst willen nicht, damit ich nicht den letzten Glauben an dich verliere, du hast ohnehin genug in mir zertrümmert und ich weiß nicht, wie ich das überwinden soll.”

Sie bricht in Tränen aus und schluchzt vor sich hin: „Ich hab' dich doch so über alles lieb, wie kannst du da gering von mir denken, weil ich dir das höchste Opfer bringen wollte, das die Liebe kennt.”

Ihre Tränen stimmen ihn weich, so tritt er denn auf sie zu: „Und doch hättest du das nicht sagen dürfen, Hedi, und ich glaube, es ist für uns beide besser, du läßt mich jetzt allein.”

Sie umklammert seine Hände, und sieht mit flehenden Augen zu ihm auf: „Du schickst mich fort? Soll das das Ende unserer schönen Liebe sein?”

Wie traumverloren blickt er lange vor sich hin, dann sagt er endlich mit leiser, wehmütiger Stimme: „Ja, sie war schön, zu schön, als daß sie hätte Bestand haben können.”

Sie schreit auf: „Ich beschwöre dich, nimm das Wort zurück, sag, daß du mich auch jetzt noch lieb hast. Ich habe es doch nicht böse gemeint, nur die Liebe ließ mich so sprechen, die kein Opfer kennt.”

Ein trauriges Lächeln umspielte seinen Mund: „Und doch wolltest du mich nicht heiraten?”

Eine grausame Ironie, eine vernichtende Anklage klingt aus seinen Worten hervor. Von neuem zuckt sie zusammen. Sie weiß, nur eins kann sie jetzt noch in seinen Augen rechtfertigen, die alte Lieber wieder in ihm wach werden zu lassen, sie muß ihm erklären, daß sie ihn heiraten wird.

Aber sie kann sich nicht entschließen, das Wort auszusprechen, die Vernunft hindert sie daran, die grausam bittere und grausam unerbittliche Vernunft.

Er weiß, was in ihr vorgeht und so sagt er denn endlich: „Mach die keine unnützen Gedanken, Hedi, und überlege nicht erst lange, ob du mich nicht vielleicht nun doch noch heiraten willst, denn dazu ist es jetzt zu spät.”

Sie hört daraus hervor, daß er sie nicht mehr für würdig hält, seine Frau zu werden und sie fühlt, wie jeder Blutstropfen aus ihrem Gesicht weicht.

Aber das darf sie natürlich unter keinen Umständen zugeben, daß sie ihn nur zu gut verstanden hat uns so sagt sie denn nur: „So ist unsere Aussprache also doch nicht umsonst gewesen und endlich siehst auch du ein, daß wir uns nicht heiraten können.”

Er antwortet nichts darauf, eine ganze Weile herrscht tiefes Schweigen, bis sie sich endlich von ihrem Stuhl erhebt: „So wollen wir denn Abschied voneinander nehmen und wenn wir uns morgen oder wann sonst immer wiedersehen —”

„Wir werden uns nicht wiedersehen, Hedi, denn nach dem heutigen Tag kann ich das nicht.”

Sie versteht nicht den Sinn seiner Worte, so meint sie denn ängstlich: „Aber wir können uns doch nicht fortwährend absichtlich aus dem Wege gehen, dazu ist die Stadt zu klein. Was sollen die Leute davon denken? Wir kämen miteinander ins Gerede und das muß gerade jetzt vermieden werden. Nein, Erni, wenn du mich wirklich jemals geliebt hast, das darfst du mir nicht antun.”

„Sei unbesorgt,” beruhigt er sie, „ich werde es schon einzurichten wissen, daß dein guter Ruf in keiner Weise darunter leidet.”

Sie reichte ihm die Hand: „Ich danke dir, Erni.”

„Bitte, bitte, keine Umstände,” meinte er nicht ohne Ironie und dann wiederholt er: „Nun aber lasse mich bitte allein, Hedi, ich muß allein sein mit mir und meinen Gedanken.”

So greift sie denn nach Hut und Jackett, er ist ihr bei dem Ankleiden behilflich und stumm stehen sie dann einander wieder gegenüber.

„Willst du mir denn nicht wenigstens zum Abschied die Hand geben, Erni?” fragt sie endlich mit leiser Stimme.

Er tritt näher an sie heran und ergreift ihre beiden Hände. Dann blickt er ihr in die Augen, so lange und forschend, als wolle er versuchen, in ihrer tiefsten Seele zu lesen. Eine Minute verrinnt so nach der anderen, bis endlich seine Lippen sich öffnen: „Lebe wohl.” Nur das eine Wort! Aber die Art, in der er es spricht, so aus tiefstem Herzen heraus, ist so klagend und verzweifelt, daß ihr die Tränen in die Augen schießen. Gleich darauf legt er seinen rechten Arm um sie und geleitet sie hinaus.

Hinter ihm schließ sich die Tür. Es ist vorbei, durch ihre Schuld vorbei.

Sie muß sich darußen für einen Augenblick gegen die Wand lehnen, ihr ist, als drehe sich alles mit ihr im Kreise. Erst das Geräusch näherkommender Schritte läßt sie auffahren und schnell davoneilen. Um Gottes willen, wenn man sie hier sähe!

Wie ein gehetztes Wild flieht sie von dannen.

Zu Hause erwartet die Mutter sie voller Ungeduld. Die hat im Laufe des Nachmittags frohe und vor allen Dingen absolut zuverlässige Nachrichten über das Vermögen des Assessors erhalten: „Denk dir nur, Hedi. alles in allem hat er jährlich rund zwanzigtausend Mark Zinsen, dazu kommt noch sein Gehalt, das mit den Jahren auch immer noch höher wird und ihr könnt frei von allen Sorgen leben. Ach, ich bin ja so glücklich, die anderen werden vor Neid bersten, wenn sie hören, was du für eine gute Partie machst.”

Auch Hedi ist glücklich. Gewiß, die Erinnerung an die soeben verlebten Stunden zittert noch in ihr nach, aber zwanzigtausend Mark Zinsen im Jahre, dazu noch sein Gehalt — Gott ist ihr Zeuge, sie hatte Erni über alles lieb, aber sie konnte ihn nicht heiraten, wenn er das mit anhören könnte, was ihre Mutter da soeben erzählt, würde er das selbst einsehen.

Morgen will sie ihm noch einmal ausführlich schreiben, ihn noch einmal zu überzeugen versuchen und wenn auch das vergebens ist, dann kann sie es nicht ändern.

Aber am nächsten Morgen ist es dazu zu spät, denn da durcheilt die Nachricht die Stadt, daß der kleine Leutnant sich erschossen hat. Mit einer Kugel in der Schläfe hat der Bursche ihn tot vorgefunden, als er in das Zimmer trat, um seinen Herrn zu wecken.

Auf seinem Schreibtisch hat man einen Zettel gefunden: „Eine Ehrenschuld, die ich heute einlösen soll und nicht einlösen kann, treibt mich in den Tod.”

Nur sie alleine weiß, was ihn in Wahrheit veranlaßt hat, aus diesem Leben zu scheiden.

Aber sie atmet doch erleichtert auf, daß nur sie es weiß, daß er sein Versprechen gehalten hat, sie nicht mit ihm ins Gerede zu bringen.

Selbst daran hat er vor seinem Tode noch gedacht, wie lieb muß er sie gehabt haben.

Und wie lieb hat sie ihn nicht erst. Sie kann und will es nicht glauben, daß er ihretwegen gestorben ist, das ist zu furchtbar, zu entsetzlich. Aber er soll wenigstens nicht umsonst gestorben sein. Wenn sie ihm auch im Leben nicht angehören konnte, so wird sie dennoch niemals aufhören, ihn zu lieben, niemals so lange sie atmet, und mit seinem Namen auf den Lippen wird sie dereinst die Augen zum ewigen Schlummer schließen.

Und doch wird auch sie, wenn ihr Mann sie demnächst frägt: „Hast du wirklich vor mir noch nie einen anderen geliebt und geküßt?” — Dann wird auch sie mit unschuldsvollen Kinderaugen zu ihm aufsehen und sagen: „Wie sollte ich wohl vor dir je einen anderen geliebt oder gar geküßt haben? Ich habe es ja gewußt, daß du kommen würdest, da habe ich auf dich gewartet bis zu dieser Stunde, du mein Ritter und Held.”

Und da er ein Mann ist, glaubt er ihr auch, denn wenn die Frau die geborene Liebe ist, dann ist und bleibt der Mann der lebendig gewordene Glaube.


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© Karlheinz Everts