Das Kasernengespenst.

Eine Besichtigung von A-Z.

V.
Die Vorgesetzten kommen.

Von Freiherrn von Schlicht.
in: Der höfliche Meldereiter und
in: Das Kasernengespenst.


Der große Tag ist da, oder richtiger gesagt, er steht vor der Tür. Morgen ist die Besichtigung, aber heute abend werden die hohen Herren schon erwartet, mit dem Abendzug kurz nach sechs Uhr werden sie in der Garnison eintreffen.

Und alle werden sich freuen, wenn sie erst wieder fort sind.

Aber vorläufig ist es leider noch nicht so weit, sie werden erst noch erwartet, und man trifft die letzten Vorbereitungen zu hrem Empfang.

Zu dem, was in letzter Linie zu dem Empfang gehört, gehört in erster Linie der Dopelposten, der vor dem Hotel aufziehen muß, in dem der Herr General und die Exzellenzen Wohnung nehmen werden.

Dem Hauptmann der Königlichen Zweiten ist der ehrenvolle Auftrag zuteil geworden, die Doppelposten zu stellen, und so oft er es auch schon im Laufe seiner langen, ruhmreichen militärischen Laufbahn bedauert hat, geboren zu sein, so lebhaft wie heute hat er das noch nie getan. Er läßt sein ganzes bisheriges Leben im Geiste an sich vorüberziehen, er ist sich keiner Schuld bewußt, und vergebens fragt er sich, warum gerade ihm diese Ehre zuteil wurde.

So ehrgeizig er auch sonst ist, diese Ehre hätte er billig verkauft, er würde sogar noch etwas drauf zahlen, um sie wieder los zu werden.

Je weniger man mit den hohen Vorgesetzten in Berührung kommt, desto besser ist es, und nun sollen Tag und Nacht beständig zwei Leute seiner Kompagnie vor dem Hotel Posten stehen. Exzellenz wird die Leute nicht nur einmal, sondern zehnmal sehen. Was ihm am Anfang entgeht, wird er später desto sicherer bemerken, irgend etwas findet er bestimmt zu tadeln, und was ihm entgeht, sehen die Adjutanten, der Herr General, die General­stabs­offiziere und alle, die da sonst noch in der Nähe und in der Begleitung Sr. Exzellenz kreuchen und fleuchen.

Für alles aber, was die anderen an einem Mann seiner Kompagnie entdecken, sei es ein schlechter Griff oder ein mäßig geputzter Knopf, ein zu langes Hosenbein oder ein schmutziger Stiefel, für alles ist der Hauptmann ganz allein verantwortlich.

Er hat die ganze Nacht vor Aufregung nicht geschlafen, und vergebens versuchte die Gattin, ihn bei dem Frühstück zu trösten — sie hat ihm die Wangen und die Butterbrote gestrichen, aber es half alles nichts, seine Laune ist dahin, und sie bleibt perdu, bis die hohen Vorgesetzten wieder davon sind.

Und als er heute morgen zur Kaserne ging, fuhr ein großer Kompagniewagen an ihm vorbei, und auf dem lagen die beiden Schilderhäuser, die unter der Aufsicht eines Unteroffiziers vor dem Hotel Sr. Exzellenz aufgestellt werden sollen.

Als er die Karre sah, war ihm zumute, als ob die Guillotine da an ihm vorbeigefahren würde — die Guillotine, auf der er sein junges, blühendes Leben aushauchen soll.

Aber er will noch nicht sterben, er hat es seiner Frau fest versprochen, und was man verspricht, muß man auch halten.

So steht er denn jetzt auf dem Kasernenhof und übt mit den sechs Mann, von denen immer zwei zusammen Posten stehen, und die sich alle zwei Stunden ablösen werden, den mit Recht und Unrecht so beliebten Garnisonwachtdienst.

Dem Hauptmann ist dabei ganz elend zumute und den Kerls erst recht, denn die freuen sich absolut nicht, daß gerade sie von allen Leuten des Regiments für das Postenstehen ausgesucht sind. Das ist schon im allgemeinen kein Vergnügen und im besonderen erst recht nicht. Jeder Soldat liegt lieber des Nachts im Bett, als daß er mit dem Gewehr unter dem Arm vor seinem Schilderhaus auf und ab rennt und voller Ungeduld auf die Minute wartet, in der die Ablösung kommt.

Und in diesem besonderen Falle ist das Postenstehen erst recht kein Genuß. Wenn Fürstlichkeiten zu Besuch kommen, erhalten die Ehrenposten hinterher immer ein Goldstück, wenn aber Exzellenzen kommen, erhalten die Doppelposten hinterher fast immer, nein, das ist zu viel gesagt, aber sehr häufig, drei Tage Arrest.

Das ist schmerzhaft, sowohl für die Leute, die die Strafe verbüßen, als auch für den Hauptmann, der natürlich infolge der schlechten Ausbildung, die er nach Ansicht der Höheren seinen Leuten hat zuteil werden lassen, ganz allein daran schuld ist, daß die Kerls bestraft werden mußten.

Wenn irgendmöglich, sollen die Posten dieses Mal ihre Sache so gut machen, daß sie anstatt des Arrestes nur einen Anschnauzer bekommen. An ein Lob wagt niemand zu denken.

So wird denn jetzt der Wachtdienst geübt.

Mit ihren Stiefelabsätzen haben die Kerls in den Sand jeder ein Quadrat gezogen, das das Schilderhaus markiert, und immer zu zweien laufen sie nun vor ihren Quadraten auf und ab.

Und wie die Quadrate die Schilderhäuser, so markiert der Herr Hauptmann Se. Exzellenz.

Lieber wäre es ihm natürlich, wenn er in Wirklichkeit Exzellenz wäre, aber ob er es jemals so weit bringt, ist mehr als ungewiß. So begnügt er sich denn damit, seine Rolle so gut wie nur irgendmöglich zu spielen.

Natürlich kann er als Exzellenz nicht eine Stunde nach der andern vor dem Posten auf und ablaufen, sonst müßten die ja beständig unter präsentiertem Gewehr stehen bleiben, und er käme gar nicht dazu, sie anzuschnauzen, wenn sie einen schlechten Griff machen. So spielt er denn eine Soloszene, der man den Titel geben könnte: „Ein Tag im Leben einer Exzellenz.”

Beständig ruft er dem Posten etwas zu: „Ich komme nach Haus, und zwar von rechts. Ich gehe in das Hotel hinein. Ich bin in meinem Zimmer. Ich sehe zum Fenster hinaus. Ich trete zurück und lese die Zeitung. Ich gehe aus. Ich schicke meinen Adjutanten. Ich spreche euch an. Ich winke euch ab. Ich sehe zu, wie ihr abgelöst werdet.”

Der Hauptmann gebiert Ideen mit der Fruchtbarkeit eines wahnsinnig gewordenen Kaninchens, und die Mannschaften müssen dann sofort wissen, was sie zu tun haben. Die Hauptsache ist (man staunt beim Militär wirklich über die Hauptsachen), daß die Kerls sich immer beobachtet wissen, deshalb sieht der Hauptmann Exzellenz egal zum Fenster hinaus.

Oder aber, die Kerls müssen beständig Griffe machen, deshalb geht der Hauptmann Exzellenz fortwährend im Hotel ein und aus oder schickt einen seiner Adjutanten.

Wenn der Doppelposten einen Griff machen soll, so ist das nicht so einfach, wie der Laie sich das denkt. Die beiden Leute patrouillieren, wenn kein Vorgesetzter zu sehen ist, auf und ab, blicken nach rechts und nach links, und wenn ihnen das zu langweilig wird, blicken sie nach links und nach rechts. Das ist beinahe dasselbe, aber in dem ewigen Einerlei des Postenstehens ist es doch eine große Abwechslung.

Mit vereinten Kräften und Augen späht der Doppelposten aus, ob nicht ein Vorgesetzter kommt, und jetzt erscheint wirklich einer am Horizont.

Nun beginnt eine wahnsinnig aufregende Tätigkeit: Sie dürfen den Offizier nicht aus den Augen lassen, sie müssen jeden seiner Schritte beobachten, genau aufpassen, ob er nach rechts oder nach links geht, ob er unterwegs noch vor einem Schaufenster oder im Gespräch mit einem Bekannten stehen bleibt, und nicht in letzter Linie darauf, ob er schnell oder langsam geht. Das alles hat seine ganz tiefe Bedeutung, denn der Mann darf seine Ehrenbezeugung nicht zu früh, aber auch nicht zu spät erweisen. Wenn der Vorgesetzte nur noch sechs Schritte entfernt ist, muß der Griff fertig sein. Und man muß seine Maßnahmen treffen können, damit das auch alles klappt.

So lange der Vorgesetzte noch weit entfernt ist, läßt sich der Posten anscheinend, aber auch nur anscheinend, in seinem Lebenswandel gar nicht stören. Er patrouilliert ruhig weiter, hat dabei aber immer seine Augen auf den Herannahenden gerichtet, bis es endlich Zeit wird, an die Ehrenbezeugung zu gehen.

Wer da glaubt, daß der Mann sich nun einfach neben sein Schilderhaus stellt und präsentiert, der irrt sich sowohl, als auch.

Wenn es soweit ist, eilt jeder Mann des Doppelpostens mit schnellen, lebhaften Schritten neben sein Schilderhaus und stellt sich so dort hin, daß er dem Vorgesetzten vorläufig den Rücken zukehrt. Dann richtet sich jeder mit dem Schilderhaus scharf aus. Stimmt die Richtung, dann gibt der eine Mann des Postens ein Zeichen: „Pscht!” und auf diesen Laut hin machen beide eine stramme Kehrtwendung, so daß sie nun dem Herankommenden jene Seite zukehren, die man im allgemeinen die schönere nennt. Wie aus Erz gegossen, stehen die beiden Kerls jetzt eine Sekunde da, nicht, um sich von der Anstrengung der Kehrtwendung zu erholen, sondern sich durch einen leisen, verstohlenen Blick davon zu überzeugen, ob sie auch jetzt noch genau mit dem Schilderhaus ausgerichtet sind. Dann gibt der eine Mann wieder ein Zeichen, und a tempo präsentieren sie das Gewehr, während sie zugleich den Herankommenden mit offenen, freien Augen frisch, fromm, fröhlich und vergnügt ansehen.

(Ich bemerke ausdrücklich, daß das Reglement allerdings die Frömmigkeit nicht vorschreibt.)

Unter präsentiertem Gewehr bleiben die Leute stehen, bis der Vorgesetzte mit ihnen in gleicher Höhe ist, und dann bleiben sie weiter stehen, bis er sechs Schritt an ihnen vorüber ist. Dann erst nehmen sie das Gewehr wieder auf die Schulter und patrouillieren von neuem auf und ab, bis irgendwo am Horizont ein anderer Vorgesetzter auftaucht.

Und dann geht die Geschichte von neuem los.

In erster Linie, um nicht zu sagen, in der Hauptsache, kommt es natürlich darauf an, daß die beiden Leute den Griff gleichzeitig machen, daß der eine nicht damit anfängt, wenn der andere damit fertig ist, und ferner ist es sehr wichtig, daß die beiden Gewehre in gleicher Höhe und in gleicher Linie stehen. Auch für die Gewehre gibt es nur eine Richtung, und das ist die Richtung.

Das alles muß geübt werden, immer und immer wieder, bis es endlich klappt; und wenn es klappt, dann muß es wiederholt werden, damit man sieht, ob es wirklich klappt, oder ob das Klappen nur ein Zufall war.

Der Hauptmann(1) geht in dem Hotel, das seine Phantasie auf den Kasernenhof zaubert, immer noch aus und ein, er läßt seine Kerls einen Griff nach dem andern machen, und wenn der schlecht ist, denkt er: Na, wenn er heute abend auch so schlecht ist, na, denn gute Nacht! Und ist der gut, dann denkt er: Na, wenn der heute abend nicht so gut ist, na, denn gute Nacht!

Er kommt aus dem Gutenachtsagen, obgleich es hellichter Mittag ist, gar nicht heraus.

Am liebsten würde er die Kerls überhaupt nicht vom Kasernenhof herunterlassen, sondern den Wachtdienst beständig weiter üben, aber das geht ja nicht. Aber er übt, so lange es irgend geht, und als er sie endlich fortschickt, tut er es nur der Not gehorchend, nicht dem eignen Triebe.

Aber der Hauptmann ist nicht der einzige, der die letzten Vorbereitungen zum Empfang der hohen Vorgesetzten trifft. Die versammelten Leutnants tun das auch. Die sitzen im Kasino bei dem Frühstück zusammen, und als Begrüßungsarie für die, die da kommen sollen, geht ein großes Fluchen durch die Natur. Es hilft zwar nichts, aber es erleichtert des Menschen Herz, und so schimpfen denn die Leutnants das Blaue vom Himmel herunter, und als sie das unten haben, versuchen sie den Himmel selbst herunter zu schimpfen. Sie fluchen auf die Vorgesetzten im allgemeinen und auf die, die da kommen sollen, im besonderen. Es gibt nichts, was man ihnen nicht an den Hals wünscht, und das Schlechteste ist für sie noch nicht schlecht genug.

Keine Mutter kann für ihr krankes Kind inniger beten, als es in diesem Augenblick der jüngste Leutnant dafür tut, daß die Vorgesetzten unterwegs ein Eisenbahn­unglück erleben. Natürlich sollen sie dabei keinen Schaden an ihrem Leib oder an ihrer Gesundheit nehmen, nur kommen sollen sie nicht.

Der Leutnat ist noch jung, so betet er weiter und weiter, denn er glaubt noch an die Macht des Gebetes. Er weiß noch nicht, daß es mit den militärischen Gebeten seine eigene Bewandtnis hat. Die werden nie erhört, und das ist im Interesse der Armee und der Vorgesetzten auch sehr gut.

Aber die Leutnants fluchen nicht alleine, die Hauptleute und die Stabsoffiziere fluchen auch, und der Herr Oberst flucht am allermeisten, daß die Exzellenzen schon wieder zur Besichtigung kommen, anstatt ihm Zeit zu lassen, sei Regiment in aller Ruhe wirklich kriegsgemäß auszubilden.

So fluchen sie alle, und die fluchen weiter und immer weiter, bis die Stunde kommt, in der die Vergesetzten nahen.

Se. Exzellenz, der kommandierende General, hat den Wunsch geäußert, es möge niemand zum Empfang auf dem Bahnhof sein. Da die höchste Exzellenz diesen Wunsch hat, muß die zweithöchste ihn natürlich auch haben, und der Herr General, der doch gar nicht Exzellenz ist, sondern es erst wird, wenn er es wird, erst recht.

Ein Empfang findet nicht statt, wohl aber hat Se. Exzellenz, der kommandierende General, geäußert, er werde sich sehr freuen, wenn einige Herren des Regiments am Abend in sein Hotel kämen, um dort in seiner Gesellschaft (aber nicht auf seine Kosten) ein Glas Bier zu trinken; und da die höchste Exzellenz sich darüber freuen würde, so würde sich die zweithöchste Exzellenz, der Herr Divisions­kommandeur, natürlich auch darüber freuen, und der Herr General erst recht.

Der Herr Oberst hat diesen Vorgesetzten­wunsch seinen Offizieren mitgeteilt und darauf hingewiesen, wie es wohl selbstverständlich wäre, daß alle Herren sich abends im Hotel einfänden, alle, selbst die Leutnants. Nur die Fähnriche brauchen nicht zu erscheinen; und so mancher, der sich sonst die Generalshosen wünscht, gäbe viel darum, wenn er heute wieder Fahnenjunker wäre.

Alle stöhnen, aber was hilft das! Se. Exzellenz, der kommandierende General, hat dem Offizierkorps mitteilen lassen, daß er am Abend ungefähr um acht Uhr das erste Glas Bier trinken werde. Der Herr Divisions­kommandeur hat sagen lassen, er werde ebenfalls um acht Uhr den ersten Durst verspüren, und der Herr General, der dafür bekannt ist, daß er sonst schon spätestens um sieben mit dem Abendschoppen beginnt, hat erklärt, auch er werde um acht Uhr die erste Blume trinken.

Bereits zwanzig Minuten vor acht ist das ganze Offizierkorps, vom jüngsten Leutnant bis hinauf zu dem Herrn Oberst, in dem Restaurant des Hotels versammelt, aber natürlich wagt es keiner, sich hinzusetzen, und noch weniger hat einer den Mut, sich ein Glas Bier zu bestellen. Nur ein Leutnant macht eine Ausnahme. der findet an dem Soldatenspielen kein Vergnügen mehr und möchte gern einen anderen Beruf ergreifen, aber sein Vater erlaubt es nicht. Nun legt er es schon seit einiger Zeit mit aller Gewalt darauf an, daß er zum Abschied eingegeben wird, und so bestellt er sich denn jetzt ein Glas Münchener.

Alle sind starr, und niemand begreift, woher der Kamerad den Mut nimmt. Feige sind sie alle nicht, und wenn es einmal wieder zum Kriege kommt, werden sie, ohne mit der Wimper zu zucken, im dichtesten Kugelregen dem Feinde entgegenstürmen. Aber sich jetzt ein Glas Bier zu bestellen! Das ist mehr als mutig, das ist tollkühn, und das darf man nicht sein, man darf sein Leben nicht unnötig aufs Spiel setzen, denn das Leben des Soldaten gehört dem König, und königliche Utensilien dürfen nicht mutwillig zerstört werden.

Das Glas Bier ist bestellt, aber es kommt nicht, denn der Kellner hat früher während seiner militärischen Dienstzeit im Offizierskasino als Ordonnanz serviert, und da weiß er ganz genau, daß er einem Leutnant nichts bringen darf, bevor die Exzellenz nicht bedient ist.

Mit dem Glockenschlag acht Uhr öffnet sich die Tür, und die ganzen hohen Vorgesetzten erscheinen.

Natürlich hat der kommandierende General es ganz genau gewußt, daß alle Offiziere des Regiments ihn hier erwarten, trotzdem aber spiegelt sich jetzt in seinen Zügen ein grenzenloses Erstaunen darüber, daß alle da sind. Er kann zuerst gar keine Worte finden:„Aber meine Herren — nein wirklich — ich weiß gar nicht, was ich sagen soll — Sie beschämen mich ja geradezu, nicht wahr, Exzellenz?”

Fragend wendet er sich an den Divisions­kommandeur. Auch der ist anscheinend auf das höchste überrascht, und der General ist es natürlich erst recht, denn wenn eine Exzellenz sich wundert, muß er es doppelt und dreifach tun, sonst könnte er leicht in den Verdacht geraten, klüger zu sein, als Exzellenz es nicht ist, und seine Klugheit wäre dann eine kolossale Dummheit.

Wenn der Präsident der Vereinigten Staaten in Amerika großen Empfang hat, gibt er allen selbst die Hand, selbst wenn viele Tausende kommen. Beim Militär wird der Händedruck chargenmäßig verteilt. Der kommandierende General begrüßt die Stabsoffiziere, der Divisions­kommandeur die Herren Hauptleute und der General die Leutnants.

Dann nimmt man ganz ungezwungen, aber natürlich trotzdem streng nach der Anciennität, an der langen Tafel Platz. Oben sitzen die Exzellenzen, dann kommt der Herr General, dann der Herr Oberst, und so geht das weiter herunter bis zum jüngsten Leutnant.

Gleich darauf beginnt die gemütliche Abendunterhaltung. Der kommandierende General fängt an zu erzählen, und vom Divisions­kommandeur bis herab zum jüngsten Leutnant hören alle aufmerksam zu.

Niemand wagt ein Lebenszeichen von sich zu geben, selbst die Kellner schleichen lautlos auf den Fußspitzen einher.

Der kommandierende General ist ein leidenschaftlicher Nichtraucher, trotzdem sagt er jetzt: „Meine Herren, ich bitte Sie, sich in keiner Weise zu genieren, wenn Sie rauchen wollen.”

Die Exzellenz, der General, sowie die Adjutanten zünden sich ihre Zigarre an, und auch die Offiziere des Regiments greifen in die Rocktasche, um die Zigarren hervorzuholen. Da läßt der Oberst einen Blick über die Tafelrunde gleiten, nur einen, aber der genügt. Die Zigarren bleiben, wo sie sind, nur der Leutnant, der es darauf anlegt, verabschiedet zu werden, zündet sich ostentativ eine große Festnudel an.

Der kommandierende General sieht es, und anscheinend sehr jovial ruft er ihm zu: „Sie sind wohl ein leidenschaftlicher Raucher?”

„Zu Befehl, Exzellenz!” klingt es zurück, und der Leutnant weiß. seine Chancen, bald nicht mehr Offizier zu sein, sind um ein Bedeutendes gestiegen.

Und die gemütliche Abendunterhaltung nimmt ihren Fortgang. Der kommandierende General erzählt aus dem reichen Schatz seines Wissens, seiner Erfahrungen und Erinnerungen, und andächtig lauschen alle. Von Zeit zu Zeit trinken sie einen Schluck, um nicht einzuschlafen. Für sein Leben gern möchte ein Hauptmann sich ein Beefsteak bestellen, denn er hat einen Mordshunger, aber er wagt es nicht, nach dem Kellner zu rufen, und er hat nicht den Mut, zu essen, während Exzellenz so geistvoll erzählt.

Die Leutnants, die ganz unten sitzen, müssen sehr angestrengt zuhören, damit sie auch jedes Wort Sr. Exzellenz verstehen. Jede Anstrengung aber macht müde, und so halten sie sich denn gegenseitig wach, indem sie sich unter dem Tisch mit den Beinen anstoßen, wenn sie merken, daß einer einnicken will.

Leise und verstohlen sieht einer nach der Uhr. Nach seiner Überzeugung sitzt er schon eine Ewigkeit hier, es muß bald halb elf sein. Aber als er jetzt auf den Zeiger blickt, packt ihn das Entsetzen. Es ist noch nicht einmal neun, und ehe er es verhindern kann, entfährt ihm der Ausruf: „Allmächtiger Gott!”

Der kommandierende General hat es gehört, er hält im Sprechen inne und wendet seine Blicke und sein Interesse dem Leutnant zu: „Sie sind krank, junger Freund? Sie sehen ganz blaß aus, was ist Ihnen?”

Der Leutnant hat sich von dem Schrecken, daß es noch nicht neun ist, und daß er hier wenigstens noch drei Stunden sitzen muß, immer noch nicht erholt. Das Entsetzen lähmt ihm die Stimme, so stottert er denn jetzt: „Mir fehlt nichts, Exzellenz — aber ich weiß nicht — mir wurde mnit einemmal so sonderbar — so ganz anders, als sonst.”

„Vielleicht gehen Sie einen Augenblick nach nebenan,” meint Exzellenz wohlwollend. „Einer Ihrer Kameraden begleitet Sie sicher gerne und bleibt so lange bei Ihnen, bis Sie wieder zu uns zurückkommen können.”

Mehr als zwölf Leutnants springen auf, um dem kranken Kameraden zu helfen, und um ihn zu stützen.

Und kaum sind sie mit ihm draußen, da tanzen sie vor Vergnügen alle einen Cakewalk, bis plötzlich einer sagt: „Kinder, das geht nicht. Wenn sechs von uns dem guten Aberg Gesellschaft leisten, ist das mehr als genug. Die anderen sechs müssen wieder in den Saal zurück.”

Aber keiner will zu den anderen sechs gehören, jeder will hierbleiben.

Endlich sehen sie ein, daß wirklich einige von ihnen zurück müssen. So lassen sie denn das Los entscheiden, und die da ein Niete ziehen, schleichen betrübt und traurig von dannen.

Die anderen aber bemühen sich um den kranken Kameraden und gießen ihn und sich selbst so voll Kognak, daß sie bald anfangen, lustig und guter Dinge zu werden.

Unterdessen nimmt nebenan die gemütliche Abendunterhaltung ihren Fortgang. Der kommandierende General erzählt immer noch aus dem reichen Schatz seines Wissens, seiner Erinnerungen und seiner Erfahrungen, und andächtig lauschen alle.

Aber mitten in diese Andacht hinein knurrt plötzlich ein Magen, so laut, so flehentlich nach einem Beefsteak schreiend, daß Exzellenz nicht nur mitten im Satz, sondern mitten im Wort innehält.

Der Hauptmann ist vor Entsetzen dem Tode, nicht nur dem Hungertode nahe. Nur eins kann ihn retten: bodenlose Frechheit.

Er lacht plötzlich laut auf und ruft seinem Nachbar zu: „Aber Berken, wie kann man nur!”

Der bekommt einen dunkelroten Kopf. Aber noch bevor er sich verteidigen kann, ruft Exzellenz: „Aber Herr Hauptmann, wenn Sie so hungrig sind, bestellen Sie sich doch ein Beefsteak.” Und gleich darauf nimmt er den Faden seiner Erzählung wieder auf.

Auf den Zehenspitzen nähert sich der Kellner dem Hauptmann Berken: „Ich werde sofort ein sehr schönes Filet bestellen,” und er eilt davon, um den Befehl Sr. Exzellenz au8szuführen.

Und der arme Hauptmann, dessen Magen wirklich knurrte, muß bald darauf zusehen, wie der andere das Beefsteak in sich hineinwürgt, denn der hat keinen Hunger, nicht den allerleisesten, aber der Aufforderung Sr. Exzellenz des kommandierenden Generals wagt er doch nicht entgegen zu handeln.

Ach, und wie schön würde ihm selbst das Filet schmecken! Das Wasser im Munde läuft ihm zusammen. Wenn er dem Nachbar wenigstens heimlich mit einem Streichholz ein paar Bratkartoffeln fortpicken könnte! Das Gehalt eines Monats würde er dafür geben.

Unterdessen pumpen da draußen die jungen Leutnants den Kameraden Aberg, dem sie es verdanken, daß sie nicht drin im Saal zu sitzen brauchen, derartig voll Kognak, daß er plötzlich anfängt, deutliche Spuren schwerer Trunkenheit zu zeigen. Ganz nüchtern sind sie selbst auch nicht mehr. Wenn sie in den Saal zurückkehren, wird man ihnen den Alkohol anmerken. So nehmen sie denn den betrunkenen Kameraden unter den Arm, um ihn nach Haus zu bringen, und instruieren den Kellner dahin, daß er auf Befragen antwortet: Leutnant Aberg hätte von neuem einen Schwächeanfall erlitten, und die Kameraden hätten es mit Rücksicht auf die morgige Vorstellung für besser gefunden, ihn zu Bett zu bringen.

Aber der kommandierende General fragt gar nicht nach dem Leutnant. Er erzählt aus dem reichen Schatz seines Wissens, seiner Erinnerungen und seiner Erfahrungen so interessant, daß ihm die Zeit im Fluge vergeht, bis sein Adjutant, der todmüde ist und endlich zu Bett will, ihn daran erinnert, daß es mit Rücksicht auf die morgige Besichtigung wohl Zeit wäre, an das Schlafengehen zu denken.

Der Kommandierende sieht nach der Uhr: Wahrhaftig, es ist gleich zwölf.

Er erhebt sich von seinem Platz: „Meine Herren, es tut mir leid, nicht länger in Ihrer Mitte weilen zu können, aber ich danke Ihnen nochmals für Ihr zahlreiches Erscheinen. Ich muß wirklich sagen, ich habe mich selten so angenehm und angeregt unterhalten, wie heute abend. Auf Wiedersehen morgen früh, meine Herren!”

Die hohe Generalität verschwindet, und kaum ist die außer Sicht, da verabschiedet sich auch der Herr Oberst, und kaum ist der fort, da verschwinden die Stabsoffiziere, und kaum sind die gegangen, da drücken sich auch die Hauptleute und Leutnants. Nur einer bleibt noch zurück, das ist der Hauptmann mit dem wirklich knurrenden Magen. Nun wird er wirklich ein Beefsteak essen.

Und wie ihm das schmecken soll.

„Kellner, ein Beefsteak, aber ein ganz großes, dazu zwei Spiegeleier und für einen Taler Bratkartoffeln.”

Der Kellner fliegt davon, aber gleich darauf kommt er wieder zurück: „Verzeihung, Herr Hauptmann, aber die Köchin ist bereits schlafen gegangen.”

Mit einem Wutschrei fährt der Hauptmann empor, die Hoffnung auf das Beefsteak hat ihn einzig und allein den ganzen Abend aufrecht erhalten, nun war auch diese Hoffnung wieder eitel.

Er zieht sich die Hosenschnalle strammer und geht wütend nach Haus. Und während er durch die leeren Straßen schreitet, schilt er nicht schlecht auf die gemütliche Abendunterhaltung, die er eben hat durchmachen müssen. Er wünscht sich, daß es die letzte in seinem ganzen Leben gewesen wäre. Aber er weiß ganz genau, daß sich diese Abende noch oft wiederholen werden, denn die Vorgesetzten, die zur Besichtigung kommen, lösen einander ab, wie die Posten vor dem Schilderhause.

Fußnote:

(1) In der Fassung von „Das Kasernengespenst” heißt es hier: „Der Hauptmann-Exzellenz”. (zurück)


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