Der theoretische Herr Oberst.

Humoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Excellenz kommt!”


Dem großen Praktiker war ein großer Theoretiker gefolgt. Der frühere Oberst stammte noch aus der alten Schule, er war Regiments­kommandeur geworden, ohne die Kriegsakademie und den Generalstab besucht zu haben — er hatte sich im Kriege 1870/71 das Eiserne Kreuz erster Klasse erworben und dann schnell Carrière gemacht. „Die Praxis, meine Herren, ist die Hauptsache,” pflegte er zu sagen, „manche Hausfrau kennt Henriette Davidis Kochbuch in- und auswendig und kann doch keine Butter flüssig machen, ohne daß diese anbrennt. So mancher, der sämtliche General­stabs­werke im Kopf hat, kann nicht drei Mann trockenen Fußes über einen Graben führen. Was nützt alle Wissenschaft? Ich habe da einmal eine kleine Geschichte erlebt. Wir hatten in meinem alten Regiment einen Premier­lieutenant, der mit den besten Zeugnissen von der Kriegsakademie zurückkam; er hatte den Generalstab sozusagen in der Tasche. Der wurde eines Tages als Offizier vom Ortsdienst kommandiert, meine Kompagnie stellte die Wache, ich war damals noch Hauptmann. Es goß in Strömen, Mäntel waren vom Regiment nicht befohlen, so zog die Wache denn wie stets im vierten Anzug auf. Mir thaten die schönen Röcke leid, besonders die schönen Aufschläge, denn meine Herren Hauptleute, damals gab es für die Instandhaltung der Sachen noch weniger Geld als heute — Sie lachen und denken: Das ist ja gar nicht möglich, denn weniger als nichts kann es doch nicht geben, aber glauben Sie mir, wir bekamen noch weniger Geld als Sie und unsere Leute mußten auch aussehen wie aus dem Ei geschält, so sauber und adrett. Wie gesagt, mir that meine vierte Garnitur leid, auch die Leute, die in ihr steckten. Da machte ich dem Premier den Vorschlag, er solle die Wache nicht wie sonst vom Kasernenhof abmarschieren lassen, sondern sie in dem großen Portal antreten lassen. Er willigte ein: er ließ die Wachen dort antreten, präsentieren, die Vergatterung schlagen, ds Gewehr wieder übernehmen und dann? Ja, meine Herren, da war seine Wissenschaft Matthäi am letzten! Glauben Sie wohl, daß er die Wache zum Portal herausbekommen hat? Er sah sich um, nach rechts, nach links — er kannte das ganze Exerzier-Reglement auswendig, er wußte alle Kommandos, die es giebt, aber das einzig richtige fiel ihm nicht ein. Und die Sache war so einfach, er hätte nur „rechts um — Bataillon marsch” sagen müssen, dann wäre alles in schönster Ordnung gewesen. — Wie die Sache endete, wollen Sie wissen? Er ließ die Wache trotz des strömenden Regens auf den Kasernenhof rücken, kommandierte dort noch einmal die Wachtparade und wurde dann auch seine Leute los, zur großen Freude aller Beteiligten. Und darum, meine Herren — auf die Theorie pfeife ich — in der Praxis zeigt erst der Mann, ob und was er leisten kann!”

Der neue Herr Oberst hatte gerade die entgegengesetzte Ansicht; er war, wie man zu sagen pflegt, „ein Tintenspion”. Als er drei Jahre lang Frontdienst gethan hatte, war er auf's Pferd gekommen, war Bataillons- und Regiments­adjutant gewesen, hatte als Brigade-Adjutant das Kriegsakademie-Examen bestanden, war in den Generalstab gekommen und hatte dann Jahr aus, Jahr ein im Kriegsministerium gearbeitet; er hatte im Kriegsdepartement speziell die Festungs­abteilung unter sich gehabt — über alles, was auch nur im entferntesten mit einer Festung zusammenhing, war er so genau unterrichtet, wie die meisten Menschen über das kleine Einmaleins.

Der neue Herr Oberst hielt die Wissenschaft hoch in Ehren, nach seiner Meinung waren die theoretischen Kenntnisse die Hauptsache, das bischen Praxis ergab sich dann ganz von selbst. Es ist eine eigentümliche Erscheinung, daß die Vorgesetzten die Passionen, die sie haben, auch ihren Untergebenen beibringen wollen. Wenn der Herr Oberst lieber Mosel- als Rotwein trinkt, schlägt er der Kasino-Kommission vor, doch den Geschmack des Offizierkorps zu bilden und hauptsächlich Moselweine anzuschaffen; raucht er viel und gut, so legt er besonderen Wert darauf, daß das Kasino teure Cigarren hat, und setzt seinen Lieutenants auseinander, daß man sich mit schlechten nur den Magen und den Geschmack verdürbe — raucht er gar nicht, so sieht er es auch nur ungern, daß seine Untergebenen rauchen.

So war es natürlich, daß der neue Herr Oberst in seinen Offizieren die Lust und Liebe zum theoretischen Studium zu erwecken suchte — ja, daß er von ihnen erwartete, sie würden zu Hause fleißig arbeiten, damit möglichst viele von ihnen „auf” die Kriegsakademie oder „in ” den Generalstab kämen.

Das eine Mal sagt man „auf”, das andere Mal „in ”.

Warum? Das will mir nicht in den Sinn.

Als die Herren Lieutenants diese Ansicht ihres Herrn Oberst hörten, schüttelten sie unwillig — natürlich nur als kein Vorgesetzter in der Nähe war — die Köpfe, das paßte ihnen gar nicht.

Da war es früher doch bequemer gewesen, man hatte seinen Dienst gethan, der eine mehr, der andere weniger, je nachdem der Hauptmann nett oder nicht nett war und hatte damit das Tagesprogramm erledigt. Hatte man die Hausthür am Nachmittag hinter sich zugemacht, so war man ein freier Mann gewesen und konnte nach Belieben über seine Zeit verfügen.

Das sollte jetzt anders werden! Wenn der Körper müde war von den Anstrengugen des Marschierens und Exerzierens, sollte man sich noch zu Hause hinsetzen und arbeiten? Das war nicht nach ihrem Geschmack und die meisten nahmen sich nach reiflicher Ueberlegung vor, den väerlich wohlwollenden Rat ihres Vorgesetzten nicht zu befolgen.

Aber der Herr Oberst sorgte dafür, daß sie es dennoch thaten. Ihm war das schöne Wort bekannt: „Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt!”

Er schickte seinen Offizieren einfach theoretische Arbeiten ins Haus — „späteste Ablieferungsfrist: drei Tage” stand auf dem Couvert, da blieb nichts anderes übrig als sich hinzusetzen und zu arbeiten. War die eine Arbeit an den Herrn Oberst zurückgegeben, so schickte dieser sofort eine neue.

„Wo nimmt der Mann nur diese Unzahl von Aufgaben her?” stöhnten die Lieutenants und sie suchten sich zu trösten mit dem Wort: „Selbst der tiefste Brunnen versiegt einmal.” Gewiß, aber die wenigsten erleben es.

Alle wünschten ihren „theoretischen” Oberst weit weg — ganz weit, nach irgend einem unbekannten Lande, von wo aus eine Rückkehr unmöglich wäre.

Am sehnlichsten wünschte Premierlieutenant von Ernberg den neuen Kommandeur zum Teufel — diesen unsubordinations­widrigen Wunsch wagte er natürlich nur bei verschlossenen Thüren und auch dann nur, wenn er ganz allein war, auszusprechen, aber er hegte diesen Wunsch doch.

An Veranlassung dazu fehlte es nicht: Ernberg war mit der Erteilung des Kapitulanten-Unterrichts beauftragt, seine Sache war es, die Unteroffiziere und die Gefreiten, die dereinst Unteroffiziere zu werden hoffen, in die Geheimnisse der Geschichte und der Geographie einzuweihen.

Dieser theoretische Unterricht findet unbegreiflicher Weise stets im Winter statt, in den Nachmittagsstunden, wenn die Unteroffiziere von dem anstrengenden Rekrutenexerzieren geistig und körperlich müde sind. Den ganzen Tag haben sie gesprochen, instruiert, Griffe vorgemacht, immer und immer wieder dieselben Fehler korrigiert — nun sollen sie aufmerksam dem Vortrag des Offiziers lauschen und ihr Wissen bereichern.

Für beide, für Lehrer und Schüler, ist dieser Unterricht entsetzlich — das Wissen der Schüler ist gleich Null und der Lehrer drischt leeres Stroh: zum einen Ohr hinein, zum anderen hinaus!

Die meisten Regimentskommandeure sehen dies auch vollständig ein, sie lassen den Unterricht abhalten, weil es höheren Ortes befohlen ist und sie sterben nicht an gebrochenem Herzen, wenn ein Schüler bei der Vorstellung nicht weiß, ob Friedrich der Große vor oder nach dem dreißigjährigen Krieg gelebt hat.

Anders der neue Herr Oberst: der wollte, daß seine Unteroffiziere wirkliches, positives Wissen hätten und so dehnte er den Kapitulanten-Unterricht, der sonst zwei Monate dauert, auf ein halbes Jahr aus.

Zum erstenmal während seiner langen ruhmlosen Dienstzeit dachte der Herr Premier, als er diese erfreuliche Nachricht im Parolebuch las, daran, seinen Abschied zu nehmen.

Zum zweitenmal dachte er daran, als der Herr Oberst ihm auseinandergesetzt hatte, was er bei der Vorstellung alles von den Schülern hören wollte. Das war ungefähr das, was von einem Primaner bei der Abiturienten­prüfung verlangt wird.

Wie gesagt, der Herr Premier trug sich mit trüben Gedanken, aber er nahm seinen Abschied doch nicht — nähme jeder seinen Abschied, der vorübergehend daran denkt, so hätten wir bald keine Offiziere mehr — und das wäre doch schade für die jungen Mädchen, für die es auf Erden nichts schöneres giebt, als einen Lieutenant, besonders wenn er hübsch ist und Geld hat.

Verlangen können die Vorgesetzten viel — nein, alles. Eine andere Sache ist, ob die Untergebenen dies auch alles zu leisten vermögen.

Der Herr Oberst bejahte, der Herr Premier verneinte diese Frage — wer Recht behielt, konnte nur die Zukunft lehren, und so fing der Herr Premier denn an, seinen Unterricht zu erteilen.

„Unsere Erdoberfläche setzt sich zusammen aus Wasser und Land: Wie heißen die fünf Weltteile und die sie trennenden Mere?”

Der erste wußte es nicht und der zweite blieb die Antwort schuldig.

Der Herr Premier rang die Hände — und diesen Schülern sollte er die genauen Feldzugspläne Friedrich des Großen und die verschiedenen Operationen der letzte Kriege beibringen? Wie sollte das nur enden?

Woche auf Woche, Monat auf Monat verrann, der Unterricht nahm seinen Fortgang: Unteroffiziere haben im Durchschnitt ein Gedächtnis, das einem Sieb ohne Boden gleicht. Sie können nichts behalten, und das wenige, was zufällig haften bleibt, fließt bunt durch einander: bald hat Moltke bei Fehrbellin gesiegt, bald Napoleon, ein Name wird stets genannt, aber leider niemals der richtige. Die Schüler sind keine Philosophen und denken: „Name ist Schall und Rauch.”

So kam der Tag der Vorstellung heran: um nicht zu toll hineinzusegeln, hatte der Herr Premier in den letzten Stunden ein Frage- und Antwortspiel eingerichtet — jeder hatte seine bestimmte Frage, die er auch zu beantworten wußte.

Möchte der Himmel ihm gnädig sein! —

Bangen Herzens stand er vor seinen Schülern, als der Herr Oberst mit sämtlichen Offizieren des Regiments erschien — der gefürchtete Moment war gekommen.

„Bitte, fangen Sie an, Herr Lieutenant.”

„Zu Befehl, Herr Oberst.”

„Unteroffizier Hansen, an welchen Kriegen hat der große Kurfürst teilgenommen?”

Mit diesem Feldherrn soll der Unterricht beginnen.

Schnell und pünktlich erfolgte die Antwort.

„Unteroffizier Petersen —”

Da unterbrach ihn die Stimme des Kommandeurs: „Bitte, Herr Lieutenant, fragen Sie über den Krieg 1870/71.”

„Zu Befehl, Herr Oberst.”

Um Gottes Willen, das hatte gerade noch gefehlt, nun war alle Mühe und Arbeit umsonst gewesen, denn von diesem Kriege wußten die Schüler so gut wie nichts! Auseinander zu halten, wie viel Armeen wir hatten, wer sie führte, wo sie operierten, wo die feindlichen Heere standen — das ging über ihr Begriffsvermögen und doch sollten sie es wissen.

Der Herr Premier schwitzte Blut vor Angst, aber was half's? Fragen mußte er und mit vieler List und Tücke kam er bis zur Schlacht von Sedan und bis zur Einschließung der französischen Hauptarmee.

Ein paarmal hatte der Herr Oberst den Herrn Premier schon von der Seite angesehen, es mochte wohl nicht ganz nach seinem Geschmack sein, was die Unteroffiziere antworteten — im Generalstab ging man denn doch etwas gründlicher vor.

Wie die deutschen Heere, so machte jetzt auch der Herr Premier mit seinen Schülern vor Sedan Halt: weiter ging es vorläufig nicht.

Es entstand eine lange, feierliche Pause.

„Warum fragt er nicht weiter?” dachte der Herr Oberst.

„Was soll ich nur fragen?” dachte der Herr Premier, „wie soll ich es nur anfangen, um noch eine einzige Antwort zu erhalten?”

Der Herr Oberst sah den Herrn Premier fragend an und der Herr Premier „schielte” heimlich nach dem Vorgesetzten.

Wie sollte das enden?

Da kam dem Herrn Premier plötzlich der Gedanke: „Herr Gott, ich will mich doch hier nicht bis zur Unsterblichkeit vor allen Offizieren, vor den jüngsten Kameraden blamieren? Ein Mann wie ich, der schon so viele Vorinstruktionen glücklich überstanden hat, der noch immer, dank seiner langen Praxis, einen Ausweg fand, um die seinen zum Siege zu führen, wird doch auch heute Mittel und Wege finden, um nach beendetem Kampfe groß und glorreich dazustehen?”

Noch einmal sah er prüfend den Herrn Oberst an und da durchfuhr ihn ein rettender Gedanke:

„Unteroffizier Meier, zu welcher Art von Städte gehört Sedan?”

„Es ist eine Festung.”

Der Herr Oberst horchte auf: Festung — das war ja sein Fall.

„Unteroffizier Krieger, wissen Sie, auf welche Art und Weise die in einer Festung Eingeschlossenen sich mit der Außenwelt zu verständigen suchen?”

„Zu Befehl, Herr Lieutenant, entweder durch einen Luftballon oder durch Brieftauben.”

Der Herr Oberst trat einen Schritt vor: „Es ist mir sehr lieb, Herr Lieutenant, daß Sie diese Sachen zur Sprache bringen,” und zu dem Unteroffizier gewandt, fuhr er fort: „Wissen Sie auch, auf welche Art und Weise man sich durch Brieftauben Nachrichten sendet?”

Schon wollte der Unteroffizier „Ja” sagen, da schüttelte der Herr Premier so energisch den Kopf, daß er ein „Nein, Herr Oberst,” zur Antwort gab.

Der Herr Oberst trat zwei Schritte vor, der Herr Premier einen halben Schritt zurück.

„Die Sache mit den Brieftauben ist folgende,” nahm nun der Herr Oberst das Wort, und jetzt kam ein langer, endloser Vortrag über Brieftauben, Luftballon, über die Verkehrsmittel einer Festung im allgemeinen und über die von Sedan im speziellen.

Je länger der Herr Oberst sprach, desto weiter trat er vor, desto weiter trat der Herr Premier zurück; sein Herz frohlockte, er kannte das Steckenpferd seines Vorgesetzten. Sprach dieser über Festungen, so hörte er fürs erste nicht wieder auf!

Schmunzelnd stand der Herr Premier im Hintergrund; er war mit sich selbst wohl zufrieden und sagte sich: „Das hast du gut gemacht, mein Sohn, dafür lade ich dich nachher im Kasino auch auf einen ganz großen Cognac ein.”

Eine Stunde war verflossen, da trat der Adjutant auf den Kommandeur zu und flüsterte diesem etwas zu.

„Schon so spät? Dann wird es allerdings die höchste Zeit, daß wir aufhören.”

Er wandte sich zu den Unteroffizieren: „Was ich von Ihnen gehört habe, hat mir sehr gut gefallen; es ist mir ein Beweis, daß Sie in den Unterrichtsstunden aufgemerkt und auch zu Hause fleißig gearbeitet haben. Ihnen, Herr Premierlieutenant, kann ich meine vollste Anerkennung aussprechen; was ich gehört habe, hat mich in jeder Weise befriedigt.”

Eine Minute später war der Herr Oberst gegangen.

Die Kameraden umringten den Herrn Premier und einer, der im vorigen Jahre bei gleicher Gelegenheit wenig Lorbeeren geerntet hatte, sagte etwas spöttisch: „Na, wenn man solches Glück hat, ist es keine Kunst, bei der Vorstellung gut abzuschneiden.”

Da richtete sich der Herr Premier in seiner ganzen Größé auf: „Das nennen Sie Glück?”

„Natürlich, wie sonst?”

„Eigenes Verdienst — glauben Sie denn wirklich, daß ich zufällig das Gespräch auf die Festungen brachte? Was haben denn die Brieftauben mit dem Krieg 1870/71 zu thun? Wissen Sie es? Ich nicht, aber das wußte ich zufällig, daß der Oberst sich sehr für den Brieftaubensport interessiert,” und lustig sang er vor sich her: „Praktisch, immer praktisch, ja nur praktisch muß man sein.”

Und so unrecht hatte er nicht. Der praktische Lieutenant war schlauer gewesen als der theoretische Oberst, der trotz aller Kenntnisse sofort auf den Köder anbiß, den der Untergebene ihm hinhielt.


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