Die beiden Strathmänner.

Humoreske von Frhr. v. Schlicht.
in: „Neue Hamburger Zeitung” vom 31.10.1903,
in; „Deutscher Correspondent”, Sonntagsblatt, vom 8.11.1903,
in: „Indiana Tribüne” vom 24.11.1903,
in: „Deutscher Correspondent”, Der Sonntags-Coorespondent, vom 24.1.1904,
in: „Coblenzer Residenz-Bote”, Kalender auf das Jahr 1905, Spalte 425 - 430,
in: „Rekrutenbriefe”, und
in: „Die Frau Oberst”


Oberst von Klugmann trat in das Regimentsbureau, in dem der Adjutant schon fleißig über den Akten saß: „Guten Morgen, Baumbach.”

„Guten Morgen, Herr Oberst.”

Der Kommandeur vertauschte den guten Überrock mit einem solchen minderer Garnitur, zündete sich seine Zigarre an, setzte sich auf seinen Platz und sah mit Schrecken auf den großen Haufen Briefe, die dort aufgestapelt lagen. „Um Gottes willen, Baumbach, muß ich die alle lesen?”

Der Adjutant schüttelte den Kopf. „Ungefähr nur ein Drittel, Herr Oberst. Was irgendwie von Bedeutung ist, liegt hier links, den Inhalt der anderen Schreiben habe ich hier auf diesem Zettel kurz zusammengefaßt.”

„Das Militärkabinett lohne es Ihnen,” meinte der Oberst, „ich kann es Ihnen nur danken. Weiß der Himmel, da werden jahraus, jahrein endlose Ukasse über die Vereinfachung des Schriftverfahrens losgelassen, und trotzdem werden wegen jeder Bagatelle endlose Bogen vollgeschmiert; na, ich kann's auch nicht ändern.”

Nach einer guten halben Stunde legte er endlich den letzten Brief mit einem Seufzer der Erleichterung bei Seite: „Gott sei Dank — Schluß. Was gibt's sonst Neues?”

„Außer der Rettung des Kindes durch einen der beiden Strathmänner nichts.”

Der Oberst sah seinen Adjutanten mit großen Augen an. „Wer hat ein Kind gerettet? Davon weiß ich ja gar nichts!”

„Haben der Herr Oberst die Morgenzeitung nicht gelesen?” erkundigte sich der Adjutant. „Die Sache ist sogar fett gedruckt.”

„Fettgedrucktes lese ich prinzipiell nicht,” meinte der Oberst. „Durch besonderen Druck hervorgehoben werden nach meiner zwanzigjährigen Erfahrung als Zeitungsleser nur solche Notizen, die am nächsten Tag widerrufen werden. Na, und was soll man sich da erst über eine(1) Sache aufregen, wenn man sich vierundzwanzig Stunden später wieder abregen muß, das ist mehr als Zeitvergeudung. Aber bitte, was ist das für eine Geschichte, die Sie mir da andeuteten(2)? Wo ist die Zeitung?”

Der Adjutant legte das Morgenblatt vor den Kommandeur hin, und dieser las die blau angestrichene Stelle: „Vom sicheren Tode des Ertrinkens gerettet wurde gestern nachmittag ein neunjähriger Knabe, der beim Spielen in den gerade um diese Zeit stark angeschwollenen alten Burggraben gefallen war. Der Knabe, der schon zweimal untergetaucht war, wäre rettungslos verloren gewesen, wenn nicht im letzten Augenblick ein des Weges kommender Offizier, ohne sich zu besinnen, in voller Uniform dem Knaben nachgesprungen und diesen mit eigener Lebensgefahr gerettet hätte. Der Name des heldenmütigen Offiziers ist Leutnant Strathmann; welcher der beiden Brüder es ist, vermögen wir leider nicht anzugeben.”

„Und so 'was erfahre ich erst jetzt, Baumbach, wie ist das möglich?”

Der Adjutant zuckte die Achseln: „Ich weiß auch nur, was hier in der Zeitung steht und habe es auch erst heute morgen erfahren. Meine Erkundigungen, die ich sofort einziehen ließ, ergaben, daß die Notiz auf voller Wahrheit beruht.”

Der Oberst nahm die Zeitung noch einmal zur Hand, dann sagte er: „Wissen Sie, Baumbach, der Strathmann hat sich da tadellos benommen, selbstverständlich müssen wir den Mann eingeben, er verdient die Rettungsmedaille. Der alte Festungsgraben mit seiner verhältnismäßíg starken Strömung und seinem schlammigen Grund ist ein ganz niederträchtiges Wasser; wenn es einer wagt, da auf gut Glück hineinzuspringen, so ist das eine Heldentat, welche(3) die höchste Belohnung verdient. Und sie soll ihm werden, an meiner wärmsten Befürwortung soll es nicht fehlen. Welcher Strathmann ist es gewesen, Franz oder Fritz?”

„Ich weiß es nicht, Herr Oberst.”

Der Oberst traute seinen Ohren nicht: „Was? Das wissen Sie nicht? Ich denke, Sie haben sich erkundigt?”

„Das schon,” erwiderte der Adjutant. „Ich bin vorhin auf dem Kasernenhof gewesen und habe die beiden Brüder gefragt. Der Fritz sagte, Franz wäre es gewesen, und Franz sagte, es wäre Fritz gewesen.”

„Da hört sich denn doch alles auf,” schalt der Oberst. „Wenn's nicht beide waren, und einer war es doch nur, dann kann es doch auch nur einer gewesen sein.”

Der Adjutant war derselben Ansicht, und er hielt damit nicht hinter dem Berge. „Einer ist es natürlich nur gewesen, aber ich glaube, es wird schwer sein, wenn nicht geradezu unmöglich, herauszubekommen, welcher von beiden es war.”

„Das werden wir ja sehen,” schalt der Oberst. „Das wäre ja noch besser.”

„Es macht auf mich den Eindruck, als wenn die beiden Brüder sich ihr Wort gegeben hätten, über den ganzen Vorfall zu schweigen.”

„Aber, was sollte denn das für einen Zweck haben?” fuhr der Oberst auf. „Dieser Tat braucht sich doch weiß Gott der Betreffende nicht zu schämen, und der andere kann doch sehr stolz darauf sein, einen solchen Zwillingsbruder zu haben.”

„Das schon,” meinte der Adjutant, „aber dem einen, mag er nun Fritz oder Frant heißen, wird es vor dem Bruder peinlich sein, die Rettung vollbracht zu haben; er wird sich sagen, wenn die Sache bekannt wird, so wird über mich gesprochen, und der andere steht zurück. Und erst, wenn ich gar dekoriert werde, und der andere nicht! Ich will nichts haben, was ich mit dem Bruder nicht teilen kann, ihm zuliebe will ich darauf verzichten. Und aus dieser Gesinnung heraus wird der eine Bruder den andern Bruder gebeten haben, nicht zu sagen, daß er der Retter ist, und der andere Bruder wird dem einen Bruder sein Wort gegeben haben, darüber zu schweigen.”

„Das ist ja Unsinn,” fuhr der Oberst auf. „Ich meine natürlich nicht, was Sie da eben sagten, im Gegenteil, das hat sehr viel für sich, das sieht den beiden Brüdern sogar sehr ähnlich, aber herausbekommen werde ich es doch, wer es war. Ich will natürlich die Brüder nicht zwingen, wortbrüchig zu werden, aber es gibt ein sehr einfaches Mittel, den Retter zu finden.”

„Und das wäre?” fragte der Adjutant neugierig.

„Wir lassen einfach den Knaben holen und stellen ihn den beiden gegenüber. Der wird schon sagen: Der da ist es.”

„Verzeihung, Herr Oberst,” entgegnete der Adjutant, „der Herr Oberst vergessen, daß die beiden Zwillingsbrüder sich so ähnlich sehen —”

„Daß ich schon oft mit dem einen grob geworden bin, wenn ich den andern meinte. Ja, ja, ich weiß.” Der Kommandeur kratzte sich nachdneklich hinter den Ohren: &bdquo,Wissen Sie, Baumbach, es ist ja ein unendlich liebenswürdiger Zug unseres obersten Kriegsherrn, daß er die Einstellung der Zwillingsbrüder, die ihm schon im Korps aufgefallen waren, in ein und dasselbe Regiment befahl. Aber unpraktisch ist es, scheußlich unpraktisch, wenihstens für Vorgesetzte, man kann die beiden tatsächlich nicht auseinanderhalten, so was von niederträchtiger Ähnlichkeit ist überhaupt noch nicht dagewesen.”

Der Oberst hatte recht, die Ähnlichkeit der Zwillingsbrüder, die im Regiment kurzweg „die beiden Strathmänner” genannt wurden, war einfach lächerlich. An Größe, Gestalt, Gesichtsform, Farbe der Augen und Haare, in der ganzen Haltung, kurz in allem glichen sich die beiden Brüder so vollständig, daß man bei ihrem Anblick versucht war, den alten Lehrsatz: „Es gibt nicht zwei Dinge auf der Welt, die sich vollständig gleichen,” anzuzweifeln. Und wie sie sich in ihrem Äußern glichen, so auch in ihrem Wesen, in ihrem Charakter, sie hatten dieselben Gewohnheiten, dieselben Tugenden und dieselben Fehler. Sehr häufig wirkte das belustigend, zuweilen aber auch sehr langweilig für die Kameraden, denn wenn Strathmann Franz keine Lust hatte, einen Skat zu spielen, hatte Strathmann Fritz auch keine, und wenn man vergebens den Versuch gemacht hatte, Strathmann Fritz anzuborgen, konnte man mit tödlicher Sicherheit darauf schwören, daß Strathmann Franz auch kein Geld hatte. Natürlich waren die beiden Brüder unzertrennlich, sie wohnten zusammen, sie waren sich gegenseitig die besten Freunde, und jeder war jederzeit bereit, für den andern alles zu tun; nie gab es eine Spannung oder ein Zerwürfnis zwischen ihnen.

Der Oberst hatte, mit dem Zeitungsblatt in der Hand, lange nachdenklich dagesessen, nun schlug er plötzlich mit der Faust auf den Tisch: „Und ich krieg' es doch heraus, wer es war! Ich befehle den beiden einfach, die Wahrheit zu sagen, und mache sie darauf aufmerksam, daß Belügen eines Vorgesetzten in dienstlichen Angelegenheiten(4) streng bestraft wird.”

„Verzeihung, Herr Oberst,” erlaubte sich der Adjutant zu bemerken. „Der Herr Oberst äußerten vorhin, die beiden Brüder nicht zwingen zu wollen, wortbrüchig zu werden.”

„Ach so, ja, richtig,” und ärgerlich biß sich der Kommandeur auf die Lippen. „Na, da muß ich es auf eine andere Art und Weise herausbringen. Bitte veranlassen Sie das Weitere, ich wünsche heute mittag 12 Uhr die Herren Offiziere in beliebigem Anzug im Kasernenhofe zu sprechen.”

Und um 12 Uhr waren die Herren zur Stelle. Alle hatten die Zeitungsnotiz gelesen, alle umringten die beiden Brüder, um zu erfahren, wer von ihnen es gewesen sei, die aber hatten sich, genau wie der Adjutant es vorausgesagt hatte, gegenseitig ihr Wort gegeben, zu schweigen, und aus ihnen war nichts herauszubekommen: Franz sagte „Fritz” und Fritz sagte „Franz”, und dabei blieben sie.

Da erschien der Kommandeur, und alle warfen den beiden einen Blick zu, der da deutlich sagte: „Nun paßt mal auf, der wird schon Licht in die Sache bringen, dem gegenüber hilft euch eure Bescheidenheit doch nichts.”

„Meine Herren,” begann der Oberst, „ich habe Sie zu mir gebeten, um mit Ihnen eine Sache zu besprechen, die Ihnen wohl schon aus der Zeitung bekannt sein dürfte, trotzdem gestatte ich mir, Ihnen die Notiz noch einmal vorlesen zu lassen. Bitte, Baumbach, lesen Sie.”

Und Baumbach las.

„Meine Herren,” fhr der Oberst fort, „ich brauche es wohl nicht erst zu betonen, daß diese Tat eines wackeren Offiziers nicht nur diesen selbst, sondern das ganze Offizierkorps ehrt, das Regiment ist zu einem solchen Offizier zu beglückwünschen; er ist ein leuchtendes Vorbild nicht nur für die Kameraden, sondern auch für die Unteroffiziere und Mannschaften, die mit Bewunderung und Stolz auf ihn blicken und sich geloben, in ähnlichem Falle dem Beispiel ihres Vorgesetzten nachzuahmen.”

Während der Oberst in diesem Sinne weitersprach, beobachtete er scharf die beiden Strathmänner. Die standen beide da in strammer Haltung, die Augen fest auf den Kommandeur gerichtet, aber wenn dieser geglaubt hatte, in den Zügen des Betreffenden lesen zu können, daß er der Retter sei, dann hatte er sich geirrt. Beide wurden nicht nur gleichzeitig, sondern auch gleichmäßig rot und verlegen, der eine für sich selbst, der andere für den Bruder, keiner verriet: Ich bin es und keiner verriet: Ich bin es nicht.

„Und nun, meine Herren,” schloß der Oberst, „sagen Sie mir, wer von Ihnen hat die wackere Tat vollbracht?”

„Wer zuerst den Namen des andern nennt, will damit das Verdienst von sich abwälzen, und wer zuerst spricht, ist es ohne Zweifel gewesen,” kalkulierte der Oberst schlauerweise, aber so schlau, die Gedanken des Obersten zu erraten, waren die Brüder auch und so schwiegen sie unisono.

Der Oberst wurde nachdenklich, aber herausbekommen wollte er es schon, so hielt er den beiden eine lange Rede, in der er dem einen vorwarf, zu bescheiden zu sein, dem andern aber den Vorwurf machte, trotz aller Bruderliebe doch nicht brüderlich zu handeln, wenn er den Bruder nicht namhaft mache, damit diesem die verdiente Belohnung zuteil würde. Aber da der Oberst in diesem Falle nicht wußte, wer „der eine”, und wer „der andere” war, so ging diese Rede nicht recht zu Herzen und der gewünschte Erfolg blieb aus.

Wieder versank der Oberst in tiefes Nachdenken, da sollte der Kuckuck einen Ausweg finden. Aber mit einem Male glättete sich seine Stirn, und eitel Sonnenschein flog über sein Gesicht: „Ich hab's, ich hab's,” rief er, „nun werden wir gleich wissen, wer es war. Meine Herren, die Sache ist so lächerlich einfach, daß ich selbst nicht begreife, wie ich erst jetzt darauf komme.” Er wandte sich an den Adjutanten: „Bitte, Baumbach, nehmen Sie sich einen Mann mit und gehen Sie in die Wohnung der Herren Leutnants und sehen Sie bitte in beiden Schlafzimmern genau nach. Sie werden dort den Rock und die Beinkleider finden, die der Herr gestern trug. Sie können noch nicht wieder ganz trocken sein, und selbst wenn sie es sind, so werden doch irgend welche Spuren des Wassers zurückgeblieben sein. Na, und haben wir erst die Uniform, dann ermitteln wir auch sehr schnell den Besitzer derselben.”

Das leuchtete allen sehr ein, und der Adjutant machte sich auf den Weg.

Die Strathmänner wohnten nur wenige Minuten von der Kaserne entfernt, in einer kleinen Viertelstunde konnte der Adjutant zurück sein, aber diese kurze Frist deuchte allen wie eine Ewigkeit, jeden Augenblick sahen die Herren erregt nach der Uhr, und der Oberst trippelte, sich nervös die Hände reibend, auf und ab. Die einzigen, die ihre Ruhe nicht einen Augenblick verloren, waren die beiden Brüder, sie sahen sich nur mit einem leisen Lächeln an, das da deutlich sagte: „Wer uns aushorchen will, der muß das viel schlauer anfangen.”

Und endlich kam der Adjutant zurück, aber die Ordonnanz, die er sich mitgenommen hatte, folgte mit leeren Händen.

„Wo ist die Uniform?” fuhr der Oberst ihn erregt an. „Haben Sie sie nicht gefunden?”

„Das schon, Herr Oberst.”

„Herrr, warum haben Sie sie dann nicht mitgebracht?”

„Ich hielt es für zwecklos, Herr Oberst.”

Mit starren Augen blickte der Kommandeur seinen Adjutantenan: „Ich verstehe Sie nicht, bitte, erklären Sie sich deutlicher.”

Und unter feierlicher Stille sagte der Adjutant: „Es hingen zwei Anzüge zum Trocknen vor dem Ofen.”


Fußnoten:

(1) In der Buchfassung heißt es hier: „über die Sache” (Zurück)

(2) In der Buchfassung heißt es hier: „andeuten” (Zurück)

(3) In der Buchfassung heißt es hier: „die die höchste” (Zurück)

(4) In der Buchfassung heißt es hier: „Belügen eines Vorgesetzten auf Befragen in dienstlichen Angelegenheiten” (Zurück)


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