Weihnachts-Urlaub.

Humoristische Plauserei.
Von Freiherr von Schlicht.
in: „Kieler Zeitung” vom 17.12.1896,
in: „Hagener Zeitung” vom 17.12.1896,
in: „Neue Hamburger Zeitung” vom 19.12.1896,
in: „Märkischer Sprecher” vom 9. und 10.12.1897,
in: „Lippische Tages-Zeitung” vom 11.12.1897,
in: „Ratinger Zeitung” vom 5. und 8.1.1898 (unter dem Titel: „Urlaub”)


Ferien und Urlaub sind nicht dasselbe. Ferien bekommt jeder Schüler, auch der faulste, Urlaub dagegen wird nach Gebühr und Würdigkeit vertheilt.

An dem Tage, an dem das Kind, von den besten Ermahnungen der Eltern begleitet, mit belegten Butterbroten in allen Hosen- und Rocktaschen, und einem funkelnagelneuen Ränzel auf dem Rücken zum ersten Male zur Schule geht, freut es sich auf nichts so sehr, als auf die ersten Ferien.

Und der Rekrut, der im Herbst von der heimathlichen Scholle zu den Waffen gerufen ist, dem alle Freuden des militärischen Lebens bevorstehen, freut sich auf nichts so sehr als auf den ersten Urlaub,

Und sein erster Urlaub ist der Weihnachts-Urlaub.

Das heißt: nur dann, wenn er denselben bekommt.

Ob er ihn bekommt? Das ist die große Frage — im Vergleich mit der „Sein oder nicht Sein” das reine Puppenspiel ist. Ob man ist oder ob man nicht ist, das ist ganz gleichgültig, aber ob man auf Urlaub fährt, oder ob man in der Kaserne zurückbleiben muß, das ist wenigstens für die, die es angeht, von welterschütternder Bedeutung.

Auf dem Kasernenhof stehen die Rekruten und üben Griffe: „Gewehr über”, „Gewehr ab” — „Gewehr über”, „Gewehr ab”.

Der Unteroffizier steht vor der Front und sieht zu, wie seine Kinder greifen.

Da fährt er plötzlich auf einen Mann seiner Korporalschaft los: „Das ist schlapp, mein Sohn, das ist mächtig schlapp, das ist überhaupt garnichts, ein neugeborenes Kind hat mehr „Murr” in den Knochen als Sie. Und mit solchen Griffen wollen Sie auf Urlaub fahren, in der Heimath den feinen Mann spielen und mit Ihren Kenntnissen renommiren, Herzen brechen und sich am Weihnachtskuchen den Magen verderben? Das möchten Sie wohl — aber ich möchte einmal die Gesichter sehen, die sie zu Hause machen, wenn Sie mit solchen Griffen ankommen.”

„Ich nehme doch meine Griffe gar nicht mit nach Haus und mein Gewehr doch auch nicht, sondern gebe es wie jeder Urlauber an den Schießunteroffizier ab,” denkt der Rekrut — oder richtiger gesagt, er will es denken, denn der Gedanke: „nun kommst Du nicht auf Urlaub,” läßt gar keinen anderen Gedanken aufkommen.

Und auf Urlaub will er, auf Urlaub muß er. Vater und Mutter und die Anna, die er so liebt und die er heirathen will, wenn er vom Kommiß frei ist, sitzen zu Hause und warten auf ihn. Er hat es ihnen fest versprochen, zu kommen, und was der Mensch verspricht, muß er auch halten.

Sein Vater ist auch Soldat gewesen und hat tapfer in dem letzten Kriege mitgekämpft, er kennt den „Soldaten-Rummel” in- und auswendig.

An dem Tage, da sein Sohn eintrat, hat er ihm eine schöne Rede gehalten: „Sieh mal, mein Sohn, ob Du nun just so wie ich Gefreiter oder gar Unteroffizier wirst, das kann man ja nicht im Voraus wissen. Aber richte Dich so ein, daß Du zu jedem Feste auf Urlaub kommst, das steht bei Dir, — wenn Du nicht kommst, ist das ebensoviel, als wenn Du früher ein schlechtes Schulzeugniß mit nach Haus brachtest. Und wie Du bei solchen Gelegenheiten das Leder voll bekamst, so soll es auch bleiben — kommst Du Weihnachten nicht, so kriegst Du was in die Jack, wenn Du kommst — und wenn Du garnicht kommst, — dann komme ich.”

An dies Alles denkt der arme Rekrut und er nimmt sich vor, sich mit seinen Griffen zu bessern. Abends von 6 bis 7 Uhr ist Putz- und Flickstunde, in der die Uniformen genäht, gereinigt und blank geputzt werden, daß das Weltall sich darin spiegeln kann, — ist dieser Dienst beendet, dann ist Feierabend, dann sollen die Waffen ruhen.

Aber der junge Rekrut, dem der Urlaub zu Wasser zu werden droht, obgleich sonst Alles bei der strengen Kälte gefriert, zieht sich um 7 Uhr noch einmal seinen „fünften” Rock an, schnallt das Lederzeug mit den beiden Patronentaschen um die „Herberge für Kommißbrot”, wie der Soldat seinen Magen nennt, stellt sich vor den in jeder Mannschaftsstube befindlichen großen Spiegel, damit er seine Fehler, die er macht, selbst sehen und selbst verbessern kann und „klopft” Griffe, daß die Erde zittert.

Nach einer Stunde, während der von der Stirne heiß der Schweiß geflossen ist, nimmt er „Gewehr ab und rührt”. Rühren heißt für den Soldaten sich ausrichten und den Anzug in Ordnung bringen. Nach sich selbst kann sich aber kein Mensch ausrichten, so begnügt er sich denn damit, seinen Anzug in Ordnung zu bringen. Er schiebt die Mütze gerade, daß die Kokarde gerade über der Nasenspitze sitzt, rückt die Patronentaschen zurecht und wirft noch einen letzten langen Blick in den Spiegel. Dann nähert er sich dem „Unteroffizier-Verschlag”, dem Raum des Unteroffiziers, der durch quergestellte Spinde und durch einen Kattun-Vorhang von der Mannschaftsstube abgetrennt ist.

„Ich bitte eintreten zu dürfen.”

„Wer ist da?”

„Musketier Petersen.”

Eine Sekunde später steht er vor dem Gestrengen. Beim ersten Griff „vergreift” er sich natürlich, das ist immer so, wenn man etwas vormachen soll, dann aber findet er seine Ruhe und Sicherheit wieder.

„Na, es ist gut, mein Sohn, Sie geben sich Mühe, das ist lobenswerth, dann können Sie dieses Mal noch auf Urlaub fahren, — aber daß Sie meiner Korporalschaft keine Schande machen!”

Freudig eilt der Gelobte von dannen — er ist nach seiner Meinung nun schon so gut wie zu Hause — und doch hat der Korporalschaftsführer natürlich gar keinen Einfluß darauf, ob ein Mann auf Urlaub fahren soll oder nicht. Das braucht der Rekrut aber gar nicht zu wissen, für ihn muß Alles, was der Korporal sagt, das Evangelium sein, an dem sich nicht rütteln und rühren läßt. Die Disziplin erfordert dies — geräth erst die in's Schwanken, dann ist es mit der Armee „alle baballe”, wie die Kinder sagen.

Wer reisen soll, das bestimmt aber der Hauptmann, der kennt seine Kindlein in- und auswendig, der weiß nicht nur, was sie im Dienst leisten, sondern er kennt auch ihre geheimsten Ansichten und Meinungen.

Wer sich brav geführt hat, der fährt, und wer ein Schlingel gewesen ist, sich im Arrest herumgetrieben hat, anstatt seinen Dienst zu thun, der bleibt in der Kaserne, höchstens bekommt er am Weihnachtsabend „Stadturlaub”, um mit seiner wirklichen oder seiner sogenannten Cousine — die Gelehrten sind sich darüber nicht einig, welche der beiden Cousinen die bessere ist — den heiligen Abend zu verleben.

Die Anderen aber reichen „korporalschaftsweise” ihren Uralub nach der Heimath ein, wenn der Feldwebel Mittags bei der Parole aus seinem dicken Notizbuch vorgelesen hat: „Kompagnie-Befehl: Diejenigen, die auf Urlaub zu fahren wünschen, haben ihr Gesuch bis heute Abend um 6 Uhr ihrem Korporalschaftsführer einzureichen. Es giebt Urlaub vom 23.Dezember bis zum 2.Januar, Abends 12 Uhr.”

Herrgott, das sind ja elf ganze Tage — elf Tage keine Gewehrgriffe, keinen langsamen Schritt, kein Schießen mit scharfen Patronen, bei dem man als Rekrut beständig ein Loch nach dem anderen in die Natur schießt, das heißt das Ziel fehlt, elf Tage lang keine „Kommißbollen” tragen zu brauchen, sondern in „Extra-Stiefeln und Extra-Sachen” einherlaufen zu können, das ist ja mehr, als man je zu erwarten gehofft hatte.

Uebermuth und Freude spricht aus allen Zügen. Die Mutter der Kompagnie setzt aber gleich einen kleinen Dämpfer darauf: „Noch habt Ihr den Urlaub nicht — freut Euch nicht zu früh.”

Aber sie freuen sich doch, sie sind, wie das vierfache F der Turner besagt: frisch, fromm, fröhlich und „vergnügt”.

Die Aussicht auf den Weihnachts-Urlaub wirkt Wunder: die „schlappsten” Kerls werden Riesen an Kraft und Ausdauer — die krümmsten Beine werden gerade — die dicksten Kniee können plötzlich nach hinten durchgedrückt werden, die Lahmen werden zu Schnellläufern, und wenn der Offizier oder Unteroffizier ruft, dann „flutscht” das nur so.

Und endlich ist der Urlaubstag da.

Morgens von sieben bis acht ist wie stets an den Tagen, da der Offizier nicht selbst instruirt, Instruktion durch die Unteroffiziere gewesen. Das Thema lautet: „Verhalten auf Urlaub.” Da ist Alles noch einmal ganz genau durchgesprochen worden, wo und wann sich Jeder zu melden hat, wie er sich verhalten muß, wenn er „auf Urlaub krank” wird, von wem das Attest geschrieben sein muß: natürlich vom Menschen-Doktor und nicht vom Pferde-Doktor, obgleich Mancher von Euch mehr Aehnlichkeit mit einem Roß hat, als Ihr es selbst zu glauben scheint. Und dann mit der Zugverspätung: daß mir Keinem von Euch der Zug im Schnee stecken bleibt, wenn Euer Urlaub zu Ende ist — das kenne ich, das ist immer gelogen, das weiß ich aus eigener Erfahrung, ich bin auch einmal im Schnee stecken geblieben, das heißt ich steckte wirklich fest,” lügt er sich heraus, „und dann muß man sich von dem Stations-Vorsteher eine schriftliche Bescheinigung geben lassen, daß der Zug wirklich aus den und den Gründen zu spät gekommen ist, — denn Ihr habt zwar verdammt schafsdämliche, aber keine so ehrlichen Gesichter, daß man Euch so ohne Weiteres glauben könnte. Und das sage ich Euch, daß Ihr in die rothen Aufschläge von den dritten Röcken, die anzuziehen Euch erlaubt ist, keine Bier- oder Fettflecken hineinbekommt, lieber verzichtet noch in der letzten Minute auf Eure Reise, denn das sage ich Euch, wer seinen dritten Rock „versaut”, dem wäre besser, er wäre nie geboren. Und wenn es auf der Straße schmierig ist, schlagt mir die Hosen schön um und zieht sie vorschriftsmäßig in die Höh', damit Ihr sie unten nicht durchstoßt wie ein Frauenzimmer, das sich auf dem Tanzboden die Plisseefalten durchgepedalet hat. Na, überhaupt, es ist man ein Glück, daß ich Euch nicht sehen kann; ich glaube, wir würden da Alle keine Freude nicht daran haben.

„Aufhören — wegtreten lassen,” ruft vom Korridor her der die Aufsicht führende Rekruten-Offizier.

Alles eilt an die Spinde, um sich zum Exerzieren fertig zu machen — bis elf Uhr ist Dienst, aber Keiner hat heute rechte Lust, auch der Offizier nicht, dessen Zug schon um elf einhalb Uhr geht, und der „krummer Hund” schimpft, daß er sich noch bis zum letzten Augenblick „schinden” muß.

Aber sein Schimpfen ist nicht so bös gemeint; er denkt sich nichts dabei.

Um zehn Uhr kommt der „Häuptling” und schlägt dem Lieutenant vor, mit dem Dienst aufzuhören, „heute würde doch nichts Ordentliches daraus — lieber gar keinen Dienst als halben.”

Der Lieutenant findet plötzlich, daß sein Hauptmann doch ein sehr verständiger Mensch ist, er ruft seine Leute zusammen, wünscht ihnen vergnügte Feiertage, meldet sich bei seinem Vorgesetzten und stürmt dann nach Haus, um sich davon zu überzeugen, ob sein Bursche beim Kofferpacken auch nicht zu großen Blödsinn macht.

Auch die Leute packen ihren Koffer, d.h. ihren Tornister, für den Sodaten paßt das Wort: omnia mea mecum porto. Sein Geld — und ohne Geld kann auch kein Soldat reisen, obgleich die Militär-Billets so gut wie nichts kosten — trägt er wohlverwahrt in einem ledernen Brustbeutel, den er sich in der Kantine bei seinem Diensteintritt für fünfzig Pfennig erstanden hat, um den Hals. Was er sonst noch braucht, kommt in den Tornister: Wäsche, Putzsachen, Drillichanzug. Und fast jeder Soldat, der auf Urlaub fährt, nimmt den Rest seines Kommißbrotes mit. Daß die Extra-Sachen nicht fehlen dürfen, ist selbstverständlich. Die Mütze wird in die Mützen­schachtel gelegt und damit diese sich besser tragen läßt, wird sie in ein möglichst großes, buntes Taschentuch eingeschlagen.

Dann wird „die Bundeslade auf den Puckel gepackt”, der Tornister umgehängt, der Zylinder, Helm genannt, auf den Kopf gesetzt und nun kann die Reise losgehen.

Nein, noch nicht.

Erst kommt noch ein Appell, bei dem der Feldwebel die Urlaubspässe austheilt und jeden Einzelnen mit einer Genauigkeit prüft und mustert, als sollte Jeder direkt vor Se. Majestät hintreten.

„Auch ein reines Hemde an?”

„Zu Befehl, Herr Feldwebel.”

„Auch ein Loch im Strumpf?”

„Zu Befehl, Herr Feldwebel.”

Die Kompagnie lacht über diesen .... [teilweise unleserlich. D.Hrsgb.] Witz und da erst merkt der Gefragte, daß er hineingefallen ist.

„Stillgestanden, Augen links!”

Der Herr Hauptmann ist gekommen, und er mustert noch einmal einen jeden seiner Unterthanen, ermahnt sie dann nochmals in kurzen Worten, sich gut zu betragen, der Kompagnie keine Schande zu machen. Und nun: „Adieu, Leute.”

„Adieu, Herr Hauptmann.”

Und nun stürmen sie davon, die Treppen hinunter, einer den Anderen überholend, über den Kasernenhof, zum Portal hinaus, wo der Posten ihnen wehmüthig nachschaut, hin nach dem Bahnhof, wo bald der Zug einläuft, der sie nach der Heimath führt.

So fahren sie zum ersten Male im bunten Rock der väterlichen Scholle entgegen, und Vater und Mutter können sich nicht satt sehen an ihrem Jungen, so groß und stark und schön ist er geworden, und die Anna ist so stolz auf ihn, als wäre er ein Fürst und von Neuem schwört sie ihm ewige Liebe und so herrscht eitel Freude und eitel Lust überall.

Ja, ja, solch' Weihnachtsurlaub ist schön und käme es auf die Urlauber an, so dauerte er ewig, ewig und er wäre endlos, wie in mancher Weise ein Gedankenstrich —


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