Die Wendeltreppe.

Eine galante Geschichte von Freiherr v. Schlicht.

in: Weimarisches Sonntagsblatt, Unterhaltungs-Beilage zur
„Allg. Thür. Landeszeitung Deutschland” vom 1.Juli 1923
und in: „Die Lore”, O. Uhlmann, Berlin, 1926

Die ebenso junge wie schöne und elegante Frau von Willer war ganz plötzlich Witwe geworden, so plötzlich, daß sie es, obgleich inzwischen schon bald drei Stunden vergangen waren, immer noch nicht glauben konnte und wollte, daß sie nun ein langes Jahr hindurch Schwarz tragen müsse, denn Trauerkleider standen ihr, wie sie aus Erfahrung wußte, leider absolut nicht. Wäre es anders gewesen, hätte sie den plötzlichen Tod ihres Mannes als eine Fügung des Himmels ruhiger und gefaßter hingenommen, zumal an dem ja nun doch einmal nichts mehr zu ändern war. Aber die dumme Geschichte, so schnell und so plötzlich zu sterben, hätte ihr Heinrich sich selbst und ihr wirklich ersparen können, denn es war doch einzig und allein seine Schuld, daß er nun kalt und steif und starr in seinem Schlafzimmer auf dem Bett lag, von dem er nie wieder aufstehen würde. Ja, sein früher Tod, er war doch letzthin erst achtundfünfzig geworden, war seine eigene Schuld, denn wie hatte er nur so ungalant und außerdem so unvorsichtig sein können, ohne vorher dreimal bei ihr anzuklopfen oder sich auch nur bei ihr anmelden zu lassen, noch dazu nachmittags um vier Uhr, in ihr Schlafzimmer zu kommen, das sie allerdings auch heute abzuschließen nicht der Mühe wert gefunden hatte, denn seit Jahr und Tag betrat ihr Mann ihre im ersten Stockwerk des Landhauses gelegenen Räume doch überhaupt nicht mehr, weder bei Tag noch bei Nacht. Was mochte ihn da nur gerade heute nachmittag zu ihr geführt haben, ausgerechnet heute, wo er es sich doch hätte denken können, daß sie von dem Gabelfrühstück, das sich etwas ausdehnte, da ihr gemeinsamer Freunde Armand de Morlain als Gast zugegen war, etwas müde sei und sich hinterher hinlegen würde. Sie wußte doch, wie auch ihr Heinrich trotz des Unterschiedes der Jahre an Armand hing und wie große Stücke er auf ihn hielt. Wie konnte er es sich da nur so zu Herzen nehmen, daß er einen sofort tödlich wirkenden Schlaganfall erlitt, als er sie und Armand —? Ja, wenn es ein ihm ganz Fremder gewesen wäre, dann hätte sie seine Aufregung natürlich begriffen, aber so verstand sie die wirklich nicht, denn wie oft hatte ihr Mann ihren gemeinsamen Freund Armand nicht selbst als zur Familie gehörig bezeichnet? Und außerdem konnte sie ja doch schon seit langem tun, was sie wollte. Ihr Mann hatte sich mithin wirklich geradezu „unglaublich” benommen, als er in ihrem Schlafzimmer wie vom Blitz getroffen tot umfiel! Wenigstens hätte er ihr vorher noch sagen müssen, was ihn zu ihr führte, schon damit sie ihm seinen letzten Wunsch, falls es sich um eine Bitte handelte, noch nachträglich hätte erfüllen können. Statt dessen war er so jäh hingestürzt, daß der Fall seines Körpers die Dienstboten herbeirief, noch bevor Armand Zeit gefunden hätte, sich über die Wendeltreppe hinweg, auf der er gleich nach dem Frühstück, als er sich im Parterre offiziell von ihnen verabschiedet hatte, wie schon so oft heimlich in ihr Zimmer gelangt war, zu entfernen. So war ihr, obwohl sie jede Lüge und jede Unwahrheit haßte, nichts anderes übriggeblieben, als das Märchen zu erfinden, Herr de Morlain sei, sein Auto, das nicht pünktlich zur Stelle gewesen, erwartend, noch im Garten auf und ab gegangen, als er den Sturz in ihrem Zimmer hörte. In dem Glauben, es sei ihr irgendein Unglück zugestoßen, sei er direkt vom Garten aus auf der Wendeltreppe, die er zufällig entdeckt, zu ihr geeilt, um gleich ihr voller Entsetzen zu sehen, daß Herr von Willer ganz plötzlich und unerwartet seinen Geist aufgegeben habe. Na, glücklicherweise besaß sie nur ihr treuergebene Angestellte, die ihr schon deshalb immer alles glaubten oder die sich wenigstens so stellten, als ob sie es täten, weil sie wenig zu tun hatten und gut bezahlt wurden. Außerdem hatte ihre ihr wirklich sehr ergebene Zofe Jeanette ihr längst erzählt, daß ihre Domestiken es natürlich nicht wüßten, aber es gerade deshalb als ganz selbstverständlich annähmen, daß sie, die Frau von Willer, dem Herrn, der doch viel zu alt für sie wäre, nicht treu sei, wie sie überhaupt nicht recht begriffen, daß sie den habe heiraten können, denn der schiene ja nicht einmal ein sehr großes Vermögen zu besitzen, um wenigstens durch das den Jahresunterschied vergessen zu lassen, denn sonst hätte Herr von Willer ihr wohl auch ein anderes und eleganteres Landhaus zum Geschenk gemacht als gerade dieses.

Sie hatte damals der Jeanette zugehört, ohne ihr zu widersprechen, denn wie reich Herr von Willer war, brauchte selbst ihre Vertraute nicht zu wissen, ebensowenig, warum sie sich vor Jahren darauf versteift hatte, daß ihr Mann ihr gerade dieses zwar nicht sehr moderne und keineswegs übertrieben elegante, aber trotzdem sehr geräumige und bequeme Landhaus schenkte. Dieser ihr Wunsch aber hing indirekt mit der Frage zusammen, die sie seit den ersten Tagen ihrer Hochzeit so oft beschäftigte und die da lautete, warum hast du den um soviel älteren Herrn von Willer, der doch dein Vater sein könnte, eigentlich geheiratet? In erster Linie natürlich, um Frau von Willer zu werden, dann aber selbstverständlich auch auf Grund seines großen Vermögens. Und schließlich, weil sie erriet, daß er, entgegen den Versprechungen, die er ihr gab, sehr bald seine Angewohnheit, die Abende im Klub zu verbringen, wieder aufnehmen würde. Da konnte sie dann ungestört mit ihrem Karlanton zusammen sein und mit dem plaudern, den sie sicher geheiratet haben würde, wenn nicht große finanzielle Schwierigkeiten entgegengestanden hätten.

Trotzdem hatte sie natürlich die feste Absicht gehabt, ihrem Manne treu zu bleiben, aber es war dann doch anders gekommen, allerdings nicht durch ihre Schuld, sondern nur durch die ihres Mannes. Warum ließ er sie soviel allein und warum hatte er sie überhaupt geheiratet? Das hätte er in seinem Alter nicht tun dürfen, denn er hätte doch wissen müssen, wie alt er war. Und er hätte sich doch auch sagen müssen, daß es ihr auf die Dauer nicht genügen könne, daß er sie lediglich küßte, oder daß er, wenn er wirklich des Abends einmal zu Hause blieb, zusah, wie sie sich für die Nacht ihr wunderschönes langes dichtes Haar vor dem Spiegel frisierte, während sie dabei unter der Frisierjacke ein Spitzenhemd trug, unter dem ihre schlanken Glieder hervorleuchteten und unter dem ihre rosigen Füße in zierlichen kleinen Pantoffeln hervorsahen. Natürlich machte es sie glücklich, daß er sich an ihrer Schönheit erfreute, aber noch lieber wäre es ihr doch gewesen, wenn er sich nicht stets gleich darauf mit einem flüchtigen Kuß auf die Stirn und mit den Worten: „Schlafe gut, mein liebes Kind,” von ihr verabschiedet hätte, denn etwas anders hatte sie sich als junges Mädchen die Nächte doch gedacht.

So kam es, einzig und allein durch die Schuld ihres Mannes, zwischen Karlanton und ihr dahin, wohin es hatte kommen müssen, und es blieb auch zwischen ihnen so, bis er eines Tages selbst heiratete und damit für immer von ihr Abschied nahm. Leicht wurde ihr das ganz gewiß nicht, aber die Trennung hatte vielleicht auch ihr Gutes, denn Karlanton kam zu oft, als daß es nicht mit der Zeit hätte auffallen müssen, und der Schein mußte unter allen Umständen gewahrt werden. Und deshalb nahm sie sich auch gleich vor, wenn sie sich, was sie allerdings für vollständig ausgeschlossen hielt, jemals wieder in einen anderen verlieben sollte, und das mußte sie baldmöglichst tun, um Karlanton zu vergessen und um aus Sehnsucht nach ihm nicht zu sterben, dann würde sie die Sache anders einrichten.

Zu dem Zweck steckte sie sich, noch bevor sie sich bald darauf in den hübschen Leo verliebte, ja, schon als sie es voraussah, daß sie sich in ihn, der unablässig um ihre Gunst warb, verlieben würde, hinter ihren Hausarzt und ließ sich von dem das ständige Wohnen in Hannover verbieten und sich für den größten Teil des Jahres einen unbedingt nötigen Aufenthalt in dem reizenden, dicht am Walde gelegenen Vorort verordnen, der mit dem Auto, und Leo besaß ein noch schnelleres als ihr Mann, bequem zu erreichen war. Und der Arzt wußte auf ihr Bitten hin die schleunigste Übersiedlung nach dem Vorort so dringend zu schildern, daß Herr von Willer sich schon am nächsten Tag mit ihr dorthin begab, um ein passendes Landhaus zukaufen.

Und da hatte er ihr das gekauft, in dem sie jetzt noch wohnte und in dem er nun heute nachmittag so plötzlich gestorben war. Von der ersten Minute an hatte sie sich in das Haus verliebt, weil es einen Garten mit ganz hohen dichten Taxushecken besaß, die so hoch und so dicht waren, daß man selbst im Herbst, wenn sie nicht mehr grünten, zwischen ihnen würde hindurchgehen können, ohne gesehen zu werden. Und dann bot sich von dem eine großen schönen sonnigen Zimmer im ersten Stock, das sie sofort als ihr Schlafzimmer bestimmte, eine so reizende Gelegenheit, eine Wendeltreppe, die in den Garten führte, anlegen zu lassen, so daß sie es nicht immer erst nötig hatte, durch das ganze Haus zu gehen, wenn sie einmal in den Garten wollte, und sie sollte und mußte auf Befehl des Arztes doch viel, viel frische luft schöpfen.

„Nicht wahr, Heinrich, die Wendeltreppe läßt du mir noch, bevor wir einziehen, machen?” bat sie, sich zärtlich an ihn schmiegend, und als er es ihr versprochen hatte, dankte sie es ihm mit einem Kuß und mit den zärtlichen Worten: „Wie gut du bist.”

Aber während sie ihm das zuflüsterte, dachte sie im stillen: Richtiger wäre es wohl gewesen, zu sagen: wie dumm du bist, aber das wäre mehr als unhöflich gewesen, und das hätte er in diesem Augenblick nicht um sie verdient. Dann besahen sie sich das Landhaus weiter, um die einzelnen Zimmer zu verteilen, und damit ihr Heinrich sie des Abends, wenn er spät nach Hause käme, in ihrem Schlaf nicht störe, bestimmte sie für ihn im Parterre als Schlafzimmer einen anderen großen Raum, der aber nicht wie das ihrige nach Süden, sondern nach Westen hinaus ging, so daß sie es gar nicht hören konnte, wenn er sich schlafen legte und seiner Gewohneit gemäß beim Auskleiden noch etwas auf und ab ging.

Vierundzwanzig Stunden später wurde das Landhaus gekauft und bald begannen die Handwerker damit, das eine und das andere nach den Wünschen der neuen Besitzer zu ändern, und ganz besonders wurde gleich mit dem Anlegen der Wendeltreppe begonnen.

Und die junge Witwe gestand es sich auch jetzt wieder ein, die Wendeltreppe hatte sich, wenn sie den Ausruck gebrauchen durfte, im Laufe der Zeit bezahlt gemacht.

Wie oft hatte sie nicht die zu der Treppe führende Tür an schönen, warmen Abenden geöffnet, um noch einmal in den Garten zu gehen, um dort die so gesunde, stärkende Luft zu genießen und um Leo das verabredete Zeichen zu geben, daß alles im Hause schlafe und daß sie ihn in einer Viertelstunde erwarte. Wie oft war sie des Morgens nicht in aller Frühe aufgestanden und, nur in einen Morgenrock gehüllt, auf die oberste Stufe der Treppe getreten, um die so gesunde, stärkende Morgenluft in vollen Zügen zu genießen und um Leo nachzusehen, der an den hohen Hecken entlang zu einer zweiten Gartenpforte ging, zu der er allein den Schlüssel besaß. Und wie wundervoll schlief sie dann immer wieder ein, wenn sie auf der obersten Treppenstufe ein paar Minuten die frische Luft gekostet hatte.

Und als Leo ihr dann untreu wurde und sie verließ, da verdankte sie der Wendeltreppe ihr Leben, denn wenn die nicht gewesen wäre, hätte sie sich unbedingt von ihrem Fenster hinaus in den Garten gestürzt und wäre dort mit zerschmetterten Gliedern liegen geblieben. Einzig und allein die Wendeltreppe machte es ihr unmöglich, ihren Selbstmord auszuführen, oder sie hätte sich über das Geländer stürzen müssen, und das ging nicht, das war nicht sicher genug, denn da hätte sie ja leicht mit ihren Kleidern an dem Geländer hängen bleiben können.

Ja, nur der Wendeltreppe verdankte sie ihr Leben, das auch schon, weil bald darauf der bildhübsche Hans-Werner zu ihr kam, um sie über Leos Untreue zu trösten, ohne allerdings dabei zu gestehen, daß er selbst erst recht kein Talent zur Treue besitze, denn schon nach wenigen Wochen verließ er sie aus Liebe zu einer hübschen Tänzerin von der Oper.

Und wieder brachte die Wendeltreppe ihr Trost, und das hatte die leider noch oft tun müssen, denn die Männer waren und blieben im Gegensatz zu den Frauen ja nun einmal alle treulos.

Gewiß, auch sie war ja nicht treu, wenigstens ihrem Mann nicht, aber das war seine eigene Schuld, und warum hatte er ihr die Wendeltreppe machen lassen? Warum hatte er ihren Wunsch sofort erfüllt, anstatt, wie es seine Pflicht gewesen wäre, ihr den als leichtsinnig und schon der Diebe und Einbrecher wegen als gefährlich auszureden?! Und warum kümmerte sich ihr Mann so wenig um sie, daß er sie, wenn sie bei dem zweiten Frühstück etwas müde und abgespannt aussah, da der viele Aufenthalt in der frischen Luft sie doch sehr angriff, kaum einmal danach fragte, wie sie denn geschlafen habe. Und daraus, daß er sich so gar nicht um sie kümmerte, daß er auch nie mehr zusah, wenn sie sich in dem mehr als dünnen Spitzenhemd vor dem Spiegel ihre Haare frisierte, schloß sie, glaubte sie wenigstens mit Recht schließen zu können, daß er um ihre Untreue wußte und daß er sich als vornehmer, galanter und ritterlicher Edelmann stillschweigend damit abgefunden habe. Trotzdem aber wunderte sie sich zuweilen im stillen darüber, daß er die Wendeltreppe nicht wieder unter irgendeinem Vorwand abbrechen ließ, so daß sie zuweilen für die mehr zitterte als für ihr Leben, ganz besonders, seitdem sie Armand kennengelernt hatte, der ihr täglich aufs neue Beweise seiner stürmischen und doch so zärtlichen Liebe gab. Ja, ihr Mann hätte es sich doch wirklich denken können und müssen, daß sie ihm nicht treu war. Wie war er da nur so leichtsinnig gewesen, unangemeldet bei ihr einzutreten, zumal sein Arzt ihm doch jede Aufregung und Erregung auf das strengste verboten hatte. Gewiß, es war das erstemal, daß Armand sich um diese Stunde in ihrem Zimmer befand, aber ihr Heinrich hätte es wissen müssen, daß der Ehemann einer schönen, eleganten Frau nie vor irgendeiner Überraschung, und wenn es sich auch nur um die Entdeckung eines Toieltten­geheimnisses handelt, sicher ist, sobald er unerwartet ihr Schlafzimmer betritt.

Doch ihrem Heinrich jetzt noch irgendwelche Vorwürfe zu machen, war zwecklos. Er hatte seine Unüberlegtheit mit dem Tode gebüßt. Aber als der Tote ihr nun, schon weil er ihr nie mehr ihre rosigen kleinen Füße küssen konnte, so leid tat, daß sie ihm ein paar stille Tränen nachweinte, und namentlich, als sie abermals daran dachte, daß sie die alleinige Erbin seines großen Vermögens sei, da er ja glücklicherweise keine Zeit mehr gefunden hatte, sich von ihr scheiden zu lassen, da beschloß sie in einem plötzlich aufwallenden Gefühl der Dankbarkeit, aber auch der Reue, dem Toten die Treue zu halten, die sie ihm im Leben nicht hatte halten können. Ach nein, das nicht, davon hätte ihr Mann ja gar nichts gehabt. Wohl aber nahm sie sich fest vor, ihm dauernd das denkbar beste Andenken zu bewahren, denn wenn sie es sich angesichts seines Todes, der ja alle seine Schuld sühnte, richtig überlegte, dann war sie durch die Wendeltreppe, die sie seiner Güte verdankte, in ihrer leider nur so kurzen Ehe mit ihrem Heinrich eigentlich sehr, sehr glücklich gewesen!


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