Staffi.

Humoreske von Freiherr von Schlicht
in: Warum sie heiraten”


Darüber ist sich Staffi, Stephanie getauft, aber von ihrem Vater, dem Herrn Oberst a.D. und von ihrer Mutter, ebenso wie von ihren Freundinnen nie anders als Staffi genannt, vollständig einig, ein so geliebter, goldiger Kerl ist ihr bisher in ihrem Leben, trotzdem sie schon neunzehn Jahre zählt, noch nie auf der Straße begegnet. Allerdings stimmt „goldig” und „geliebt” nicht ganz, dafür ist er zu groß, zu kräftig und zu stark, und auch der Kopf ist zu klug und intelligent, um „goldig” oder „geliebt” zu sein. Aber sie findet trotzdem keinen anderen Ausdruck, der auf ihn gepaßt hätte. Seitdem sie ihn zum erstenmal sah, und das sind bereits drei Tage her, muß sie fortwährend an ihn denken. Ja, sie hat sogar den Versuch gemacht, ihm wieder zu begegnen, obgleich ihr das eigentlich ganz unbegreiflich ist, denn sie hatte sich sonst nie etwas aus Hunden gemacht. Nicht, als ob sie die treuesten Freunde der Menschen haßte, das nicht, aber es gibt so wahnsinnig ungebildete Hunde, die gar nicht zu wissen scheinen, wofür die Straßenecken und die Laternenpfähle da sind, und nun erst recht der Fahrdamm! Was die Hunde zu erledigen hatten, erledigen so viele mitten auf dem Trottoir, und seitdem sie einmal unglücklicherweise mit einem Paar ganz neuen Stiefel in einen solchen Hundehaufen hineingetreten ist, liebt sie die Hunde nicht mehr besonders. Aber dieser Hund, eine große, wundervolle, mächtige Ulmer Dogge, bildet eine rühmliche Ausnahme seines Geschlechtes, davon hatte sie sich, als er in dem Rinnstein saß, mit eigenen Augen überzeugt, und als sie ihn dann näher betrachtete, als er ihr langsam, bedächtigen Schrittes entgegenkam, als sie seinen auffallend schönen Kopf mit den klugen Augen sah, den muskulösen Wuchs seines Körpers, die schönen Beine, die starke Rute, da hatte sie sich ganz in ihn verliebt und der Wunsch war in ihr wach geworden, der Hund möge ihr gehören, oder sie möge wenigstens selbst eine solche Dogge besitzen. Aber daran, daß ihre Eltern ihr jemals diesen Wunsch erfüllen würden, war gar nicht zu denken. Einmal der hohen Kosten wegen, dann aber auch, weil die Eltern nur eine Etage bewohnen, die nicht einmal allzu groß ist. Als Etagenhund könnte doch überhaupt nur ein Dackel, ein Foxel oder etwas Ähnliches in Frage kommen, niemals aber eine solche große Dogge. Aber haben möchte sie einen so herrlichen Hund doch! Wie gut der ihr stehen würde und wie fesch und flott das aussähe, wenn sie mit dem anspaziert käme. Selbstverständlich dürfte die Dogge nicht frei neben ihr herlaufen, sondern sie müßte sie an dem Karabinerhaken der Hundepeitsche führen. Schon auf der Straße eine Peitsche in der Hand zu haben ist chik. Wie sagt doch Nietzsche: Wenn du zum Weibe gehst, vergiß die Peitsche nicht. Aber viele Männer lieben es erst recht, in den Händen eines jungen Mädchens eine Peitsche zu sehen. Und hübsch ist sie, das weiß sie sehr genau. Ihre schlanke, geschmeidige, biegsame Gestalt gefällt ihr und den Männern zum mindesten ebenso wie der hübsche Kopf mit den großen, dunkelbraunen Augen, dem dichten, dunklen Haar, der feingeschnittenen Nase und dem ein ganz klein wenig sinnlichen Mund. Ja, ja, hübsch ist sie schon und natürlich wäre sie auch längst an einen Offizier verheiratet, wenn sie damals für solche Dinge nicht noch zu jung gewesen wäre, als ihr Vater, der Herr Oberst und Regiments­kommandeur, seinen Abschied nahm, noch dazu auf Zureden ihrer Mutter, weil die erklärte, lieber wolle sie sich später noch so sehr einschränken, als es weiter dulden, daß der Vater sich im Dienst weiter fast täglich über Untergebene ärgere. Und nun schränkten sie sich ein, das hatten sie nun davon, wie Staffi sich selbst oft im stillen sagte. Auch jetzt muß sie daran denken, weil sie sich im stillen doch noch eine schöne Dogge wünscht. Ja, damals vor sechs Jahren, als ihr Vater noch aktiv war, als er in der kleinen Garnison Mitteldeutschlands die hübsche Villa mit dem großen Garten und den Stallungen für seine Pferde hatte, ja damals hätte solche Dogge im Hause und in den Nebengebäuden Platz gehabt. Aber nun? Jetzt hatte man sich in die große Stadt verkrümelt, in der keiner den anderen kennt, in der man leben kann, wie man will, ohne daß die lieben Nächsten sich darüber das Maul zerreißen. In der kleinen Garnison war der Herr Oberst der erste Mann an der Spitze und an der Spritze, hier aber ist er nur einer unter den vielen, hier kümmert sich keiner um ihn. Ja, ja, man schränkte sich eben ein. Einen kleinen Kreis, in dem man verkehrt, haben Staffis Eltern natürlich auch hier gefunden. Staffi selbst hat in diesen Familien auch einige junge Mädchen und einige junge Herren kennen gelernt, zuweilen besucht sie auch das Theater oder ein Konzert, aber es ist doch ein stilles, zurückgezogenes Leben, das sie führt. Na, ein Glück, daß sie sich wenigstens sehr gut anziehen kann, daß sie sich in der Hinsicht nicht einzuschränken braucht, daß sie sich da ganz auf Onkel Willi verlassen kann, der als sehr reicher Kaufmann in einer norddeutschen Handelsstadt als Junggeselle ein äußerst angenehmes Leben führt. Staffi wird später einmal alles erben, später, denn vorläufig denkt der Onkel noch nicht an das Sterben, und Staffis wegen kann er auch noch viele Jahre leben, er ist so gut mit ihr und verwöhnt sie maßlos, aber nur, wenn sie bei ihm in seiner hübschen Villa zum Besuch ist. Da schenkt er ihr soviel Hüte, Kleider, Mäntel, Schuhe und Strümpfe, wie sie nur haben will, manchmal sogar noch mehr. Nur über eins ist sie sich nicht ganz klar, beschenkt er sie so reichlich, weil er sie so lieb hat, oder beschenkt er sie nur, weil es ihm Vergnügen macht, sie so hübsch angezogen um sich zu haben? Denn sie muß sich auch dann putzen und schmücken, wenn sie mit ihm allein ist. Dann sogar erst recht, und sie tut es gern für ihn. Er ist doch ihr Onkel, ihr guter Onkel Willi von fünfzig Jahren, aber er ist trotzdem auch ein Mann! Und wenn sie sich dann in ihrem Zimmer für ihn ankleidet, muß sie immer an das verrückte Buch Alraune(1) denken, in dem die Heldin sich auch stets für ihren Geheimratsonkel anzieht. Allerdings, so verrückte Sachen wie dieser Onkel verlangt ihr Onkel nicht von ihr, denn das wäre ja auch noch schöner, wenn er sie darum bitten würde, eines Abends als Liftpage oder als etwas Ähnliches in strammen und enganliegenden Männerbeinkleidern zu erscheinen. Auf der Stelle würde sie dann für immer sein Haus verlassen und es nie wieder betreten. Das würden auch die Eltern nie wieder erlauben, das täten die allerdings auch vielleicht so wie so nicht, wenn die wüßten — — aber die brauchen nichts zu wissen, es ist schon mehr als genug, daß sie sich darüber wundern, daß ihr Onkel sie so reichlich beschenkt, es ist mehr als genug, daß sie sich zuweilen verwundert fragen, warum er das tut. Nein, die Eltern dürfen nichts wissen, sonst dürfte sie sicher schon jetzt nicht mehr zu Onkel Willi fahren, auf den die Eltern ohnehin schlecht zu sprechen sind, weil er für die absolut nichts tut. Es wäre für den ein leichtes, ihnen jährlich von seinem Überfluß ein paar tausend Mark abzugeben, aber er tut es nicht, weil er sich mit seinem Bruder und erst recht mit seiner Schwägerin überwarf. Er kann es nicht verstehen, daß der Bruder seinen Abschied erbat, lediglich, um sich nicht mehr ärgern zu müssen, und weil seine Schwägerin den Bruder in diesem Unsinn unterstützte, denn er selbst pflegte stets zu sagen: „Wenn ich aus demselben Grunde meinen Beruf hätte aufgeben wollen, hätte ich es nicht einmal soweit gebracht, um als Lehrling auszulernen.” Nein, für seinen Bruder hat er kein Geld übrig, und auch Staffi hat nichts für ihre Eltern bei ihm erreichen können. Einmal hat sie den Versuch gemacht, sie ist sogar extra deshalb zu ihm gefahren, und während der ganzen Eisenbahnfahrt hat sie es sich überlegt, wann und wie sie die Bitte anbringen solle, ob auf seinem Schoß sitzend, oder ob in kokett verführerischer Stellung eine Zigarette rauchend auf der Chaiselongue liegend, den Saum des Rockes wie ganz zufällig bis zur halben Wade emporgezogen, so daß er die ihr von ihm geschenkten allerneuesten Lackstiefel mit den dünnen, durchbrochenen seidenen Strümpfen sah und sehen mußte, während er auf seinem alten Platz in dem Klubsessel seine Zigarre rauchte. Sie hatte sich das lange überlegt, sich dann aber für die letztere Stellung entschlossen. Allerdings schweren Herzens, aber was tut ein gutes Kind nicht für die Eltern, die ja auch kein Opfer für ihre Kinder scheuen. Aber sie war gar nicht dazu gekommen, ihre Bitte auszusprechen. Onkel Willi hatte ihr schon bei dem Empfang auf dem Bahnhof erklärt: „Auch ohne daß du es mir erzählst, weiß ich, warum du darum batest, mich heute besuchen zu dürfen. Ich freue mich sehr darüber, daß du da bist, aber ich bitte dich, verdirb mir diese Freude nicht, es wäre vollständig zwecklos.”

Ihr erster Gedanke war gewesen, gleich wieder abzureisen, denn diesmal war sie tatsächlich nur der Eltern wegen gekommen, aber als Onkel Willi, wohl um sie wieder zu versöhnen, gleich mit ihr vom Bahnhof aus zu dem ersten Konfektionsgeschäft und von da mit ihr zu dem allerersten und allerteuersten Schuster fuhr — es war damals die Mode der ganz weiten Röcke und der ganz hohen, bis an den Kleidersaum reichenden Stiefel — da war sie doch geblieben, und sie mußte ja auch bleiben, wenigstens bis das Kleid und die Stiefel fertig waren, und hinterher durfte sie auch nicht gleich abreisen, das wäre mehr als unhöflich gegen Onkel Willi gewesen, zumal der ihr auch noch einen wundervollen echten Zobelkragen und einen ebensolchen Muff schenkte.

Onkel Willi schenkte ihr immer alles, was sie haben will, er errät ihre geheimsten Gedanken, denn gebeten hat sie ihn noch nie um etwas, aber trotzdem oder gerade deshalb würde er ihr sofort eine große Dogge schenken. Es kostet sie nur einen Brief und er schickte ihr entweder das Geld, oder er ließ ihr von einer berühmten Hundezüchterei einen solchen Hund kommen. Aber wohin sollte sie mit dem in der Etagenwohnung? Und die Eltern würden auch schelten, daß die Dogge so viel an Steuern und Futter koste, denn billig war es natürlich nicht, ein solches Tier gut zu versorgen.

Staffi sitzt in ihrem Mädchenzimmer und träumt, ihren Gedanken nachhängend, vor sich hin. Wem die Dogge wohl nur gehört? Sicher einem Herrn, der hier in der allernächsten Nähe wohnen muß, denn sonst wäre der Hund sicher wohl nicht allein auf der Straße herumgelaufen. Und der Hund muß mit seinem Herrn noch nicht lange hier in der Gegend wohnen, sonst wäre sie den beiden sicher schon früher zuweilen begegnet. Entweder ist der Herr und sein Hund aus einem anderen Stadtteil oder gar aus einer anderen Stadt hierher verzogen. Wem die Dogge nur gehört? Die sieht beinahe so aus wie der Renommierhund eines flotten Korpsstudenten. Aber hier ist glücklicherweise keine Universität. Als echtes Soldatenmädel hat Staffi für die Studenten nie viel übrig gehbt. Die glauben immer, sich etwas zu vergeben, wenn sie nicht immer mit einem neuen Schmiß herumlaufen und wenn sie nicht schon auf zehn Meter nach Karbol riechen. Und soviel weiß sie, wenn sie später heiratet — und daß sie heiraten wird, unterliegt für sie nicht dem leisesten Zweifel, dann wird sie keinen Mann heiraten, der früher Korpsstudent war, oder wenigstens keinen, der mit einer zerhackten Visage herumläuft, es müßte denn sein, daß sie sich wider alles Erwarten doch in einen solchen ernstlich verlieben würde. Denn das steht bei ihr fest, sie wird nur, aber auch nur aus Liebe heiraten, aus wirklich großer, wahrer, echter Liebe. Aus einem anderen Grunde braucht ja gerade auch sie niemals an das Heiraten zu denken. Sie ist mit dem Leben, das sie geführt, ganz zufrieden, und wenn sie sich zuweilen doch langweilt, dann läßt sie sich von Onkel Willi einladen und verziehen. Vorläufig braucht sie überhaupt noch keinen Mann. Selbstverständlich sehnt auch sie sich zuweilen danach, von einem Mann geküßt und geliebkost zu werden, aber diese Anwandlungen gehen schnell wieder vorüber, und wenn sie sich vorstellt, sie solle sich jemals ihrem Mann hingeben, ohne daß sie den über alles liebt, daß sie den vielleicht nur heiraten soll, um versorgt zu sein, wie so viel andere junge Mädchen es tun, nein, niemals. Da würde sie die Hochzeitsnacht nicht überleben, da würde sie ihn töten, wenn er es wagen sollte, sie zu berühren, da bringt sie erst ihn um und dann sich selbst. Nur aus Liebe wird sie heiraten und ebenso will auch sie nur um ihrer selbst willen geliebt und geheiratet werden. Der Mann, dem sie dereinst als Frau angehört, darf gar nicht danach fragen, ob sie hübsch ist. Natürlich darf und muß er ihr sogar sagen, daß er sie hübscher, viel hübscher findet, als alle anderen, aber deswegen allein darf er sich nicht in sie verlieben. Er darf auch nichts davon wissen, daß sie nach dem Tode von Onkel Willi einmal alles erbt und dieses alles ist eine ganze Menge.

Onkel Willi nennt es „eine ganze Million und noch 'ne ganz gehörige Hunderttausend­markscheinecke darüber”. Nein, davon darf ihr zukünftiger Bewerber selbstverständlich nichts wissen, denn die Männer sind ja so gemein. Die bringen es fertig, eine total verwachsene Jungfrau, nur weil sie Geld hat, mit einer schlanken Lilie zu vergleichen und der Liebe vorzuheucheln, während sie dabei im stillen darüber nachdenken, wie sie das später erheiratete Geld mit wirklichen schlanken Lilien durchbringen können. Na, das gesteht Staffi sich natürlich ein, sie selbst wird später auch trotz des Geldes nur um ihrer selbst willen geliebt werden, aber trotzdem, besser ist besser. Wenn ihr Mann nach der Hochzeit von Onkel Willis Vermögen etwas erfährt, ist es mehr als früh genug, denn ihr Mann soll nur sie lieben, nur ihr Wesen, ihre Seele, sie selbst, wie auch sie nie danach fragen wird, ob er sehr hübsch oder häßlich, ob er reich oder arm, ob er alt oder jung ist. Sie muß ihn nur lieben und selbst­verständlich darf er nicht zu häßlich und nicht zu alt und nicht zu arm sein, denn darüber hat Onkel Willi schon lange mit ihr gesprochen. Wenn sie mal heiratet, bekommt sie von ihm ein sehr anständiges Geschenk, aber kein bares Geld und sie kann auch nicht darauf rechnen, daß er ihr jährlich einen Zuschuß zahlt, höchstens daß er ihr weiter die Garderobe schenkt, wenn sie auch in Zukunft als junge Frau ihn weiterhin von Zeit zu Zeit besucht. Aber natürlich ohne ihren Mann und erst recht ohne ihr etwaiges Kind, denn Onkel Willi hat erklärt: „Meine Villa ist kein Plätt- und erst recht keine Trockenlegeanstalt, Staffi. Kleine Kinder und Hunde dulde ich nicht in meinem Hause.”

Ganz zufällig kommen ihr diese Worte in den Sinn. Mit den kleinen Kindern hat es hoffentlich noch lange Zeit, selbst dann, wenn sie erst verheiratet sein sollte. Gewiß, sie ist sehr kinderlieb, aber auch als junge Frau wird sie es lieber in den Zeitungen lesen, daß andere Frauen Kinder bekommen, als daß sie das selbst durchmachen muß. Ganz kinderlos aber soll auch ihre Ehe nicht bleiben. Zwei Kinder will auch sie haben, einen Jungen und ein Mädel. Nein, lieber zwei Jungens, aber am allerliebsten zwei Mädels, aber wenn die Mädels heranwachsen, erscheint die Mutter oft viel älter, als sie ist. Da heißt es: Was, Sie haben schon zwei so große Mädchen, wie alt sind denn die nur? In Wirklichkeit aber denkt der oder die Fragende: Allmächtiger Gott, wenn die Kinder schon so groß sind, wie groß, nein wie alt muß da schon die Mutter sein? Und sie will später nicht für älter gehalten werden, als sie es ist. Deshalb will sie auch lieber keine Mädels haben, sondern zwei Jungens. Aber einer genügt auch, und wenn sie gar keinen bekommt, ist es auch noch so, der Staat wird schon nicht aussterben, wenn sie kinderlos bleibt.

Staffi unterbricht ihre Gedanken und lacht plötzlich vor sich hin. Wie kommt sie nur darauf, soviel an die Zukunft zu denken. Das liegt doch alles noch in weiter, weiter Ferne. Wie ist sie nur von der Dogge auf ihre späteren Kinder gekommen? Ach so, nun weiß sie es, weil sie darüber nachdachte, wem die Dogge wohl gehören möge. Zweifellos einem Herrn und von diesem Herrn kam sie ganz von selbst auf die Männer im allgemeinen.

Wem die Dogge wohl gehört? Es ist mehr als töricht, darüber auch nur eine halbe Minute nachzudenken, aber sie tut es trotzdem, bis sie es endlich aufgibt, sie wird es auch ohnedem eines Tages erfahren. Und schon am nächsten Mittag, als sie ihren kleinen Bummel durch die Straßen macht — Einkäufe machen sollte sie eigentlich, aber sie tut nur so — wie es in der Operette „Der Bettelstudent” heißt — da kommt er ihr entgegen, er, der Doggenhund und er, der Besitzer, groß, schlank, kräftig und muskulös, eine ausgezeichnete Figur, der man es sofort ansieht, daß sie durch den Sport gestählt ist. Eine Figur, der sicher kein Lot unnützen Fleisches oder Fettes anhaftet. Dazu eine gerade, stolze Haltung, und ebenso stolz schreitet langsam und bedächtig die Dogge neben ihm her, auch sie den Kopf aufrecht tragend und mit den Augen jeden Augenblick zu seinem Herrn aufsehend, der von Zeit zu Zeit mit seiner Rechten liebkosend über den Kopf der Dogge streichelt.

Und mit einemmal überfällt sie die Lust, auch ihrerseits einmal mit ihrer Rechten das glatte Fell der Dogge streicheln zu dürfen . Aber wie das anfangen, noch dazu gleich heute? Am liebsten würde sie etwas zur Erde fallen lassen, unmittelbar vor den beiden, damit er, wenn er ein Kavalier ist, es ihr aufhöbe und dann vielleicht, nein sicher, ein paar Worte an sie richte. Aber sie hat nichts, nicht das Geringste, das sie fallen lassen könnte. Wie dumm! Na, von morgen an wird sie zur Sicherheit ein kleines Paket bei sich tragen, es braucht nicht groß zu sein und es braucht auch nichts enthalten. Einfach eine leere kleine Schachtel, hübsch verpackt und mit einem bunten Bändchen verschnürt. Wer aber kann wissen, ob ihr die beiden morgen oder an einem der nächsten Tage wieder begegnen? Was nönnte sie heute nur fallen lassen? Nur sich selbst. Das ist das einzige. Etwas riskant ist es, sie muß damit rechnen, daß sie dabei wirklich hinfällt, aber sie riskiert es trotzdem, sie stellt sich im Weitergehen selbst ein Bein, sie stolpert absichtlich und sie wäre um ein Haar der Länge nach hingeschlagen, wenn er sie nicht mit einem raschen, starken Griff aufgefangen hätte. Einen Augenblick steht sie wie betäubt, sie tut, als müsse sie sich von dem ausgestandenen Schrecken erst erholen, als müsse sie sich auf sich selbst besinnen, dann aber meint sie: „Ich danke Ihnen vielmals, mein Herr. Ohne Ihre Hilfe hätte ich mir bei dem Fall sicher etwas gebrochen, oder mir wenigstens sehr weh getan. Es ist mir ganz unbegreiflich, wie ich stolpern konnte, ich muß über irgend etwas ausgeglitten sein. Die Menschen sind ja so rücksichtslos und werfen alles mögliche auf das Trottoir,” und nochmals wiederholt sie ihren Dank.

„Bitte, bitte, gnädiges Fräulein, gar keine Ursache,” wehrt er bescheiden jeden Dank ab, um gleich darauf zu fragen: „Und Sie haben sich wirklich nicht weh getan? Treten Sie einmal vorsichtig mit dem Fuß auf, vielleicht daß Sie sich den einen oder den anderen doch verstauchten.”

Steffi befolgt seinen Rat, aber seine Befürchtungen erweisen sich als grundlos: „Nein, es ist mir wirklich nichts geschehen und hoffentlich habe ich auch Ihnen nicht irgendwie weh getan, als ich so plötzlich gegen Sie anflog.”

Er lacht hell auf, ein frohes, natürliches Lachen, dann meint er: „Ach nein, gnädiges Fräulein, das brauchen Sie nicht zu befürchten, so zart und zerbrechlich sind wir denn doch nicht, was Cäsar?”

Die Dogge errät, daß die letzte Frage ihr gilt und so schüttelt sie nun zur Antwort den Kopf.

„Wie klug Ihr Cäsar ist,” meint Staffi, „aber das nicht allein, er ist auch auffallend hübsch.”

„Hast du diese Schmeichelei aus dem Munde einer sehr hübschen jungen Dame vernommen und weißt du die auch richtig zu würdigen?” fragt der Herr seinen Hund, und der nickt ein paarmal ganz ernsthaft mit dem Kopf, so daß sein Herr ihm nun zuruft: „Dann ist es aber auch deine Pflicht, Cäsar, dich für diese Schmeichelei zu bedanken.”

Das läßt Cäsar sich nicht zweimal sagen. Er gibt ihr die Pfote, die starke, mächtige Tatze und gleich darauf schmiegt er sich mit seinem Kopf ganz dicht an sie, so daß Staffi, die sich blitzschnell ihren rechten Handschuh auszog, ihm nun liebkosend, wie sie es wünschte, über seinen Kopf und das glatte Fell streicheln kann.

Ganz verwundert steht Cäsars Herr dabei, bis er jetzt ausruft: „Wissen Sie wohl, gnädiges Fräulein, daß mein Cäsar wenigstens bei einer ersten Begegnung noch niemals so zutraulich gegen eine Dame war? Und wenn er sich so zärtlich an Sie schmiegt, gibt es dafür nur zwei Erklärungen, entweder hat er sofort erraten, daß Sie eine große Hundefreundin sind, oder er hat Sie durchschaut und weiß, daß Sie ein sehr guter Mensch sind. Sie müssen nämlich wissen, gnädiges Fräulein, mein Cäsar ist ein großer Menschenkenner vor dem Herrn, ein noch größerer, als ich es zu sein mir manchmal einbilde. Wenn sich mir ein neuer Bekannter nähert, um, wie man so sagt, Freundschaft mit mir zu schließen, dann stelle ich ihn erst durch Cäsar auf die Probe und warte es ab, wie Cäsar sich gegen den verhält. Merke ich es, daß der Betreffende meinem Cäsar nicht gefällt, daß er zu knurren und zu brummen anfängt, dann weiß ich, was das zu bedeuten hat und Cäsars Aversion gegen den einen oder den anderen Menschen hat sich im Laufe der Zeit immer als richtig erwiesen. Habe ich einmal nicht auf ihn gehört, habe ich es später immer bitter bereuen müssen.”

Während Cäsars Herr spricht, schmiegt die Dogge sich weiter zutraulich an Staffi an, diese streichelte ihn weiter und hat zugleich Zeit, sich Cäsars Herrn noch näher anzusehen. Er hat ein sehr energisches, männliches Gesicht mit scharfgeschnittenen Zügen, mit einer hohen weißen Stirn und mit scharf dreinblickenden, fast schwarzblauen Augen. Zu seiner Figur hätte auch gar kein anderer Kopf gepaßt wie gerade dieser. Es ist ein sehr kluges, energisches Gesicht, ob aber auch schön? Darüber wird Staffi sich so schnell nicht klar. Auf jeden Fall ist der Kopf interessant und ein Mann braucht schließlich auch nicht schön zu sein, am allerwenigsten ein Mann, von dem man weiter nichts will, als daß er sich endlich einmal vorstellt, damit man wenigstens weiß, mit wem man es zu tun hat. Das erfordert von seiner Seite doch schon die Höflichkeit, auf Staffis Seite aber verlangt es schon lange die Neugierde. Und schließlich scheint es ihm einzufallen, daß er es bisher unterließ, seinen Namen zu nennen, denn plötzlich hält er mitten in einem Satz inne und meint: „Ach so, Verzeihung, gnädiges Fräulein, ich wollte natürlich nicht unhöflich sein, aber ich bin in den letzten Jahren viel auf Reisen gewesen, namentlich im Ausland, Amerika und Umgegend. Da muß ich mich erst wieder an die heimatlichen Sitten gewöhnen, auch daran, daß es im lieben schönen deutschen Vaterland die Pflicht ist, sich sofort polizeilich anzumelden und sich seinen lieben Mitmenschen gleich vorzustellen. Also gestatten Sie, gnädiges Fräulein, ich heiße Arnold, Dr.ing., evangelisch, gänzlich unverlobt und unverheiratet, polizeilich mit zehn Mark Geldstrafe wegen zu schnellen Autofahrens bestraft, zweimal mit Erfolg geimpft, nein wirklich, gnädiges Fräulein,” fährt er fort, als Staffi ihn verwundert ansieht, weil sie diese Art der Vorstellung nicht versteht, obgleich sie sich im stillen darüber amüsiert, „ich meine das ganz ernsthaft. Sie hätten nur die Löcher sehen sollen, die man ihr [recte wohl: mir! D.Hrsgb.] auf dem Polizeibureau bei meiner Anmeldung aus em Auslande in den Leib fragte. Da habe ich es mir geschworen, in Zukunft jedem gleich freiwillig alles zu erzählen, was er vielleicht im stillen von mir zu wissen begehrt.”

Seine satyrische Art gefällt ihr, schon weil seine Augen beinahe einen übermütigen Ausdruck annehmen, sie freut sich auch zu wissen, wer und wes Geistes Kind er ist. Aber daß sie auch daran Interesse nimmt, braucht er natürlich nicht zu wissen, deshalb fragt sie jetzt lediglich leichthin: „Und trotzdem Sie sich über manches in Deutschland so spöttisch äußern, haben Sie sich nun wieder vorübergehend in der Heimat niedergelassen?”

„Sogar für immer, gnädiges Fräulein,” gibt er zur Antwort, „und hier in der Stadt wenigstens für die nächsten fünf Jahre. Ich habe den Posten des ersten technischen Direktors bei der sicher auch Ihnen dem Namen nach bekannten großen Fabrik von Schulten & Mahlmann übernommen, das heißt, ich trete den Posten am nächsten Ersten an, bis dahin benutze ich die Zeit, mich wieder etwas zu akklimatisieren, meine Wohnung einzurichten, Besuche zu machen, tausend Dinge zu besorgen und zu erledigen. Das interessiert Sie selbstverständlich gar nicht und ich bitte um Entschuldigung, daß ich Ihnen das erzähle, aber daran ist Cäsar schuld. Wenn der sich nicht so gegen Sie benähme, gnädiges Fräulein, als wären Sie beide längst gute Bekannte, würde auch ich nicht vergessen haben, daß Sie mir eine völlig Fremde sind, von der ich nicht einmal den Namen weiß.”

Für einen Augenblick ist Staffi nahe daran, ihm den zu nennen, aber das geht unmöglich. Daß sie sich nun auch ihrerseits ihm vorstellt, das verstieße gegen jede gesellschaftliche Sitte. Außerdem erhöht es für ihn sicher den Reiz der kurzen Bekanntschaft, wenn er nicht gleich erfährt, wer sie ist und so meint sie denn belustigt, aber auch ein klein wenig kokett und verführerisch: „Mein Name tut doch auch nichts zur Sache, Herr Doktor, oder Herr Direktor. Ich weiß nicht, wie die richtige Anrede ist.”

„In Amerika nannte man mich Mister Arnold, hier wird man mich sicher nur Herr Direktor nennen,” fällt er ihr in das Wort, „denn hier ist der Titel alles, der Name kommt ganz zuletzt.”

„Und ich habe nicht einmal einen Titel,” meint sie neckend, „ich bin ein gänzlich unstudiertes junges Mädchen, das sich weder den Doktor noch einen anderen Titel erwarb. Und wenn Sie sich schon darüber lustig machen, daß ein Herr hier immer gleich seinen Namen nennen muß, wie würden Sie da erst lachen, wenn die Damen es in der Hinsicht den Herrn gleich täten. Außerdem wird es nun aber für mich die höchste Zeit, daß ich meinen Weg fortsetze,” lügt sie frisch darauf los, „ich habe noch tausend Besorgungen zu machen, die Eltern könnten mein langes Ausbleiben falsch deuten und befürchten, daß mir ein Unglück zugestoßen sei. Ohne Ihre Hilfe, Herr Direktor, wäre das ja auch tatsächlich der Fall gewesen.”

„Bitte sprechen Sie nicht mehr davon, gnädiges Fräulein,” lehnt er abermals jeden Dank ab, „es war mir ein Vergnügen, Ihnen meine Hände und meine Arme leihen zu dürfen, schon weil ich ohnedem nicht die Freude gehabt hätte, ein paar Minuten mit Ihnen plaudern zu dürfen. Selbstverständlich darf ich Sie nicht aufhalten, wenn Sie keine Zeit mehr haben. Ich darf aber wohl hoffen, daß diese erste Begegnung nicht die letzte bleibt, viellicht führt uns der Zufall auf einer Gesellschaft oder sonst irgendwie einmal wieder zusammen.”

„Das müssen wir wirklich dem Zufall überlassen, Herr Direktor,” gibt Staffi zur Antwort. „Wir haben nicht allzuviel Verkehr und die industriellen und kaufmännischen Kreise sind uns ganz fremd. Aber trotzdem wäre es ja immerhin möglich, daß wir uns einmal wieder begegnen, vorausgesetzt, daß Ihr Cäsar nichts dagegen hat, und daß der nicht mit der Zeit zu der Erkenntnis kommt, er habe mich überschätzt und ich sei doch nicht der gute Mesch, für den er mich heute hält.”

Die letzten Worte sollten nur ein Scherz sein, aber kaum hat sie die ausgesprochen, da ärgert sie sich auch schon, daß sie diese Äußerung machte. Wenn er will, kann er die falsch deuten, kann daraus den Schluß ziehen, es läge ihr etwas an einem neuen Zusammentreffen mit ihm und auch daran, ihm fernerhin als ein guter Mensch zu gelten. Er kann sich bei ihren letzten Worten viel denken, wenn er will, vieles, an das sie selbst nicht im geringsten dachte, aber ihre Befürchtungen erweisen sich Gott sei Dank als grundlos. Er nimmt ihre Äußerung wirklich nur für einen Scherz und lacht fröhlich auf: „Cäsar wird schon gegen eine neue Begegnung nichts einzuwenden haben, gnädiges Fräulein, und im übrigen brauchen Sie nicht zu fürchten, daß Cäsar sein Urteil über Sie noch nachträglich ändern wird. Das hat er noch nie getan. Wem der einmal seine Liebe und Anhänglichkeit entgegengebracht hat, dem bewahrt er die auch.”

Und gleichsam, als wolle Cäsar ihr nun beweisen, wie recht sein Herr habe, schmiegt Cäsar sich womöglich noch dichter an sie, bis er jetzt den Kopf hebt und sie mit seinen großen Augen so treu anblickt, daß ihr ganz eigentümlich um das Herz wird. Die Liebe des schönen Tieres rührt sie, abermals streichelt sie ihn liebkosend mit den Händen, und unbeabsichtigt und unwillkürlich entschlüpft ihr das Wort: „Schon um Cäsars wegen hoffe ich, daß wir uns bald einmal wieder begegnen möchten, Herr Direktor. ”

Abermals lacht der föhlich auf: „Das ist keine große Schmeichelei für mich, gnädiges Fräulein, und wenn ich Talent zur Eifersucht hätte, könnte ich jetzt auf Cäsar eifersüchtig werden.”

„Werden Sie das lieber nicht,” fällt Staffi ihm schnell in das Wort, „dazu hätten Sie keine Veranlassung und auch kein Recht, für beides wäre unsere Bekanntschaft wohl doch noch viel zu kurz. Nun aber müssen Sie mich wirklich entschuldigen, ich muß weiter.”

Aber ganz so schnell geht die Trennung doch nicht vor sich, denn Cäsar will sie absolut nicht fortlassen, er stellt sich ihr direkt in den Weg und gibt erst dann Ruhe, als sein Herr ihn am Halsband nimmt und ihn so zwingt, ihm zu folgen. Aber als Staffi sich endlich verabschiedet hat und sich noch einmal nach Cäsar umsieht, da bemerkt sie, wie die Dogge, obgleich ihr Herr sie immer noch am Halsband festhält, den Kopf nach ihr umwendet, und das nicht allein, sie sieht, wie Cäsar den Versuch macht, sich zu befreien, um ihr nachzulaufen und wie sein Herr ihn mit aller Gewalt zurückhalten muß.

Wie kommt der Hund dazu, sich gleich so an sie zu hängen? Gerade an sie? Das ist ihr unverständlich. Sollte sie, ohne daß sie es bisher wußte, eine große Hundefreundin sein? Sollte Cäsar das mit seinem feinen Instinkt sofort erraten haben, oder ist sie wirklich ein guter Mensch, zu dem das kluge Tier sich hingezogen fühlt? Für schlecht hat sie sich natürlich bisher niemals gehalten, weder für schlecht, noch für verdorben. Sie ist nach ihrer gewissenhaften Überzeugung sogar besser, als viele ihrer Freundinnen, sie hat keinen heimlichen Kurmacher, sie schreibt sich mit keinem Herrn postlagernde Briefe, sie himmelt keinen Sänger und keinen Schauspieler an, sie liest keine verbotenen, schlüpfrigen Bücher, sie ist in ihrem ganzen Denken und Empfinden durchaus normal, ohne deswegen irgendwie prüde und zimperlich zu sein. Selbstverständlich ist sie als ein Kind ihrer Zeit ein aufgeklärtes junges Mädchen, das da genau weiß, daß die Männer im großen und ganzen nicht viel taugen, und daß jeder von ihnen seine Eigentümlichkeiten hat, namentlich wenn es sich bei denen um die Liebe handelt. Die Männer lieben nur mit den Sinnen, die jungen Mädchen nur mit dem Herzen, wenigstens die meisten oder doch sehr viele. Natürlich gibbt es auch unter den jungen Mädchen und unter den jungen Frauen viele, bei denen die Sinne leidenschaftlicher sprechen, als das Herz, aber auch zu denen gehört sie nicht, sie wird auch niemals zu denen gehören. Nein; sie ist tatsächlich in keiner Weise schlecht, und daß sie Onkel Willi den Gefallen tut, für ihn ganz allein die hübschen Kleider, Schuhe und Strümpfe anzuziehen, die er ihr kauft, das ist doch auch nicht schlecht, daraus kann man ihr unmöglich einen Vorwurf machen, sie muß sich dem Onkel doch irgendwie dankbar erweisen — als gute Tochter doch aber auch den Eltern die Ausgabe für ihre Kleider ersparen.

Nein, schlecht ist sie ganz gewiß nicht, sie ist sogar ein guter Mensch, daß sie aber ein so guter ist, daß Cäsar ihr das gleich anmerkt, das hätte sie nicht von sich gedacht. Nun aber, da sie das weiß, ist sie froh und namenlos glücklich, als hätte sie etwas ganz besonders Hübsches geschenkt bekommen, ein hübsches Kleid, oder einen Hut, oder — ach, es ist ja so schwer für sie, sich etwas zu wünschen, sie hat alles, was sie nur haben will. Nur mit ihrem Taschengeld ist es knapp bestellt. Onkel Willi gibt ihr zwar nach jedem Besuch ein aus mehreren Hundert­markscheinen bestehendes Reisegeld mit auf den Weg, und sie nimmt sich auch immer aufs neue vor, sich dieses Geld einzuteilen, und monatlich davon nur einen gewissen Betrag als Taschengeld zu nehmen, aber wozu sind die guten Vorsätze da? Nichts ist langweiliger, als die zu befolgen, und so ist sie denn mit dem Gelde immer sehr schnell wieder fertig, ohne daß sie selbst angeben könnte, wofür sie es ausgab.

Und in der Wunschstimmung, in der sie sich befindet, wünscht sie sich nun ein hohes monatliches Taschengeld. Zwanzig Mark gibt ihr der Vater und sie wünscht sich jetzt noch wenigstens vierzig Mark dazu, nein sechzig, nein noch lieber hundert Mark. Dann will sie auch sparen und wenn sie genug gespart hat, will sie sich etwas ganz besonders Hübsches kaufen und mit einemmal weiß sie auch was, eine Dogge wie Cäsar. Aber die müßte ebenso hübsch und ebenso klug sein. In ihrer Etage könnte sie die Dogge auch dann nicht halten, aber sie würde dann irgendwo in der Nachbarschaft bei guten Menschen, die einen Stall besitzen, den Hund unterbringen, und würde den täglich zweimal zum Spazierengehen abholen.

Aber das sind alles nur Träume. Wer soll ihr wohl ein solches Taschengeld geben? Der Vater? Ausgeschlossen! Und Onkel Willi? Der ist auf dem Ohr taub, das weiß sie aus Erfahrung. Einmal hat sie ihm von ihren monatlichen zwanzig Mark erzählt, in der Hoffnung, das möge er sehr wenig finden und etwas hinzulegen, aber er ist gar nicht weiter darauf eingegangen, sondern hatte das Gespräch sehr schnell auf andere Dinge gebracht. Staffi wird sich in diesem Augenblick wieder darüber klar, wenn sie sich alles in Ruhe überlegt, ist Onkel Willi eigentlich ein großer Egoist, der sie nicht beschenkt, um ihr, sondern um sich selbst damit eine Freude zu machen. Er beschenkt sie nur, wenn sie bei ihm ist. Ihren Geburtstag vergißt er regelmäßig, selbst wenn sie ihn vorher daran erinnert, und auch zu Weihnachten schenkt er ihr nur eine unbedeutende Kleinigkeit, einen großen Kasten mit Süßigkeiten, irgendein Buch oder sonst etwas.

Ja, Onkel Willi ist wirklich ein Egoist, aber dafür kann er schließlich nichts, denn er ist ja auch ein Mann. Na und die Männer! Ihr Vater bildet selbstverständlich eine Ausnahme. Väter sind eben Väter und fallen nicht unter den Gesamtbegriff „Männer”, aber sonst? Wie selten entspricht ein Mann den Erwartungen der jungen Mädchen. Etwas ist immer an ihnen, natürlich an den Männern, nicht an den jungen Mädchen, auszusetzen. Aber für die Fortpflanzung des Geschlechtes und auch aus sonstigen Gründen sind sie nun einmal ein notwendiges Übel. Nicht einmal küssen kann man ohne sie, denn die Küsse, die man den Eltern oder den Freundinnen gibt, zählen nicht mit, wenn man nicht in eine der Freundinnen geradezu verliebt ist. Aber für so etwas hat sie selbst nie Verständnis gehabt, auch in der Hinsicht ist sie rein und unverdorben. Cäsar hat ganz recht, sie ist wirklich ein guter Mensch.

Ihren Gedanken nachhängend schlendert Staffi durch die Straßen, ohne dabei auf die Uhr zu achten, und als sie endlich zu Hause ankommt, kommt sie zu spät. Die Eltern haben mit dem Mittagessen auf sie warten müssen, aber sie bekommt trotzdem keine Ausschelte. Namentlich die Mutter ist so froh und glücklich, daß sie ihr Kind wieder gesund vor sich sieht: „Ich habe mich um dich geängstigt, Staffi, ich fürchtete schon, dir wäre ein Unglück zugestoßen.”

Völlig erstaunt blickt Staffi die Mutter an: „Wieso ein Unglück, Mutter? Was hätte mir wohl geschehen können?”

„Nun, allerlei,” gibt die zur Antwort, „du hättest von einem Wagen, einem Auto, oder von der Elektrischen überfahren werden können, oder wenn das nicht, man kann auf der Straße ausgleiten und hinfallen, oder sich wenigstens den Fuß verstauchen.”

Ob sie der Mutter erzählen soll, daß sie durch eigene Schuld beinahe wirklich hingefallen wäre? Aber da muß sie von dem Direktor sprechen und namentlich von Cäsar, und wenn sie das tut, gesteht sie ein, daß sie sich auf offener Straße solange mit diesem ihr bisher ganz fremden Herrn unterhielt. Das werden die Eltern sicher unpassend finden, denn je älter die Eltern werden, desto komischer und altmodischer werden sie in solcher Hinsicht. Und sie will sich nicht ausschelten lassen, dazu hat ihr die Begegnung mit Cäsar und seinem Herrn zuviel Vergnügen bereitet, das will sie sich nicht trüben lassen. Nein, sie wird nichts sagen, aber das nicht allein, sie darf auch nichts sagen, denn wenn sie ihrer Mutter eingesteht, daß sie beinahe gefallen wäre, würde die sich noch nachträglich deswegen ängstigen und sie würde auch in Zukunft jeden Tag befürchten, sie, Staffi, könne auf ihrem Spaziergang aufs neue ausgleiten und die Mutter würde in der ständigen Furcht leben, sie, Staffi, könne ihr eines Tages doch mit einem gebrochenen Fuß oder mit einem gebrochenen Bein in das Haus gebracht werden. Staffi sieht es ein, selbst wenn sie es wollte, sie darf nicht sprechen. Sie muß schon aus Liebe zu ihrer Mutter schweigen, sie ist doch ein guter Mensch, wie Cäsar es richtig erriet, sie darf die Mutter nicht unnötig in Angst und Sorgen versetzen.

Das alles schießt ihr mit der Geschwindigkeit eines elektrischen Funkens durch den Kopf, so schnell, daß eine ganz kleine Pause entsteht, bevor sie zur Antwort gibt: „Gewiß, Mutter, du hast recht, ein Unfall kann jedem Menschen schließlich auf der Straße zustoßen, aber ebenso wie ich mich, kannst du dich auf meine Beine verlassen. Ich passe schon auf, daß ich nicht stolpere oder gar falle. Nun aber laßt uns bitte essen, ich habe einen Mordshunger mit nach Hause gebracht.”

Nach dem Essen machen die Eltern wie immer einen kleinen Nicker und Staffi hat, als sie in ihrem Zimmer ihre drei Zigaretten raucht, die sie sich jeden Mittag erlaubt, Zeit genug, wieder ihren Gedanken nachzuhängen. Und sie denkt an Cäsar. Sie stellt es sich so hübsch vor, wenn der nun zu ihren Füßen läge und wenn sie ihre hübschen, kleinen Füße auf seinen Rücken legen könnte. Das große, starke, mächtige Tier gehorsam zu ihren Füßen! Sie müßte kein junges Mädchen sein, wenn dieser Gedanke sie nicht reizen sollte. Die Kraft, die sich willenlos der Schönheit unterordnet! Wie lächerlich ist es, wenn ein junges Mädchen vor dem anderen auf den Knien liegt und dieses um ihre Liebe, ihre Freundschaft, oder auch nur darum bittet, ihr nicht mehr böse zu sein. Aber wie berauschend ist es, wenn ein Mann auf den Knien liegt und um Liebe bittet. Aus eigener Erfahrung weiß Staffi leider Gottes noch nicht, wie wundervoll das sein muß, aber sie wird es hoffentlich noch einmal kennen lernen, und soviel weiß sie schon heute, sie wird dem Mann dann nicht gleich zurufen: „Mein Herr, ich liebe auch Sie,” sondern sie wird sich damit Zeit lassen, sie wird sich darum bitten lassen, ihn wiederzulieben, selbst wenn sie es vorher nicht hat abwarten können, bis er ihr seine Liebe gestand. Denn soviel weiß sie auch schon, ein Mann kniet nur einmal vor seiner Frau — bevor sie seine Frau ist. Hat er sie erst geheiratet, dann schilt er, wenn er vor ihr niederknien muß, um ihr das herunter­gefallene Häkelgarn oder etwas ähnliches aufzuheben. Und so sehr ihr Vater auch ihre Mutter liebt, Staffi hat selbst den noch niemals auf den Knien vor ihrer Mutter liegen sehen.

Dann denkt sie wieder an Cäsar, weil ihr Fuß unwillkürlich eine Bewegung machte, als wolle sie den auf Cäsars Rücken legen. Aber Cäsar ist nicht da, aber selbst wenn er es wäre, würde sie den natürlich auch nicht ewig zu ihren Füßen liegen lassen, sondern sie würde ihm ein Zeichen geben, aufzustehen, damit er seinen schönen großen Kopf in ihren Schoß legte, und damit sie den streicheln könne.

Und zum erstenmal in ihrem Leben ertappt sie sich nun bei dem Gedanken, daß es eigentlich sehr schön sein müsse, wenn ein Mann vor ihr knie und seinen Kopf in ihren Schoß bette. Natürlich muß das ein richtiger Mann sein, nicht ein solches Saugflaschenmanderl, wie die Bäuerin in Schönherrs „Weibsteufel”(2), das sie letzthin im Theater sah, ihren Mann nennt. Selbstverständlich hat sie sich das Stück heimlich angesehen, ihre Eltern hätten ihr das wohl nicht erlaubt, deshalb hat sie die gar nicht erst gefragt, um die nicht vielleicht dadurch zu betrüben, daß sie, Staffi, den Wunsch hatte, sich gerade dieses Stück anzusehen. Den Kummer hat sie ihren Eltern erspart. Cäsar hat recht, sie ist wirklich ein guter Mensch, sie sieht das heute immer mehr ein, weil ihre Bescheidenheit ohne Cäsars Dazwischenkunft es ihr sonst verboten hätte, sich ein solches Lob auszusprechen.

Offiziell war sie mit einer Freundin im „Tannhäuser”, heimlich war sie mit drei Freundinnen, die offiziell auch im „Tannhäuser” waren, im „Weibsteufel”, und das Stück hat sie mächtig gepackt. Aber die Bäuerin hat mit ihrer Äußerung recht. Der Bauer ist wirklich ein Saugflaschenmanderl, wenigstens im Vergleich zu dem Grenzjäger, und wenn nun ein solches Saugflaschenmanderl vor ihr auf den Knien läge und seinen Kopf in ihrem Schoß versteckte, wäre das natürlich nicht das Richtige. Im Gegenteil, da müßte sie sich vor sich selbst schämen, daß ein solcher Mann — nein, ein ganz anderer müßte vor ihr knien, einer, der nicht knien will, der sich lange, lange mit aller Kraft und mit aller Energie dagegen sträubt.

Ein Riese, ein Held müßte es sein, wie es Bismarck, oder wenn auch nicht gerade ein Bismarck, so doch einer, der auch groß und stark ist, wenigstens so groß und stark wie — na, wie wer denn nur? Ihr fällt niemand ein, weil sie sich nicht eingestehen will, daß ihr sofort einer eingefallen ist, einer, an den sie von Anfang an dachte, nicht weil sie gerade seinen Kopf zu streicheln wünscht, sondern lediglich, weil er ihr heute morgen durch seine Erscheinung imponierte. Aber es ist ein Unsinn, auch nur eine Sekunde an diesen Doktor Arnold zu denken, denn wenn der nicht zufällig Cäsars Herr wäre, dann wäre sie doch niemals darauf verfallen, sich beinahe fallen zu lassen, dann wäre sie tausend Jahre und länger an ihm auf der Straße vorübergegangen, ohne ihn auch nur ein einzigesmal anzusehen. Denn sie sieht sich nie einen Herrn an, der ihr begegnet, aber trotzdem, oder gerade deshalb achtet sie sehr genau darauf, ob der Herr, der ihr begegnet, sie ansieht. Nicht aus Koketterie, erst recht nicht aus Gefallsucht. Aber, du großer Gott, wozu ist man denn jung und hübsch, warum zieht man sich gut an, doch, weil man gut aussehen will, nein, nicht gut, sondern besser als alle Freundinnen, die man zufällig treffen könnte. Aber man will nicht nur besser aussehen, sondern am allerbesten.

Aber in erster Linie schmückt und putzt sich jedes junge Mädchen nur um ihrer selbst willen, weil sie von Hause aus einen angeborenen Schönheitssinn hat! Wenigstens glauben das die meisten jungen Mädchen.

Auch Staffi glaubt das, als sie nun daran denkt, dann aber beschäftigt sie etwas anderes. Ob dieser Direktor Dr. Arnold sie wohl auch angesehen hätte, wenn sie sich einmal ohne diese Unterhaltung von heut morgen auf der Straße begegnet wären? Hoffentlich, nein, sicher! Eigentlich sehr schade, daß die Mode der ganz kurzen Röcke wieder vorüber ist. Die war so kleidsam, und ihr Rock war so kurz, fast zu kurz. Aber Onkel Willi hatte es nicht anders haben wollen. Der erklärte, entweder kleidet man sich streng nach der Mode, oder man kümmert sich gar nicht um die. Na, da war sie ganz streng modern gegangen, und die hohen Lackstiefel mit dem weißen Tucheinsatz waren dafür noch ein Stück höher geworden. In dem Köstüm hätte sie sicher seine Aufmerksamkeit erregt. Da hätte auch er sie verlangend und begehrend angesehen, wie alle Männer es taten, obgleich sie als wohlerzogenes junges Mädchen sich stellte, als verstände sie diese Blicke nicht. Woher nur selbst die sogenannten Herren den Mut nehmen, einer anständigen jungen Dame zuweilen derartig in die Augen zu sehen, noch dazu, wenn diese die Blicke in keiner Weise herausfordert. Die meisten Herren sind eben zu maßlos frech, nein, nicht frech, aber keck und dreist, aber wer weiß, vielleicht ist es manchmal ganz gut, daß sie es sind, denn schließlich, ein kleines Erlebnis will doch jedes junge Mädchen haben, bevor es in den heiligen Stand der Ehe tritt, vorausgesetzt, daß es tritt. Und auch sie hat natürlich schon ihr kleines Erlebnis gehabt. Es hieß Kurt. Und wenn es auch nur eine harmlose Kinderei war, die sie längst vergessen hat, obgleich sie oft daran zurückdenkt, süß war es doch. Sogar angedichtet hat er sie in den postlagernden Briefen, die er ihr sandte. Und als sie den ersten Kuß von ihm duldete, drohte ihr das Herz vor Angst stille zu stehen, denn im Zimmer nebenan waren die Eltern mit ihren wenigen Gästen, unter denen sich auch Kurts Eltern, ein Major a. D. mit seiner Frau, befanden. Ihr Herz drohte vor Angst auszusetzen, und sie begriff gar nicht, woher Kurt, der doch erst Leutnant werden sollte, schon als Degenfähnrich den Mut nahm, so keck zu sein. Aber da Kurt als früherer Kadett leidenschaftlich für Süßigkeiten schwärmte, hatte er dafür gesorgt, daß es nicht bei dem ersten Kuß blieb. Glücklicherweise hatte er sechs Wochen Urlaub. Das heißt, nur er nannte das „glücklicherweise”, sie selbst war sehr froh, als diese sechs Wochen endlich herum waren, und wenn sie trotzdem, als sie von einander Abschied genommen hatten, abends in ihrem Zimmer bitterlich vor sich hin geweint hatte, dann waren das nur Freudentränen gewesen, die sie vergoß, weil diese Heimlichkeiten hinter dem Rücken der Eltern nun ein Ende hatten. Nur ein Glück, daß sie Kurt nie wiedersah, weil seine Eltern bald in eine andere, billigere Stadt verzogen, und sie hatte auch sonst nie wieder etwas von Kurt gehört. So dankbar sind die Männer!

Wie Dr. Arnold wohl mit Vornamen hieß? Ob wohl auch Kurt? Nein, danach sieht er nicht aus. Den Herren, die Kurt heißen, sieht man das auf den ersten Blick an, die sind alle blond, bartlos, haben etwas Mädchenhaftes in ihrem Gesicht, mit roten Wangen und den leuchtenden, blauen Augen. Nein, Dr. Arnold heißt sicher nicht Kurt, der heißt viel eher Max oder Karl oder Friedrich oder so ähnlich. Kurt ist für einen erwachsenen Mann überhaupt kein Name. der paßt nur für Knaben, Jünglinge oder Fähnriche, und wenn sie selbst später einmal heiratet, darf ihr Mann unter keinen Umständen Kurt heißen, schon damit sie nicht fortwährend an den ersten Kurt, dem sie den ersten Kuß gab, denken muß, wenn sie ihrem zweiten Kurt den ersten Kuß und alle folgenden gibt.

Und mit einemmal glaubt sie auch zu wissen, wie dieser Direktor Dr. Arnold mit Vornamen heißt. Sicher Harald. Den Namen hat sie immer ganz besonders hübsch gefunden und der würde auch zu ihm passen, zu seiner stolzen, aufrechten Gestalt und zu dem männlich entschlossenen Ausdruck seines Gesichtes.

Ob sie Harald, sie meint natürlich den Direktor Dr. Arnold, wohl im Laufe des Winters einmal auf einer Gesellschaft begegnen wird, wie er es hofft? Sie selbst hält es für ganz ausgeschlossen. Die Stadt ist zu groß, man kann unmöglich in allen Kreisen verkehren, und die näheren Bekannten ihrer Eltern bestehen ausschließlich aus ein paar Offiziersfamilien, die ebenso wie die Eltern a. D. sind. Außerdem kennt sie noch eine ganze Anzahl junger Mädchen und Herren, mit denen sie im Sommer auf den Tennisplätzen zusammentrifft, einige dieser jungen Mädchen haben sie hin und wieder auch schon mal eingeladen, aber das ist ihr privater Verkehr, und auch das sind keine kaufmännischen und industriellen Kreise, in denen der Diektor wohl ausschließlich seinen Umgang pflegen wird. Nein, nur der Zufall kann sie außerhalb der Straße jemals wieder mit ihm zusammenführen, und das ist eigentlich recht schade, denn dieser Dr. Arnold hat ihr sehr gut gefallen. Auf den ersten Blick sieht man es dem an, daß er ein kluger Mensch ist. Wieviel mag er nicht auf seinen Reisen erlebt haben. Sicher versteht er auch, klug und amüsant zu erzählen. Und dann ging er auch tadellos angezogen. Kleider machen keine Leute, aber Onkel Willi hatte ganz recht, als er ihr einmal sagte: „Heirate später, wen du willst, Staffi, obgleich es mir persönlich lieber wäre, wenn du vorläufig nicht an das Heiraten dächtest, denn ich glaube, ich würde auf deinen späteren Mann verdammt eifersüchtig sein, obgleich ich nur dein Onkel bin. Aber trotzdem, mache, was du willst, nur heirate niemals einen Mann, der nicht die Mittel und nicht den Geschmack hat, sich gut anzuziehen. Daß das für einen Herrn tausendmal schwieriger ist als für eine Dame, schon weil die Herrenmode selten wechselt, ist klar. Aber ein schlecht angezogener Herr ist überhaupt kein Herr, der ist im besten Falle nur ein Mann.”

Daß dieser Dr. Arnold Geschmack besitzt, beweist die Art, wie er heute angezogen ging, und sicher hat er auch die Mittel, sich dauernd gut zu kleiden, denn als der erste Direktor einer großen Fabrik wird er ein hohes Gehalt beziehen. Na, das kann ihr ja aber einerlei sein, der letztere Punkt könnte sie höchstens interessieren, wenn sie jetzt oder später einmal daran dächte, ihn zu heiraten. Daran denkt sie natürlich nicht, aber plötzlich sieht sie es nicht ein, warum sie eigentlich nicht daran denken soll. Ein Mann muß es doch schließlich einmal sein, warum nicht dieser? Mann ist Mann, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, und wenn er zum Überfluß auch noch Harald heißen sollte, warum denn nicht? Immer vorausgesetzt, daß sie sich später beide nur um ihrer selbst willen lieben sollten. Nur um ihrer selbst willen, und wenn sie ihn später wirklich lieben und heiraten sollte, dann hätte sie Cäsar immer um sich, dann könnte der sie auf ihren Spaziergängen begleiten, und wenn sie allein zu Hause sitzt, während ihr Mann in der Fabrik arbeitet, liegt Cäsar zu ihren Füßen. Er dient ihr als Fußschemel, oder er legt seinen Kopf in ihren Schoß und läßt sich von ihr streicheln und liebkosen. Und warum sollen sie und Harald, sie meint natürlich, warum sollen sie und der Direktor Arnold sich später nicht um ihrer selbst willen lieben? Daß sie ein guter Mensch ist, hat Cäsar ihm verraten, und daß er ein guter Mensch ist, beweist schon, daß er sich einen Hund hält und mit so großer Liebe an dem hängt. Davon ganz abgesehen, scheint auch sie ihm heute morgen gefallen zu haben, sonst hätte er wohl nicht der Hoffnung Ausdruck gegeben, sie möchten einander wieder begegnen. Danach, daß er damit nur eine leere Höflichkeitsphrase hätte sagen wollen, sieht er nicht aus. Allerdings auch nicht danach, daß er einem jungen Mädchen zu Füßen fällt, um ihr seine Liebe zu gestehen. Aber das wäre das wenigste, wie man sich selbst zum Fallen bringen kann, so kann man erst recht andere dahin bringen, daß sie fallen, man muß es nur geschickt anfangen.

Und mit einemmal reizte es sie, den Direktor dahin zu bringen, daß er ihr eines Tages oder eines Abends zu Füßen liegt. Sie sieht es voraus, gerade bei ihm wird es nicht leicht sein, in dahin zu bringen, daß — und sie weiß auch nicht recht, ob und wann sie ihn näher kennen lernen wird, damit — — sie weiß eigentlich alles noch nicht, aber gerade deshalb reizt und lockt sie die Sache nun immer mehr.

Und was Cäsar wohl für ein erstauntes Hundegesicht machen wird, wenn er sieht, daß sein Herr — aber Cäsar muß natürlich mit ihm zusammen vor ihr knien, alle beide, nicht etwa, weil sie, Staffi, iregndwelche Herrschergelüste hätte, nicht etwa aus krankhaften Regungen heraus, sondern einzig und allein, weil es ihr Spaß machen würde. Daraus, daß aus dem Spaß Ernst, Verlobung, Heirat und Kindtaufe werden könne, denkt sie im Augenblick gar nicht mehr, sie beschäftigt sich nur damit, daß er vor ihr knien soll ud gesteht sich dabei offen ein, daß ihr Vorhaben vielleicht nicht ganz brav ist. Ihre Eltern würden das sicher nicht billigen, höchstens dann, wenn sie den Direktor leidenschaftlich liebe und ohne ihn nicht weiterleben könne. Ihr Gewissen sagt ihr auch, daß die Männer nicht dazu da sind, um mit ihnen zu spielen. Aber sie will ja auch nicht mit ihm spielen. Wenn sie später merkt, daß sie ihn nur um seiner selbst willen liebt, ebenso wie er sie, vorausgesetzt, daß es bei ihm dazu kommt — und schließlich, und das gibt den Ausschlag, wenn sie ihrem Vorsatz treu bleibt, dann hat sie diesen Winter etwas vor, und nichts ist so langweilig wie ein Winter, in dem man nichts vorhat. Etwas vor sich zu haben, sich ein Ziel gesteckt zu haben, das ist der Reiz des Lebens, da weiß man überhaupt erst, weshalb man lebt. Staffi sieht es plötzlich ein, ihr bisheriges Leben war zwecklos. Da hat sie dem lieben Herrgott mehr oder weniger die Tage gestohlen, wenn sie nicht gerade bei Onkel Willi zum Besuch war. Aber von nun an soll es anders werden, von heute ab erhält ihr Leben einen tieferen, sittlichen Sinn, denn von heute an hat es einen Zweck!

Als erstes gilt es nun zu erfahren, in welchen Familien der Herr Direktor verkehrt, und festzustellen, ob man zu diesen Familien nicht irgend welche Beziehungen hat oder solche zu diesen in unauffälliger Form anbahnen könnte. Aber an wen soll sie sich nur wenden, um das zu erfahren? An ihre Freundin Emmi? Die weiß immer alles. Die hat ihren Beruf als weiblicher Detektiv verfehlt, die bringt immer alles in Erfahrung, was ihre Freundinnen über diesen oder jenen Herrn, über dieses oder jenes junge Mädchen gern wissen möchten. Wie sie das alles erfährt, ist ihr Geschäftsgeheimnis, wie sie das nennt und das sie um keinen Preis freigibt. Und eins muß man ihr lassen, sie ist äußerst diskret. Was sie ausgekundschaftet hat, vertraut sie nur der an, die sie um diese Auskunft bat, nie einer dritten. Aber trotzdem zögert Staffi lange, ehe sie ihre Freundin Emmi aufsucht. Schließlich nach ein paar Tagen tut sie es doch, und sie hat Glück. Sie trifft Emmi ganz allein an, selbst deren Eltern sind ausgegangen; so kann Staffi ungestört mit ihr plaudern, zuerst über das Wetter, dann über den neuesten Film, dann über die lieben Mitmenschen, bis es Emmi, einer zierlichen, lebhaften Blondine mit lachenden, übermütigen Augen zu langweilig wird und bis sie Staffi zuruft: „Na, nun komme endlich mal zur Sache. Wie er heißt, wirst du doch wenigstens selber wissen, oder soll ich auch das erst für dich ausbaldowern?”

Völlig überrascht, als verstände sie die Freundin tatsächlich nicht, sieht Staffi auf, dann aber fragt sie: „Wie soll ich deine Worte verstehen? Ach so, du meinst, auch ich wäre heute gekommen, um deine Hilfe zu erbitten. Aber du müßtest mich zur Genüge kennen, um zu wissen, daß ich anders bin, als die anderen. Nein, mich führt nur der Wunsch her, etwas mit dir zu plaudern.”

„Das sagen sie alle in diesem Falle!” trällert Emmi vor sich hin, einen bekannten Operettentext für ihre Zwecke etwas verändernd, um gleich darauf hinzuzusetzen: „Das sagen sie alle, aber nur als Einleitung, dann hinterher —” und fröhlich auflachend bittet sie: „Staffi, halte das Geschäft nicht auf. In einer Stunde sind wir nicht mehr allein. Anny hat sich telephonisch bei mir angesagt, die will auch nur etwas mit mir plaudern. Also wie heißt er?”

Und da Staffi sich auch jetzt noch nicht zum Sprechen entschließen kann, fährt Emmi lachend fort: „Na, Staffi, vor mir brauchst du keine Geheimnisse zu haben, denn ich kenne das deine schon. Wenn du neulich auf der Straße deine Augen besser aufgemacht und nicht nur die schöne Dogge und ihren Besitzer angestarrt hättest, müßtest du mich bemerkt haben. Allerdings ging ich auf der anderen Seite der Straße, ich stellte mich da vor ein Schaufenster, oder ich tat wenigstens so, um dich beobachten zu können. Und das Kompliment muß ich dir zollen, du hast die Sache mit dem Stolpern sehr gut gemacht. Es sah wirklich so aus, als ob es ein unglücklicher Zufall sei. Daß es das war, brauchst du mir natürlich nicht erst zu sagen, Staffi, das glaube ich dir doch nicht. Er, dieser Direktor Arnold, hat dir aber selbst­verständlich geglaubt, dafür ist er ja auch ein Mann, allerdings ein sehr hübscher, wenigstens ein sehr gut aussehender.”

„Vor allen Dingen hat er einen wunderschönen Hund,” wirft Staffi ein, ganz verwirrt, daß Emmi sie neulich beobachtet und durchschaut hat. Darüber vergißt sie im Augenblick sogar, daß Emmi auch den Namen des Direktors bereits kennt.

„Ja, die Dogge ist ein selten schönes Tier, ” stimmt Emmi ihr bei, „der Hund ist der Sohn sehr berühmter Eltern, und wie diese ist er selbst auch schon auf verschiedenen Ausstellungen mit dem ersten Preis ausgezeichnet. Bei der letzten Ausstellung in München sind dem Direktor für die Dogge zwanzigtausend Mark geboten worden, aber er hat erklärt, der Hund sei ihm für kein Geld verkäuflich.”

„Woher weißt du das nur schon alles?” fragt Staffi mehr als erstaunt.

Wiederum lacht Emmi fröhlich auf: „Ich bin doch deine Freundin, Staffi, wenigstens nennst du mich heute so und wohl auch in der nächsten Zeit, solange du dich für den Herrn Direktor, besser gesagt für seinen Hund, interessierst.”

„Ich tue selbstverständlich nur das letztere,” stimmt ihr Staffi bei, „wenigstens vorläufig interessiert der Hund mich viel mehr als sein Herr.”

Was Staffi da sagt, entspricht der Wahrheit, aber gerade deshalb glaubt Emmi ihr nicht, schon weil eine Freundin im Grunde ihres Herzens niemals einer Freundin glaubt, denn wenn alle Freundinnen offen und wahr gegeneinander wären, würde es sehr bald keine Freundinnen mehr geben und erst recht keine Freundschaft. Eine Freundschaft ohne gegenseitiges Belügen ist fade und reizlos wie eine Speise ohne Salz. Emmi glaubt Staffi nicht eine Sekunde, gerade deshalb aber sagt sie jetzt: „Das weiß ich, Staffi, deshalb habe ich dir auch erst von Cäsar erzählt. Er heißt nämlich Cäsar, wenn du es noch nicht wissen solltest, sein Herr heißt mit Vornamen Harald.”

„Also doch,” entschlüpft es Staffi unwillkürlich, und unüberlegt setzt sie hinzu: „Also doch Harald, das habe ich mir gleich gedacht.”

„Ich denke, dich interessiert in erster Linie nur die Dogge?” meint Emmi anscheinend ganz verwundert, „wie kommst du nur dazu, über den Vornamen des Direktors nachzudenken?”

„Na, über irgend etwas muß man doch nachdenken,” verteidigte Staffi sich verwirrt, „im übrigen habe ich gar nicht darüber nachgedacht. Ich überlegte mir nur, wie er wohl mit Vornamen heißen könne, na, und ob man sich etwas überlegt, oder über etwas nachdenkt, das sind doch zwei ganz verschiedene Dinge.”

„Bei denen aber trotzdem meistens dasselbe herauskommt, nämlich eine Enttäuschung,” pflichtete Emmi ihr bei, „denn wenn der Herr Direktor auch auf die Namen Harald, Peter, Fritz, Ernst getauft ist, sein Rufname ist trotzdem Peter, sogar sein amtlicher Rufname, denn der erste Name braucht keineswegs zugleich auch immer der Rufname zu sein.”

Staffi muß sich beherrschen, um nicht ihre Enttäuschung zu verraten. Ausgerechnet Peter! Ihr fällt der schwarze Peter ein, und dann hatte ihr Vater früher einmal einen Rappen, der auch Peter hieß, und weil im Stall soviel Ratten waren, hielt der Bursche sich einen Kater, der auch Peter gerufen wurde. Nein, Peter ist wirklich nicht schön. Aber wie er heißt, ist ja schließlich gleichgültig, die Hauptsache bleibt, daß er nicht Kurt heißt.

„Nicht wahr,” meint Emmi nach einer langen Pause, in der sie sich im stillen köstlich über Staffis Enttäuschung amüsierte, „nicht wahr,” wiederholte sie nochmals, „Peter ist für einen Mann kein hübscher Name, schon weil alle Kanarienvögel so heißen.”

„Erlaube mal,” ruft Staffi dagegen, „die Kanarienvögel heißen doch immer Hans oder Hanni, aber Peter? Das habe ich noch nie gehört.”

Das hat auch Emmi nie gehört, sie hat diesen Kanarienvogelnamen nur erfunden, um Staffi ein klein wenig zu necken, trotzdem meint sie jetzt: „Wirklich, Staffi, die meisten Kanarienvögel heißen Peter, aber das ist ja auch ganz gleichgültig. Und auch bei einem Herrn kommt es schließlich doch nicht auf den Vornamen an. Ob Harald oder Peter, was liegt daran, er darf selbstverständlich nur nicht Kurt heißen.”

Staffi muß abermals an sich halten, um sich nicht zu verraten. Ist es Zufall oder Absicht, daß Emmi gerade diesen Namen ausspricht, und wenn sie es absichtlich tut, was bezweckt sie damit? Will Emmi sie vielleicht auf die Probe stellen, ob und weshalb auch sie den Namen nicht mehr liebt? Sollte sie selbst einer ihrer sogenannten Freundinnen doch einmal etwas von ihrem Kurt erzählt haben? Nein, das ist ausgeschlossen, denn von der Kußgeschichte hat sie nicht einmal ihrer allerbesten Freundin — ihrer Mutter — etwas anvertraut. Auch Emmi weiß von diesem kleinen Erlebnis nicht das geringste, und deshalb meint sie jetzt anscheinend nur verwundert: „Warum darf ein Mann nach deiner Ansicht unter gar keinen Umständen Kurt heißen?”

Diesmal blickt Emmi völlig überrascht auf, bis sie meint: „Das fragst du mich,Staffi, die du doch auch ein Soldatenmädel, wenn auch nur ein pensioniertes, bist? Na, und hast du in ganz Preußen und in den sämtlichen Bundesstaaten schon einmal ein Soldatenmädel kennen gelernt, das nicht von einem jungen Leutnant oder wenigstens von einem Fähnrich angeschwärmt und selbstverständlich nur in Gedanken geküßt wurde? Solche Erinnerung hat doch jede von uns, und immer heißt die Kurt. Es ist sonderbar, unter hundert Fähnrichen heißen wenigstens neunundneunzig tatsächlich Kurt, oder hieß deiner zufälligerweise anders?”

„Erlaube mal,” verteidigte Staffi sich, „erstens hieß meiner überhaupt nicht, weil er gar nicht da war, und zweitens —”

„Spricht man nicht darüber,” fällt Emmi ihr in das Wort. „Du brauchst mir auch nichts mehr zu erzählen, denn wer sich so verteidigt, wie du es eben tatest, der gesteht alles ein, Staffi, und ich sehe absolut nicht ein, weshalb du deswegen rot wirst. Du brauchst dich deines Kurts nicht zu schämen, und du brauchst ihn auch nicht zu verleugnen. Ich verleugne meinen Kurt doch auch nicht, ich bewahre heute noch sein Bild auf. Willst du es einmal sehen? Allerdings wärest du die erste, der ich es zeigte.”

In Wirklichkeit also die letzte, denkt Staffi, denn wäre ich wirklich die erste, dann wärest du die letzte, die es mir zeigte, dafür bist gerade du viel zu diskret. Wie lange kennen wir beide uns nicht schon, und trotzdem hast du mir erst heute etwas von deinem Kurt erzählt.

Dann aber wird sie doch neugierig, wie dieser Kurt aussehen möge, und als Emmi ihr gleich darauf das Bild zeigt, ist sie selbstverständlich mehr als enttäuscht. Nein, der Kurt gefällt ihr gar nicht. Ein hübscher, kleiner Kerl ist er ja auch, aber ihr Kurt war viel, viel hübscher. Nein, von diesem hätte sie sich nie, niemals küssen lassen, trotzdem aber sagt sie jetzt: „Das also ist dein Kurt? So hübsch hätte ich ihn mir nicht gedacht. Na, daß du dich damals in den verliebt hast, glaube ich gern.”

„Nicht wahr,” wirft Emmi ein, „im Grunde deines Herzens findest du ihn mordshäßlich. Das kannst du auch ruhig tun, es ist nur nett von dir, daß du es mir wenigstens nicht sagst, wie es die anderen taten, denen ich das Bild vor dir zeigte. Die wollten mich damit ärgern, aber wer andere ärgern will, verrät dadurch immer, daß er sich selbst am meisten ärgert. In diesem Falle darüber, daß dieser Kurt mein Kurt war. Du hast wenigstens so getan, als fändest du ihn hübsch. Zur Belohnung will ich dir nun auch alles erzählen, was ich von diesem Herrn Direktor weiß.”

Gott sei Dank, endlich kommt Emmi zur Sache. Im stillen hat Staffi schon befürchtet, sie würde nun eine endlos lange Kurt-Geschichte mit anhören müssen, aber die scheint selbst für Emmi entgültig [sic! D.Hrsgb.] erledigt zu sein, denn die wirft das Bild mit einer gleichgültigen Handbewegung, die in nichts mehr an einstige zärtliche Liebkosungen erinnert, in das Schubfach zurück. Gott sei Dank, endlich kommt Emmi zur Sache, und unwillkürlich rückt Staffi etwas näher mit ihrem Stuhl heran: „Ach ja, bitte, erzähle, aber erst verrate mal, woher weißt du denn überhaupt etwas?”

„Ich weiß sogar alles,” erklärte Emmi stolz, „und ich will dir sogar ausnahmsweise gestehen, woher meine Kenntnisse stammen, weil diese nicht mein Verdienst sind. Du kennst ja meine Tante, die verwitwete Frau Konsul Schrödter in der Bismarckstra0e.”

„Gewiß kenne ich die,” stimmt Staffi ihr bei, „aber was ist mit der und was hat die mit dem Direktor zu tun? Deine Tante ist doch mindestens schon fünfzig Jahre alt.”

„In Wirklichkeit ist sie erst einundvierzig,” widerspricht Emmi ihr, „aber das schadet nichts, du brauchst trotzdem nicht zu fürchten, daß die irgendwelche Absichten auf den Direktor hat, trotzdem der sie vor ein paar Tagen eine ganze Weile in seinen Armen hielt.”

Staffi fühlt, wie die Eifersucht in ihr wach wird, Nein, nicht die Eifersucht, aber doch so etwas ähnliches. Sie versteht den Direktor nicht, aber erst recht nicht die Tante, die Frau Konsul. Selbst mit einundvierzig Jahren ist man, wenn man selbst noch nicht so alt ist, doch schon immerhin eine alte Frau, und die hat sich von dem Direktor in den Armen halten lassen? Sie selbst ist gewiß keine alberne, prüde Person, aber das findet sie denn doch im höchsten Grade unpassend.

Bis Emmi plötzlich hell auflacht: „Du, Staffi, dein Gesicht war eben glänzend. Das hättest du nur selbst im Spiegel sehen sollen. Aber du tatest meiner Tante in Gedanken bitter unrecht. Da du ja schon bei ihr warst, weißt du, daß meine Tante in der ersten Etage wohnt, in der Etage über ihr hat ganz zufällig der Direktor gemietet. Wenn es dich interessiert, sieben Zimmer, Bad, Gas, elektrisch Licht, Zentralheizung, aller Komfort der Neuzeit, Mietpreis viertausend Mark.”

„Aber warum soll mich das wohl irgendwie interessieren?” wirft Staffi ein.

„Gott, man kann ja nie wissen,” meint Emmi so scheinheilig wie nur möglich, „denn wenn ein Junggeselle eine so hohe Miete bezahlt, muß er von Hause aus sehr vermögend sein oder wenigstens ein sehr hohes Gehalt beziehen. Ich glaube, bei dem Direktor trifft beides zu, wenigstens hat er meiner Tante gegenüber in der Hinsicht ein paar Äußerungen fallen lassen. Aber das gewiß nicht aus den Gründen, die du vielleicht wieder vermutest,” setzte Emmi belustigt hinzu, als sie bemerkt, daß Staffi, ohne es vielleicht zu wissen, abermals ein Gesicht macht. „Der Direktor hat das alles meiner Tante lediglich gesprächsweise angedeutet, als er in den letzten Tagen ein paarmal bei ihr war, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen.”

„Deine Tante ist krank?” erkundigte Staffi sich nun mit ehrlichster Anteilnahme, denn die Teilnahme, die ein weibliches Wesen an einem anderen nimmt, das krank ist, ist immer echt, schon weil eine Kranke einer Gesunden, wenn auch nur vorübergehend, in keiner Weise gefährlich werden kann. Wenn eine Frau der anderen baldige Besserung und völlige Genesung wünscht, so ist das eine der größten Lügen, die eine Frau aussprechen kann. Das soll natürlich nicht heißen, daß sie mit der guten Besserung den Tod wünscht, aber wie selten trauert eine Frau der anderen wirklich mit dem Herzen nach? Die Hauptsache ist, daß man selbst am Leben bleibt. Je geringer die Konkurrenz, desto schöner und begehrenswerter erscheint die eigene Person, nicht nur sich selbst, sondern erst recht den anderen.

Staffis Teilnahme an der Erkrankung der Frau Konsul ist so echt wie nur möglich, und deshalb beeilt Emmi sich auch, die Freundin zu beruhigen. „Du brauchst dich nicht zu ängstigen, Staffi, meine Tante hat sich nur den linken Fuß verstaucht und muß etwa noch eine Woche das Zimmer hüten. Die Sache hätte viel schlimmer werden können. Meine Tante ist mit dem linken Fuß auf der Marmortreppe ausgeglitten, da die Läufer geklopft wurden. Sie ist natürlich ausgeglitten, Staffi, ohne jede eigene Schuld, und sie wäre erbarmungslos der Länge nach vornüber gestürzt, wenn nicht durch einen Zufall der Direktor in demselben Augenblick die Treppe emporgestiegen wäre und meine Tante in seinen Armen aufgefangen hätte. Vor Schrecken ist meine Tante, die sich schon mit zerschlagenen Gliedern daliegen sah, ohnmächtig geworden, und der Direktor hat sie die Treppe hinauf und in ihre Wohnung getragen.”

Staffi atmet erleichtert auf. So also hängt es zusammen, daß der Direktor die Frau Konsul längere Zeit in seinen Armen hielt. Dabei ist nun natürlich nichts Unpassendes mehr. Es war höchstens durchaus unpassend, wenn Emmi ihr vorhin einen Schrecken einjagen oder sie wenigstens necken wollte. Aber das darf sie nicht sagen, so äußert sie nur ihre Teilnahme an dem Befinden der Frau Konsul: „Das tut mir aber wirklich aufrichtig leid, Emmi. Deine arme Tante! Na, hoffentlich hat sie nicht zu große Schmerzen, bitte, bestelle ihr meine besten Grüße und meine besten Wünsche. Wenn ich nicht fürchten müßte, aufdringlich zu erscheinen, würde ich sehr gern einmal zu deiner Tante gehen und mich persönlich nach ihrem Befinden erkundigen.”

„Ja, tue das,” stimmt Emmi ihr bei, „darüber würde meine Tante sich sicherlich sehr freuen, und davon, daß dein Kommen aufdringlich erscheint, ist natürlich nicht die Rede. Auch jede Stunde deines Besuches würde meiner Tante gleich lieb sein, aber am besten würde es wohl nachmittags mit dem Glockenschlag fünf Uhr passen.”

Etwas verwundert sieht Staffi auf: „Warum gerade mit dem Glockenschlag fünf?”

„Weil mit dem der Direktor des Nachmittags aus dem Bureau nach Hause kommt,” gibt Emmi gelassen zur Antwort.

„Aber ich will doch dem Herrn Direktor keinen Besuch machen,” verteidigte Staffi sich mit glühendheißen Wangen. ,Diese Emmi ist zu schlau, vor der kann man nicht genug auf der Hut sein, und sie hatte es mit dem Besuch bei der Frau Konsul doch so gut gemeint!'

„Das weiß ich natürlich, Staffi,” pflichtet Emmi ihr bei, „aber daß du meine Tante nicht aufsuchen würdest, wenn nicht der Herr Direktor in demselben Hause wohnte, nein, Staffi, für zu dumm darfst du mich aber auch nicht halten. Und dann stelle dir mal die Freude vor, wenn du und Cäsar einander wiederseht. Seinetwegen mußt du es schon so einrichten, daß du den geplanten Besuch möglichst nachmittags um fünf Uhr abstattest.”

„Ja, ja, du hast recht, Emmi, schon Cäsars wegen muß ich pünktlich sein,” ruft sie aus, und sie ist schon am nächsten Tage pünktlich. So pünktlich, daß sie bereits vor der Haustür mit dem Direktor zusammentrifft. Er kommt von rechts, sie von links, und mit ihm kommt Cäsar. Nein, die Freude der Dogge, als er sie wiedersieht. Der Hund ist nicht zu halten. Mit einem mächtigen Satz springt er auf sie zu, stellt sich auf die Hinterbeine und legt seine mächtigen Tatzen auf ihre beiden Schultern, während er zugleich den Kopf an den ihrigen schmiegt. Es ist ein ordentliches Gewicht, das sie da zu tragen hat, und sie muß sich Mühe geben, um es tragen zu können. Für einen Augenblick ist ihr, als solle sie mit den Beinen einknicken, dann aber drückt sie die Knie fest durch, stemmt die Füße energisch auf den Boden, richtet den Oberkörper hoch auf und nimmt dann die Brust heraus, wie man das beim Militär nennt. Staffi weiß, sie macht dabei eine gute Figur. Ihr Wuchs kommt zur vollen Geltung. Und das muß auch den [sic! D.Hrsgb.] Direktor auffallen und gefallen. Während sie anscheinend nur den Hund liebkost, schielt sie heimlich und verstohlen zu seinem Herrn hinüber, und sie bemerkt mit stolzer Genugtuung, daß er keinen Blick von ihr abwendet, ja, daß er sogar ganz vergißt, die Dogge zurückzurufen.

Endlich tut er es doch und wenn auch etwas zögernd, folgt Cäsar seinem Ruf. Gleich darauf aber bittet der Direktor Staffi um Entschuldigung: „Sie dürfen Cäsar nicht böse sein, gnädiges Fräulein, daß er sie derartig belästigte. Das ist nun einmal sein Willkommengruß, wenn er einen Menschen, was allerdings nur sehr selten vorkommt, vollständig in sein Hundeherz geschlossen hat. Hätte ich geahnt, daß ich Sie hier treffen würde, gnädiges Fräulein, hätte ich Cäsar an die Leine genommen, und das werde ich auch in Zukunft tun, denn hoffentlich sehe ich Sie heute nicht zum letztenmal, gnädiges Fräulein, ich vermute, daß auch Sie hier in dieser Straße, oder wenigstens in deren nächster Nähe wohnen, oder sollte es wirklich nur ein Zufall sein, der Sie heute an diesem Hause vorüberführt?”

„Nur ein Zufall,” gibt sie schnell zur Antwort, denn davon, daß sie absichtlich hierher kam, braucht er nichts zu wissen, sonst könnte er sich einbilden, sie sei tatsächlich nur seinetwegen gekommen, und sie wollte doch nur Cäsar wiedersehen. Aber sie wollte doch auch noch etwas anderes? Was war das doch noch? Richtig, nun fällt es ihr wieder ein, Emmis Tante! Und so setzt sie denn hinzu: „Wenn ich eben sagte ,nur ein Zufall', so stimmt das nicht ganz. Man könnte es höchstens einen Zufall nennen, daß Sie in demselben Hause wohnen, wie die Frau Konsul Schrödter, die Tante meiner liebsten und besten Freundin. Die hat mir von dem Ritterdienst erzählt, den sie der Frau Konsul leisteten. Von der hörte ich auch, daß die Ärmste mit dem kranken Fuß das Zimmer hüten muß, da wollte ich mich einmal persönlich nach dem Befinden der gnädigen Frau erkundigen, sie tut mir so leid, denn sie ist wirklich eine außerordentlich nette und liebenswürdige Dame.”

„Ja, das ist sie,” stimmt er ihr aus ehrlichster Überzeugung bei. „Auch ich habe die Frau Konsul in das Herz geschlossen. ich weiß selbst nicht, wie es kommt, ich bin sonst eine sehr verschlossene Natur, und es gehört viel dazu, ehe ich einen [sic! D.Hrsgb.] Menschen etwas von mir und meinem Leben anvertraue. Aber der Frau Konsul gegenüber ist es etwas anderes. Die erscheint mir wie die Liebe und Güte selbst, und wenn ich ein paar Minuten mit ihr verplaudere, ist mir immer, als säße ich bei meiner leider viel zu früh verstorbenen Mutter.”

Staffi atmet bei dem Wort „Mutter” völlig erleichtert auf. Im stillen hat sie gefürchtet, er könne andere Empfindungen für die Frau Konsul hegen, denn wenn die wirklich erst einundvierzig Jahre sein sollte — aber nein, da hat Emmi sicher gelogen. Wer weiß, was die sich hinterher von ihrer Tante dafür schenken läßt, daß sie der zehn Jahre ablog, denn Ende der Vierzig ist sie sicher, aber selbst, wenn sie nur einundvierzig zählen sollte, ist sie für den Herrn Direktor viel zu alt, denn der ist allerhöchstens Anfangs der Dreißig.

Das Wort „Mutter” ist Staffi glatt heruntergegangen, so stimmt sie ihm nun bei: „Ja, ja, die Frau Konsul hat wirklich etwas Mütterliches an sich,” bis sie gleich darau meint: „Sie haben Ihre eigene Mutter schon früh verloren? Das tut mir aufrichtig leid, denn gerade den Verlust einer Mutter überwindet man wohl sehr schwer, wenn überhaupt jemals.”

„Nienals, niemals!” ruft er ihr zu, und ihr ist, als wäre ein Zittern in seiner Stimme. Dann erzählt er ihr plötzlich, wie er vor fünf Jahren drüben im Auslande den Tod der Mutter erfuhr. Er erzählt ihr, eine wie schöne und gute Frau die war, wie er es der verdanke, daß er eine so sonnige Jugend hatte. Er spricht von seiner Jugend und von vielem anderen. Und während er mit ihr plaudert, geht er langsam mit ihr vor dem Hause auf und ab, und Cäsar folgt ihnen, seinen Kopf fortwährend an Staffi anschmiegend. Der Direktor erzählt und erzählt, bis er sich plötzlich unterbricht: „Was mögen Sie nur von mir denken, gnädiges Fräulein? Erst setze ich Ihnen auseinander, daß ich eine verschlossene Natur bin, und nun rede ich darauf los wie ein Backfisch, der sich seiner besten Freundin anvertraut. Aber es geht mir mit Ihnen wie mit der Frau Konsul, gnädiges Fräulein. Auch bei Ihnen habe ich die Empfindung, als wären wir längst alte Bekannte. Das dürfen Sie mir nicht übel nehmen, denn ich werde den Gedanken nicht los, als hätte ich Sie bereits vor vielen Jahren einmal gesehen. Vor vielen Jahren, als Sie noch jünger waren, als Sie es heute sind. Vielleicht, daß Sie mir heute Ihren Namen nennen und daß ich dadurch auf die richtige Spur komme. Und wenn Sie mir zum Überfluß auch noch sagen wollen, ob Sie immer in dieser Stadt lebten oder früher wo anders, dann hilft mir mein Gedächtnis, das mich eigentlich noch nie im Stich gelassen hat, hoffentlich weiter.”

Staffi erfüllt seine Bitte, sie nennt ihren Namen, sie zählt die Garnisonen auf, in denen ihr Vater früher als Offizier stand, und mit einemmale leuchteten seine Augen hell und freudig, während er ihr zugleich triumphierend zuruft: „Ich hab's, gnädiges Fräulein, ich hab's! Nun weiß ich es. Die kleine Stadt, in der Ihr Vater als Major stand, ist meine Heimat. Es stand damals nur ein Bataillon Infanterie in Garnison. Ich sehe jetzt auch Ihren Herrn Vater ganz deutlich wieder vor mir. Er ritt mit Vorliebe einen wundervollen Schimmel, den ich immer bewunderte, wenn er an der Spitze seines Bataillons durch die Straßen der Stadt ritt. Und auch Ihrer erinnere ich mich jetzt wieder ganz genau, gnädiges Fräulein. Sie müssen damals etwa zwölf Jahre alt gewesen sein. Wenn Sie zur Schule gingen, führte Ihr Weg Sie stets an dem Hause meiner Mutter vorbei, und wenn ich auch selbst viel älter war als Sie, ich habe Ihnen oft heimlich und verstohlen nachgeblickt. Um mich in Sie zu verlieben, waren Sie zu jung, und ich hatte für solche Sachen auch keine Zeit. Meine Mutter war arm, und da mußte ich arbeiten und lernen, um später in der Welt vorwärts zu kommen. Meine Mutter hatte gar keinen Verkehr, wenigstens in ganz anderen Kreisen, wie Ihre Eltern, gnädiges Fräulein. Deshalb ist Ihnen mein Name damals natürlich nie zu Ohren gekommen. Aber trotzdem, daß wir uns hier nun wiedersehen und uns nach so langen Jahren noch persönlich kennen lernen und auch das nur durch einen Zufall, denn wenn Sie vor ein paar Tagen nicht auf der Straße ausgeglitten wären, gingen wir auch jetzt noch fremd an uns vorüber.”

Voller Interesse hat Staffi ihm zugehört. Die kleine Stadt, von der er sprach, taucht wieder vor ihr auf. Sie sieht sich wieder jeden Tag zur Schule gehen, auch auf den Schimmel kann sie sich wieder besinnen, schon weil er so furchtbar haarte und weil sie von der Mutter immer Schelte bekam, wenn sie sich im Stall aufgehalten und den Schimmel gestreichelt hatte. Die Jugend taucht wieder vor ihr auf, und so meint sie denn jetzt: „Ja, ja, das ist wirklich mehr als ein Zufall, daß wir uns hier treffen und Erinnerungen austauschen können. Das wird meinen Eltern auch viel Spaß machen, wenn ich ihnen davon erzähle. Namentlich der Vater wird sich freuen, daß Sie sich seiner noch erinnern. Vielleicht, nein sicher, lernen Sie meine Eltern einmal kennen, mein Vater wird Sie bitten, zu uns zu kommen aber eins müssen Sie mir schon jetzt versprechen, Herr Direktor, Sie dürfen meiner Mutter nicht erzählen, daß ich neulich um ein Haar hingefallen wäre und daß Sie mich auffingen. Meine Mutter ist so unglaublich ängstlich, die hätte in Zukunft zu Hause keine ruhige Minute mehr, wenn sie wüßte, daß mir neulich ohne Ihr Dazwischenkommen ein Unglück zugestoßen wäre.”

„Ja, ja, so sind die Mütter in ihrer Liebe und Fürsorge, gnädiges Fräulein,” stimmt er ihr bei, aber trotzdem ärgert sie sich über das, was sie ihm zuletzt sagte. Was soll er nur von ihrer Mutter denken, wenn er ihr wirklich glaubt? Da muß er doch annehmen, daß sie zum mindesten schwachsinnig sei, um ihr erwachsenes Kind nicht auf die Straße gehen zu lassen, ohne sich deswegen zu ängstigen. Und warum hat sie ihm erzählt, der Vater würde ihn sicher bitten, ihm einen Besuch zu machen? Ob dem Vater tatsächlich etwas daran liegen wird, die Bekanntschaft eines Herrn Direktors zu machen, lediglich weil der vor vielen Jahren den Vater anstaunte, wenn er auf seinem Schimmel vorbeiritt? Ebensogut könnte sich ja ihr Vater darüber freuen, wenn die ganze damalige Jugend aus der einstigen Garnison bei ihm anmarschiert käme, um ihm ihre Aufwartung zu machen. Staffi sieht es zu spät ein, sie hat unüberlegt gesprochen und gehandelt, sie hätte es abwarten müssen, ob er vielleicht um Erlaubnis bitten würde, sich auch ihren Eltern vorstellen zu dürfen, denn da die Männer nur dann schlau und klug sind, wenn sie es am wenigsten sein sollen, wird er sie jetzt durchschauen. Er wird erraten, warum sie die erste Begegnung mit ihm den Eltern verschwieg. Er wird es erraten, daß sie sich in Gedanken viel mit ihm beschäftigte, daß sie hoffte, die Bekanntschaft erneuern und fortsetzen zu können und noch manches mehr. Aber ihre Befürchtungen erwiesen sich als grundlos. Fröhlich und unbefangen, mit einem leisen, glücklichen Lächeln auf den Lippen, das seinem ersten [recte wohl: ernsten. D.Hrsgb.], männlichen Gesicht einen außerordentlich sympathischen Reiz verleiht, steht er ihr gegenüber, während er sie immer noch ansieht bis er plötzlich sagt: „Wissen Sie wohl, gnädiges Fräulein, woran ich Sie gleich wiedererkannt habe, unbewußt auch schon an dem ersten Tage, als Sie mir noch Ihren Namen verschwiegen? Zunächst natürlich an ihren wundervollen, braunen Augen, nein, gnädiges Fräulein, Sie brauchen deswegen gar nicht zu erröten und verlegen zu werden. Ihre Augen sind tatsächlich wunderhübsch, und was das Seltsame an ihnen ist, die haben noch denselben Ausdruck wie früher, obgleich man doch sonst immer sagt, in den Entwicklungs- und Übergangsjahren pflegt sich nichts so zu verändern, wie der Ausdruck der Augen. Aber Sie hatten für mich noch ein anderes Erkennungszeichen. Der ganz kleine Leberfleck über dem linken Auge. Der war schon damals kaum zu sehen, und jetzt ist er unter den dichten Wimpern erst recht nicht zu bemerken, aber mir fiel er neulich doch gleich auf, und ich habe mir mein Gehirn zermartert, wo, wann und bei wem ich diesen kleinen Leberfleck schon einmal gesehen hätte.”

„Na, nun wissen Sie es ja,” ruft sie ihm zu, nicht gerade angenehm davon berührt, daß er ihren Schönheitsfehler, wie sie den nennt, gleich wieder entdeckte.

Aber der Herr Direktor scheint es gar nicht zu verstehen, daß sie etwas gekränkt ist, sondern meint lustig: „Jawohl, gnädiges Fräulein, nun weiß ich es, Gott sei Dank!” Und er gibt seiner Freude darüber so offen Ausdruck, daß Staffis Ärger bald wieder verschwindet, ja, daß sie sich zum erstenmal in ihrem Leben über diesen kleinen Leberfleck freut.

Miteinander plaudernd, gehen sie immer noch zusammen auf und ab. Wieder spricht er von seiner Heimatstadt, an der er mit allen Fasern seines Herzens zu hängen scheint, und immer aufs neue gibt er ihr Gelegenheit, sein Gedächtnis zu bewundern. Er erinnert sie an kleine Episoden ihrer Jugendzeit, die ihr längst entfallen sind. Er weiß sogar noch, daß sie einmal ein dunkelrotes Kleid trug mit weißem Leinenkragen und weißen Handmanschetten. Er erzählt ihr, wie traurig er war, als ihr Vater versetzt wurde, und wie oft er vergebens nach ihr ausgeschaut habe, bis er sich endlich darein fand, daß er sie nie wiedersehen würde. er erzählt, und Staffi hört ihm voller Freude zu. Es schmeichelt ihrer Eitelkeit, daß sie schon als Kind einen solchen Eindruck auf den älteren Schüler machte, und es schmeichelt ihr, daß er ihr die ganzen Jahre hindurch ein solches Gedenken bewahrte. Er plaudert und plaudert, bis er ihr endlich zuruft: „Um Gottes willen, gnädiges Fräulein, mir fällt eben ein, daß Sie doch nicht hierher gekommen sind, um mit mir ein unverhofftes Wiedersehen zu feiern, oder um mir wenigstens dazu unverhofft Gelegenheit zu geben. Sie wollten ja der liebenswürdigen Frau Konsul einen Besuch abstatten. Hoffentlich erzählen Sie der nicht, daß ich Sie so lange aufhielt, noch dazu auf offener Straße. Ich sehe es jetzt da drüben an der Normaluhr, fast eine Stunde sind wir hier auf und ab gegangen, mein Herz und meine Zunge gingen mir durch, das macht die Erinnerung an die Jugendzeit.”

Staffi hätte es lieber gehört, wenn er gesagt hätte: das macht de Freude des Wiedersehens mit Ihnen, gnädiges Fräulein. Aber schließlich hat er ja auch das gesagt, wenn auch mit etwas anderen Worten. So reicht sie ihm denn nun zum Abschied freundlich die Hand, denn es wird wirklich Zeit, sich zu verabschieden, wenn sie der Frau Konsul noch einen, wenn auch nur kurzen Besuch machen will. Natürlich liegt ihr an dem gar nichts. Am liebsten würde sie ihm zurufen: Ach was, auf diesen Besuch pfeife ich! Die Frau Konsul wird auch so schon wieder gesund werden, ohne daß ich mich nach ihrem Befinden erkundige.

Aber das darf sie nicht, es könnte ihn verletzen, wenn sie sich teilnahmslos an dem Befinden der Frau Konsul, die er sehr zu verehren scheint, zeigen würde. Es bleibt ihr nichts anderes übrig, sie muß diesen Besuch machen, und obgleich sie sich schon von ihm verabschiedete, betreten sie dennoch jetzt zusammen das Haus, sie steigen zusammen die Treppe hinauf, aber als er sich dann in der ersten Etage von ihr verabschieden will, fragt sie plötzlich: „Wie ist es, Herr Direktor, wollen Sie sich nicht auch einmal wieder nach der Frau Konsul umsehen?” Und erklärend setzt sie hinzu: „Sie dürfen mich um Gottes willen nicht falsch verstehen, Herr Direktor, abe es ist vielleicht besser, wenn Sie mich begleiten. Man muß doch mit der Möglichkeit rechnen, daß man uns solange vor dem Hause auf und ab gehen sah. Vielleicht hat auch die Frau Konsul uns zufällig vom Fenster aus beobachtet, und ich muß, wenn ich nun bei der allein erscheine, ein langes, neugieriges Verhör über mich ergehen lassen, woher ich Sie schon kenne und was wir miteinander so lange zu plaudern hatten. Und wer weiß, ob man mir glauben würde, daß wir Jugenderinnerungen austauschten.”

„Ich glaube allerdings kaum, gnädiges Fräulein,” gibt er zur Antwort, „daß gerade die liebenswürdige Frau Konsul sich etwas Schlechtes dabei gedacht haben sollte, wenn sie uns wirklich beobachtete. Aber trotzdem, ich sehe es jetzt erst ein, wie unrecht es von mir war, Sie so lange auf der Straße festzuhalten. Das größte Kleinod einer jeden jungen Dame ist ihr guter Ruf. Natürlich darf ich nicht schuld daran sein, daß der Ihrige durch mich irgendwelchen Schaden erleidet. Ich war mehr als unvorsichtig, erst das lange Gespräch vor der Haustür, dann das gemeinsame Betreten des Hauses. Die Nachbarn wissen, daß ich hier wohne, die wissen aber nicht, daß Sie, gnädiges Fräulein, zu der Frau Konsul wollen. Die könnten vielleicht glauben, Ihr Besuch gelte mir. Solcher Vermutung muß natürlich von Anfang an ein Ende gemacht werden, und schon aus dem Grunde haben Sie recht, es ist besser, ich mache mit Ihnen zusammen der Frau Konsul meine Aufwartung.”

An das, was er ihr da erzählte, hat Staffi mit keinem Gedanken gedacht, sie forderte ihn aus einem anderen Grunde auf, sie zu begleiten. Sie wollte lediglich eine Gelegenheit haben, den Eltern heute abend in unauffälliger Weise von der Begegnung mit ihm sprechen können. Jetzt aber tut sie, als wären seine Gedanken auch die ihrigen gewesen, und sie meint jetzt: „Ich danke Ihnen, Herr Direktor, und ich freue mich herzlich, daß Sie meiner Ansicht sind. Ich mochte Ihnen das nur nicht mit so klaren Worten sagen, wie Sie es eben taten. Nicht wahr, Sie fühlen mir das ohne weiteres nach? Die Bedenken, die Sie da nachträglich äußerten, wurden in mir gleich wach, als wir zusammen das Haus betraten. Aber jeglichem Gerede wird sofort die Spitze abgebrochen, wenn Sie mich zu der Frau Konsul begleiten.”

„Selbstverstädnlich,” pflichtet er ihr bei, und zusammen mit Cäsar betreten sie jetzt die Wohnung der Frau Konsul.

Eine kleine Stunde später ist Staffi wieder zu Hause. Sie ist, weil der Direktor und Cäsar mit da waren, bei ihrem Besuch etwas länger sitzen geblieben, als sie wollte. Und es war nur gut, daß sie den Herrn Direktor mitbrachte. Die Frau Konsul hatte die ganze Zeit, als sie mit dem vor dem Hause auf und ab ging, am Fenster gesessen und sie beide beobachtet. Das hat sie offen zugegeben, ja, sie hat es sogar gleich unaufgefordert erzählt, als Staffi mit dem Direktor zusammen bei ihr eintrat. Wie gut, daß der Direktor sie begleitete, wie gut, wie gut! Er hat nur zu recht, das köstlichste Kleinod eines jeden jungen Mädchens ist sein guter Ruf. Gewußt hat sie das natürlich schon immer, aber heute ist es ihr erst wieder eingefallen. Nur ein Glück, daß ihr guter Ruf keinen Schaden erlitt.

Auch heute ist Staffi zu Hause voller Ungeduld erwartet worden. Die Eltern essen mit dem Glockenschlag sieben zu Abend, und erst kurz vor dieser Zeit kommt Staffi zurück. Aber dafür hat sie nun auch unendlich viel zu erzählen: „Vater und Mutter, denkt euch nur, wen ich bei der Frau Konsul kennen gelernt habe. Ihr erinnert euch, daß ich der heute Nachmittag einen Besuch machte. Emmi hat mir erzählt, die Frau Konsul hat neulich auf der Treppe einen Unfall gehabt. Na, durch die Dazwischenkunft eines im Hause wohnenden Herrn ist die Sache noch ziemlich glimpflich abgelaufen. Ach so, das wißt ihr ja schon alles,” unterbrach sie sich, „das habe ich euch bereits erzählt. Aber denkt euch nur, ich habe diesen Herrn bei der Frau Konsul zufällig kennen gelernt. Als ich kaum bei der Platz genommen hatte, erschien er, um sich, wie alltäglich, nach dem Befinden seiner mütterlichen Freundin, wie er die nennt, zu erkundigen. Natürlich wollte ich gleich aufstehen und mich entfernen, um das Zusammensein der beiden nicht zu stören, aber die Frau Konsul bat mich in liebenswürdigster Weise, doch noch zu bleiben, und auch er bat darum, da er ja sonst fürchten müsse, als Störenfried zu erscheinen. Na, was blieb mir da anders übrig, als zu bleiben? Und schließlich hat es mir auch nicht leid getan, denn als wir erst in das Plaudern gekommen waren, stellte es sich heraus, daß wir alte Bekannte waren. Das heiß, er kennt mich von Ansehen schon aus der Zeit, da ich noch in kurzen Kleidern in die höhere Töchterschule ging, und auch deiner erinnert er sich noch sehr genau, Vater. Er stammt aus der Stadt, in der du damals das Bataillon führtest. Er sagt, er hätte es dutzende Male mit angesehen, wenn du an der Spitze deiner Truppe durch die Straßen der Stadt rittest. Sogar des Schimmels, den du damals hattest, erinnert er sich noch, und er sagt, du und der Schimmel, ihr hättet wundervoll zusammen gepaßt. Roß und Reiter, wie er es nannte, jeder für sich schon eine Sehenswürdigkeit, und nun erst beide zusammen! Er würde das Bild aus seiner Jugendzeit nie wieder vergessen.”

Was Staffi da erzählt, ist meistens freie Erfindung, aber sie erreicht ihren Zweck, denn was sie sagt, schmeichelt ihrem Vater. Der ist niemals ein übertrieben glänzender Reiter gewesen, und auf den Schimmel kann er sich zuerst gar nicht besinnen. Dann fällt der ihm wieder ein. Ach so, ja, der Max! Max hat er geheißen und ein bildschöner Kerl war er gewesen, ein Paradegaul, wie er im Buche steht. Dazu ein Blender, dem man sein Alter nicht ansah, und taub war das Luder, daß man mit Kanonen schießen konnte, ohne daß der auch nur mal zur Seite geguckt hätte. Und wohl im Zusammenhang damit war der Max lammfromm. Der scheute vor nichts auf der Welt, nicht einmal draußen im Gelände, wenn plötzlich ein Eisenbahnzug angesaust kam. Aber trotzdem meint der Herr Oberst jetzt, sich straff aufrichtend und seinen dichten Schnurrbart streichend: „Ja, ja, der Schimmel, der Max! So hübsch der auch war, der hatte es in sich, der steckte voller Muckien, das war ein verdammt schwieriger Gaul. Der wollte geritten sein! Damit, daß man sich auf den draufsetzte und die Zügel zur Hand nahm, war es nicht getan, aber es freut mich, daß dieser Herr sich meiner heute noch erinnert, da ist man doch wenigstens noch nicht ganz vergessen. Aber das nicht allein, nach allem, was du mir von ihm erzähltest, scheint er mir ein sehr kluger und liebenswürdiger Herr zu sein, dessen nähere Bekanntschaft zu machen sich wohl verlohnte. Wie heißt er doch noch?”

Staffi hat ihrem Vater im stillen belustigt zugehört, schon weil der den Direktor für klug und liebenswürdig erklärt, lediglich weil der sich des Schimmels und seines Reiters noch erinnert. Aber sie ist froh, daß sie abermals ihren Zweck erreicht, der Vater möchte ihn näher kennen lernen und so meint sie jetzt: „Es handelt sich um einen Dr. Arnold. Er ist der erste Direktor der großen Fabrik von Schulten & Mahlmann. Ich selbst habe mir ein näheres Urteil über ihn noch nicht bilden können, aber ich glaube trotzdem, daß er dir gefallen wird, zumal auch er den Wunsch nach einer persönlichen Begegnung mit dir hat. Er sagte das natürlich nicht mit klaren Worten, das wäre ja aufdringlich gewesen, aber er gab mir doch zu verstehen, wie es ihn freuen würde, dich nach so vielen Jahren noch kennen zu lernen. Und da deutete ich ihm meinerseits an, daß seine Freude in diesem Falle sicher auch deine sein werde. Ich sprach natürlich nur von dir, Vater, nicht von der Mutter und erst recht nicht von mir, denn das hätte ja so aussehen können, als ob auch uns an seinem Besuch irgend etwas gelegen wäre und das mußte ich vermeiden.”

„Selbstverständlich,” stimmt die Mutter ihr bei.

Staffi merkt es, die Eltern sind mit ihr sehr zufrieden und sie ist es mit sich selbst erst recht. Die Brücke ist gebaut, der Herr Direktor kann über die hinwegschreiten und seinen Besuch machen. Und dann bleibt es abzuwarten, ob und wann er eines Tages vor ihr auf den Knien liegt. Allerdings, das muß sie sich leider eingestehen, die Sache hat viel von ihrem ursprünglichen Reiz verloren, schon weil es mit dem Kniefall wahrscheinlich wesentlich leichter gehen wird, als sie es sich am Anfang dachte. Wenn er ihr damals schon als Schüler nachsah und sich trotz des Unterschiedes der Jahre etwas in sie verliebte, wenn er sie die ganzen Jahre hindurch in der Erinnerung behielt, dann wird die einstige Jugendschwärmerei sich sehr schnell auch ohne ihr Zutun in Liebe verwandeln und dnan liegt er eines Tages vor ihr auf den Knien, ohne daß das irgendwie von Wert wäre.

Aber die Sache kommt doch wesentlich anders, als Staffi sich das einbildete, das muß sie sich nach einigen Wochen eingestehen.

Der Herr Direktor hat den Eltern seinen Besuch gemacht. Er ist bei ihnen im kleinen Kreise mit einigen anderen Bekannten eingeladen gewesen, sie war auch mit ihm zusammen zu einem Diner bei der Frau Konsul geladen, die sich inzwischen von dem Unfall völlig erholte, ganz zufällig ist sie auch mit ihm auf einer anderen Gesellschaft zusammen getroffen, aber es ist anders gekommen, als sie es sich dachte. Gewiß, er freut sich immer aufs neue, wenn er sie sieht, das merkt sie ihm deutlich an. Er unterhält sich mit ihr solange wie mit keiner anderen, aber es kommt ihr so vor, als sähe er auch jetzt noch in ihr lediglich das kleine Schulmädchen von damals, als nähme er sie bei dem Unterschied der Jahre auch heute noch nicht für voll, als sei sie auch heute für ihn noch weiter nichts, als die Erinnerung an die einstige Jugendzeit. Und das kränkt und verletzt sie in ihrer Eitelkeit. Sie ist doch erwachsen, sie ist schon längst im heiratsfähigen Alter, sie ist zum mindesten ebenso hübsch, wenn nicht sogar viel hübscher als ihre Freundinnen. Und sie ist auch viel besser angezogen. Warum verliebt er sich da nicht in sie, warum macht er ihr nicht wenigstens den Hof, wie das jeder wohlerzogene Herr bei jeder jungen Dame tut, wenn beide Teile sich dabei auch immer nicht gleich sehr viel denken?

Aber das nicht allein. Es kommt ihr so vor, als sei er ein anderer, ein weniger netter Mensch, wenn er ohne seinen Cäsar erscheint. Den muß er ja zu Hause lassen, wenn er auf Gesellschaften geht, aber er kommt ihr dann so vor, wie Peter Schlemihl ohne seinen Schatten, ihr ist, als fehle ihm ein Teil seiner selbst. Und weil sie die schöne Dogge an seiner Seite vermißt, hört sie nicht auf, nach der zu fragen und sie wird nicht müde, sich mit ihm über Cäsar zu unterhalten.

Ob er daran vielleicht Anstoß nimmt? Ob er sich vielleicht ei9nbildet, sie sei noch ein kleines Kind, das si am liebsten mit Cäsar auf dem weichen Teppich herumwälzen und mit dem spielen möchte? Oder glaubt er, daß ihr an ihm nur die Dogge gefalle und fühlt er sich dadurch in seiner Eitelkeit verletzt? Sieht er sie nur deshalb nicht für voll an, weil sie ihm mit ihrer Liebe zu Cäsar zu kindlich erscheint, oder (3) auf Cäsar zurückkommt, als könne sie über nichts anderes sprechen?

Staffi lacht bei dem Gedanken, daß man sie für dumm halten könne, hell auf. Aber trotzdem, je länger sie darüber nachdenkt, desto mehr kommt sie zu der Erkenntnis, daß dem in diesem Falle doch wohl so sei. Und noch ein anderes wird ihr mit einmmal klar und sie sieht ein, daß sie in der Hinsicht bisher tatsächlich dumm war, sie darf ihm fortan nicht mehr so völlig unbefangen gegenüber treten, wenigstens muß sie so tun, als habe er sie früher nie gesehen. Sie muß ihn dahin bringen, daß er daran irre wird, ob sie wirklich das junge Ding von damals ist. Sie muß ihm den Glauben nehmen, daß er sie bereits kennt. Nur das Einander­kennenlernen hat seinen Reiz. Wenn man erst miteinander bekannt ist, wünscht man sich nur zu oft, man hätte sich nie kennen gelernt.

Aber er soll sie jetzt kennen lernen, darauf kann er sich verlassen. Gott sei Dank, daß sie kein Mann, sondern ein junges Mädchen ist und daß ihr der Himmel die Gabe verlieh, über Nacht eine ganz andere zu werden. Einen Mann verändert das Leben und die Erfahrungen, die er macht, eine Frau verändert die Laune. Der Ausdruck im Gesicht eines Mannes bleibt im großen und ganzen immer derselbe. Der Ausdruck im Gesicht eines jungen Mädchens oder einer Frau wechselt fortwährend, wenn sie es will.

Und Staffi will! Wie ein neuer Phönix wird sie aus ihrer eigenen Asche emporsteigen, zu der sie sich selbst hat verbrennen lassen . Und selbstverständlich gehören zu dieser Metamorphose neue Kleider. Auch in der Hinsicht soll er sie nicht wieder erkennen.

So fragt sie denn telegraphisch bei Onkel Willi an, ob sie ihn nicht einmal wieder besuchen dürfe. Sie hielte es vor Sehnsucht nach ihm nicht mehr aus, ob er denn überhaupt noch wisse, wie sie aussähe und ob er denn gar keine Sehnsucht nach ihr habe. Voller Ungeduld wartet sie auf die Antwort und sie hat Glück. Onkel Willi telegraphiert zurück: Jederzeit herzlich willkommen. Je eher, desto lieber, je länger, desto besser.

Schon am nächsten Morgen sitzt sie in der Bahn. Es ist ihre feste Absicht, nur solange fort zu bleiben, bis die neuen Kleider fertig sind, aber es vergehen doch mehr als drei Wochen, bis sie endlich wieder zu Hause ankommt. Onkel Willi hat ihr erklärt, daß sie in der letzten Zeit noch viel hübscher geworden wäre. Da hat er sie nicht so schnell wieder fortgelassen. Er hat auch diesmal etwas davon haben wollen, daß er ihr die neuen, bildschönen Kleider machen ließ und im Theater, im Zirkus und in den vornehmsten Restaurants, aber auch in solchen, in denen die vornehme Lebewelt verkehrt, hat sie sich an seiner Seite zeigen müssen, schon damit die Leute ihn um seine hübsche Begleiterin beneideten. Und es hat ihr Spaß gemacht, wenn im Theater in den Nebenlogen, oder in den Restaurants an den Nebentischen darüber geflüstert und geplaudert wurde, wer sie wohl sei und in welchem Verhältnis sie zu dem soviel älteren Herrn stände. Mit scharfen Ohren hörte sie hin und verstand auch das meiste. Für eine Verwandte wurde sie nur in den allerseltensten Fällen gehalten, dafür war sie nach der Ansicht der Kritisierenden zu fesch, zu flott und zu schick. Meistens hielt man sie für eine Dame vom Theater, hin und wieder auch für Onkel Willis Verhältnis. Das machte sie zunächst natürlich ein klein wenig verlegen, dann aber belustigte sie das, wenngleich sie sich hütete, ihrem Onkel wiederzuerzählen, was die Leute über sie beide dächten. Der hätte das vielleicht für unpassend gefunden und wäre nicht mehr mit ihr ausgegangen, um fortan solches Gerede zu vermeiden. Aber das wäre nicht nach ihrem Sinn gewesen, denn schmücken und putzen mußte sie sich des Abends für den Onkel doch, da war es ihr schon lieber, sie ging mit dem aus, als daß sie den ganzen Abend allein bei ihm im Zimmer saß.

Drei Wochen hat sie bei Onkel Willi bleiben und ihm bei dem Abschied versprechen müssen, sehr bald auf wenigstens vier Wochen wieder zu ihm zu kommen. So nett wie diesmal war es eigentlich noch nie bei ihm gewesen. Er hat sie wahrhaft fürstlich beschenkt und ihr bei der Abreise einen Tausendmarkschein für die Fahrkarte gegeben. Ach, Onkel Willi war so gut mit ihr und der Abschied wurde ihr so schwer, aber nun ist sie doch sehr froh, wieder zu Hause zu sein, denn jetzt will und wird sie zeigen, wie sie sich in dieser kurzen Zeit veränderte. Und sie ist wirklich eine andere geworden, auch äußerlich. Sie hat sich die allerneueste Frisur zugelegt, die so modern ist, daß sie eigentlich erst noch Mode werden soll, aber sie steht ihr ausgezeichnet. Und auch sonst ist sie eine andere geworden. Während man sie in den Theatern und in den Restaurants beobachtete, hat sie selbst die Damen nicht aus den Augen gelassen, die mit ihren Herren oder Kavalieren in ihrer Nähe saßen. Nicht aus Neugierde, sondern nur, um von denen zu lernen. Die waren sicher der Geburt nach nicht immer die Damen der allerbesten und allerersten Kreise, aber trotzdem oder gerade deshalb hatten die eine eigene Art, sich zu tragen und sich zu geben. Von dem, was Staffi sah, hat sie sich das angeeignet, was zu ihr paßt, ohne daß sie dadurch aufhörte, eine Dame zu sein. Aber sie ist mehr Dame geworden, während sie bisher nur ein junges Mädchen war.

Alle, die sie wiedersehen, sind von der Umwandlung, die mit ihr vorgegangen ist, völlig überrascht. Die Eltern erkennen ihr eigenes Kind kaum wieder, die Freundinnen fragen sie immer aufs neue: „Ja, sag' mal. Staffi, bist Du es wirklich?” Die Herren trauen ihren Augen nicht und als sie dem Direktor zum erstenmal wieder begegnete, starrte er sie an, als wolle er zu ihr sagen: Verraten Sie mir bitte mal. gnädiges Fräulein, sind Sie die junge Dame, die ich noch aus der Zeit kenne, da Sie in ganz kurzen Kleidern zur Schule gingen? Nein, Sie können es nicht sein, denn so kann sich kein Mensch verändern und was haben Sie nur angefangen, um trotzdem in den letzten Wochen eine so andere zu werden?

Staffi merkt es ihm an, diese Frage brennt ihm auf der Zunge, aber er wagt es nicht, die auszusprechen. Das ist der erste große Erfolg, den sie über ihn davonträgt und als sie ihn vergebens darauf warten läßt, daß sie sich wie sonst gleich nach Cäsar erkundigt, da sieht sie es ihm an, daß er wieder daran irre wird, ob die Staffi von heute wirklich die von früher ist. Das ist der zweite Erfolg, den sie über ihn davonträgt und als er sich nun mit ihr unterhält, ohne wie sonst die Vergangenheit auch nur mit einer Silbe zu erwähnen, da ist sie sich ihres späteren Sieges über ihn bewußt. Sie darf sich natürlich nur nicht verraten, sie darf nicht so tun, als merke sie etwas davon, daß er sie jetzt anders behandelt und erst recht darf sie ihm nicht zeigen, daß sie etwas davon bemerkt, wenn er anfangen sollte, um ihre Gunst zu werben.

Staffi hat es einmal irgendwo gelesen: der größte Fehler, den ein junges Mädchen begehen kann, ist der, dem Liebhaber, der um sie anhält, sofort mit einem Freudenschrei um den Hals zu fallen. Der Mann darf nie wissen, daß er bereits geliebt wurde, er muß immer erst darum bitten geliebt zu werden.

Und wenn es je dahin kommen sollte, dann wird sie sich lange darum bitten lassen, ihn wieder zu lieben. Einmal, weil sie ihn zu ihren Füßen sehen will, dann aber auch, weil sie wirklich nicht weiß, ob sie sich jemals ernstlich in ihn verlieben kann. Gewiß, er gefällt ihr, er sieht ausgezeichnet aus, er ist in glänzender finanzieller Stellung, es schmeichelt ihr, daß er sie immer mehr und mehr auszeichnet, es macht sie glücklich, es mit anzusehen, wie die Freundinnen beinahe vor Neid platzen, weil der Direktor in der letzten Zeit seine Augen nur noch für sie zu haben scheint, weil er mit keiner anderen soviel tanzt wie mit ihr — — aber er heißt doch Peter! Den Namen findet sie immer noch scheußlich, noch dazu, weil sie im stillen hoffte, er möge mit Rufnamen Harald heißen. Auch sonst gefällt ihr manches an ihm nicht, ohne daß sie allerdings weiß, was das wäre. Es ist mehr eine Sache des Gefühls, als der Erkenntnis.

So wird sie sich denn eines Tages darüber einig, daß sie ihn nicht erhören wird, wenn er um sie anhalten sollte, denn sie darf sich und ihren Grundsätzen nicht untreu werden, die da lauten: Einen Mann nur um seiner selbst willen zu lieben, nur um ihrer selbst willen geliebt zu werden. Und nur aus Liebe zu heiraten! Nur!

Nein, sie wird ihn nicht heiraten und schon um ihm das baldmöglichst sagen zu können, läßt sie sich von ihm immer mehr und mehr den Hof machen, aber das selbstverständlich nicht, ohne ihn von Zeit zu Zeit kühl und ablehnend zu behandeln. Das wird ihn erst recht locken und reizen, das wird ihn erst recht verliebt in sie machen, denn die Männer sind ja so dumm, die merken die Schliche gar nicht, mit denen sie eingefangen werden sollen. Und sie behandelt ihn umso kühler, je mehr sie voller Stolz und Genugtuung merkt, wie er brennt. Und sie gießt bei jedem Zusammensein wenigstens einen Eimer kalten Wassers über sein brennendes Herz, aber auch nicht mehr, denn zuviel Wasser könnte das Feuer ganz ausgehen lassen. Das Feuer aber muß weiter brennen und deshalb läßt sie dem Eimer Wasser immer mehr bald ein brennendes Streichholz folgen, das sie ihm, natürlich nur bildlich gesprochen, unter die Weste hält.

Und so kommt, was kommen muß. Es ist wieder einmal Gesellschaft im Hause der Frau Konsul. Staffi hat es dem Direktor sofort bei der Begrüßung angemerkt, heute oder nie fällt die Entscheidung. Trotzdem er sich sonst sehr in der Gewalt hat und es nicht verrät, was ihn beschäftigt, heute kann er sich kaum beherrschen, so erregt ist er. Mit seinen Augen bittet er sie fortwährend: Gib mir Gelegenheit, dich einen Augenblick unter vier Augen sprechen zu können. Und endlich erfüllt sie seine Bitte. Als der Tanz begonnen hat, als niemand wie nur der Direktor auf sie achtet, geht sie unbemerkt in ein Nebenzimmer und von da noch in ein anderes. Es braucht ja kein Dritter mit anzuhören, wenn sie ihm einen Korb gibt. Und das will sie. Aber auf die Knie muß er. Allerdings, ob er dann noch knien und um Liebe betteln wird, wenn er erfährt, wie es in ihr aussieht? Das sieht ihm nicht ähnlich, aber trotzdem, knien muß er. Tut er es nicht freiwillig, muß sie eine kleine List anwenden. So macht sie sich denn mit ihrem Fuß an dem Teppich zu schaffen und zwar an der Türschwelle. Wenn er da stolpert und hinfällt, ist das nicht ihre Schuld. Sie kann doch nichts dafür, wenn die Dienstmädchen der Frau Konsul den Teppich nicht besser hinlegen.

Und ihre List gelingt. Kaum drei Minuten später liegt er auf den Knien zu ihren Füßen. Er hätte sogar beinahe der Länge nach dagelegen, wenn er dem Oberkörper im letzten Augenblick nicht noch einen mächtigen Ruck nach rückwärts gegeben hätte. Nun liegt er auf den Knien und er scheint sich glücklicherweise auch nicht weh getan zu haben, denn sonst hätte er sicher einen halblauten Fluch oder wenigstens ein kurzes Wort des Unwillens ausgestoßen. Nun liegt er da, wo sie ihn haben will, aber trotzdem ruft sie ihm nun anscheinend ebenso überrascht wie erschrocken zu: „Um Gottes willen, Herr Direktor, Sie zu meinen Füßen! Noch dazu hier, wo uns jeden Augenblick jemand überraschen kann. Denken Sie an meinen guten Ruf, Sie haben mir selbst damals erklärt, der sei der kostbarste Schatz einer jeden jungen Dame.” Sie sagt absichtlich nicht „eines jeden jungen Mädchens”. Da könnte ihm wieder einfallen, daß auch sie einmal ein kleines Mädchen war und noch einmal bittet sie: „Denken Sie an meinen guten Ruf.”

„Den will ich ganz gewiß nicht zerstören,” nimmt er da das Wort, „und wenn ich zu Ihren Füßen liege, so ist daran nicht allein meine Ungeschicklichkeit schuld, die mich stolpern und nicht auf den Teppich achten ließ, es ist vielmehr der Ausdruck meiner Empfindungen, die ich für sie, gnädiges Fräulein, hege und nicht eher stehe ich auf, als bis ich aus Ihrem Munde höre, daß Sie mich lieben, wie ich Sie liebe, oder daß ich wenigstens hoffen darf, daß Sie es mit der Zeit lernen werden, mich zu lieben, weil Sie mich lieben wollen.”

Und dann erzählt er, wie er sie liebt. Wie alle seine Gedanken selbst bei der Arbeit nur ihr gelten, bis er dann fortfährt: „Und nun erst zu Hause, gnädiges Fräulein! Stundenlang sitze ich in meinem Zimmer und denke an Sie, bis ich dann anfange, mit Cäsar über Sie zu sprechen. Sie sollten es nur sehen, wie aufmerksam er mir zuhört und wie er mir zustimmt, wenn ich Ihre Schönheit besinge, wenn ich ihm die zahllosen guten Eigenschaften Ihres Charakters schildere. Dann nickt er fortwährend zustimmend mit dem Kopf, dann bellt er ein ,ja, ja', bis seine klugen Augen mich fragen: Aber wenn wir beide so über das gnädige Fräulein denken, warum bringst du sie nicht zu uns in das Haus, warum bittest du sie nicht, deine Frau zu werden, damit sie immer bei uns ist und damit ich nicht mehr soviel allein bin, wenn du in deinem Bureau zu tun hast? Denn wenn auch dein Diener und deine Dienstboten für mich soregn, meine neue Herrin würde auch ich lieben, wie ich sie vom ersten Tage an liebte und wie auch du sie nun liebst.”

Dann spricht er wieder nur von sich. Aber fast noch mehr als seine Liebe rührt sie Cäsars Liebe. Sie sieht die schöne Dogge ganz deutlich vor sich. Wie die sich nach ihr und ihren Liebkosungen sehnt. Und Cäsar soll doch auch zu ihren Füßen liegen und sie will ihre Füße auf sein glänzendes Fell setzen und dann soll er seinen mächtigen Kopf in ihren Schoß legen, damit sie den streicheln kann.

Dann aber fangen auch seine Worte an, sie zu rühren. Wie muß der Mann sie lieben, um so mit ihr zu sprechen. Gewiß, sie wollte ihm einen Korb geben, aber alles, was man sich fest vornimmt, braucht man doch nicht zu halten, es werden doch sogar die meisten Vorsätze über den Haufen geworfen. Na, und warum soll gerade sie da ihrem Vorsatz treu bleiben? Und wenn er sie so liebt, so glühend heiß, wie sie es aus jedem seiner Worte heraushört, muß sie ihn da nicht erhören? Wäre es nicht mehr als grausam, ihm da einen Korb zu geben? Was würde er, und vor allen Dingen, was würde Cäsar von ihr denken? Der hält sie doch für einen guten Menschen, und sie muß dem Zeugnis, das er ihr ausstellte, Ehre machen. Wäre es nicht geradezu schlecht von ihr, diesen Freier abzuweisen, der sie über alles liebt und der wenigstens in bezug auf seine äußere Erscheinung und auf seine finanzielle Lage alles besitzt, was einem Mann entspricht, um eine Frau, die er liebt, wahrhaft glücklich zu machen?

Wenn auch sie ihn liebte, braucht er nicht ganz so hübsch, nicht ganz so elegant, nicht ganz so reich zu sein, aber nein, dann müßte er diese drei Eigenschaften erst recht besitzen, denn wozu heiratet man aus Liebe, aus selbstloser Liebe? Doch nur, um immer wieder um den Mann beneidet zu werden, und um ihm Gelegenheit zu geben, ihr seine Liebe täglich aufs neue durch Geschenke aller Art zu beweisen. Das letztere aber kostet Geld, und wie kränkend und demütigend ist es für einen Mann, einer Frau nicht alle ihre kleinen Wünsch erfüllen zu können, weil seine Mittel es ihm nicht erlauben. Schon deshalb muß ein Mann reich sein, damit ihm diese Demütigung erspart bleibt.

Aber der Direktor, der immer noch zu ihren Füßen liegt, lebt in sehr guten finanziellen Verhältnissen, und warum soll sie den eigentlich nicht erhören? Einem muß sie ja doch das Jawort geben, wenn sie keine ewige alte Jungfer werden will, wofür sie sich bestens bedankt. Und wenn sie ihn auch nicht so liebt, wie er sie, das verlangt er ja vorläufig auch gar nicht von ihr, er ist damit zufrieden, wenn sie es mit der Zeit lernt, ihn zu lieben. Und warum soll sie später das nicht lernen? Vor allem aber, sie muß ihm das Jawort geben, denn der Direktor ist nicht der Mann, der ein Vorhaben aufgibt, bevor er seinen Willen nicht durchsetzte, und ewig kann sie ihn doch nicht zu ihren Füßen liegen lassen. Das schon deshalb nicht, weil jeden Augenblick ein Dritter hinzukommen könnte, und plötzlich wünscht sie sich glühend, dieser Dritte möge kommen und noch einen Vierten und einen Fünften herbeiholen, damit auch die sich mit eigenen Augen von dem Triumph überzeugen, den sie hier feiert. So schielt sie denn heimlich und verstohlen nach nebenan, ob dieser Dritte nicht kommt, aber sie hat Pech, es ist von dem weder etwas zu sehen, noch zu hören.

So muß sie denn allein das Vergnügen auskosten, diesen schönen, starken, stattlichen Mann um ihre Liebe bittend zu ihren Füßen zu sehen. Und sie läßt sich bitten, denn als er endlich aus ihrem Munde die Antwort zu wissen begehrt, stottert sie verwirrt und verlegen: „Ich weiß wirklich nicht, Herr Direktor, Ihr Antrag und alles, was Sie mir sonst sagten, hat mich mehr als überrascht. Ja, ich muß es offen gestehen, ich hätte nie geglaubt, daß Sie jemals etwas anderes in mir sehen würden, als das kleine Schulmädchen, dessen Sie sich aus Ihrer Jugendzeit erinnern. Allerdings, daß Sie damals schon etwas für mich empfanden, haben Sie mir ja erzählt, und nun kann ich Ihnen ja auch gestehen, was ich Ihnen bisher absichtlich verschwieg, um Sie nicht eitel zu machen,” und nun lügt sie frisch darauf los: „Ich habe es damals sehr wohl bemerkt, daß ich Ihnen gefiel. Ich habe sehr deutlich die Blicke gesehen, die Sie mir zuwarfen, und wenn mein Weg zur Schule mich so oft an dem Hause Ihrer Frau Mutter vorbeiführte, war das sehr häufig kein Zufall. Aber trotz alledem — daß es nun dahin kommen würde, daß Sie mich um meine Hand bitten —”

Und sie läßt sich noch weiter bitten, bis sie endlich, als sie einsieht, daß sie jede Hoffnung auf die Dazwischenkunft eines Dritten aufgeben muß, ihm das Jawort gibt.

So, nun wird er aufspringen und dich in seine Arme schließen, denkt Staffi, aber mit dem Aufspringen geht es nur sehr langsam. Er erhebt sich mühselig von dem Boden und meint ein klein wenig verlegen. „Lachen Sie mich bitte nicht aus, gnädiges Fräulein, zudem ich jetzt wohl Staffi und du sagen darf, aber daß ich vorhin über den Teppich stolperte, liegt an einer bodenlosen Bummelei der Dienstboten, denn wie leicht kann sich da nicht einer den Fuß oder das Bein brechen. Na, ich bin noch mit einem blauen Auge, oder richtiger gesagt, mit einer blauen Kniescheibe davongekommen, ich habe aber ganz schandbare Schmerzen. Na, die werden schon bald wieder vergehen, ich erwähne das auch nur, damit du, Geliebte, es nicht falsch deutest, wenn es mit dem Aufstehen etwas lange dauert.”

Endlich aber steht er wieder auf den Beinen, um sie gleich darauf an sich zu ziehen, und um ihr den ersten Kuß zu geben. Und da hat Staffi Glück! Es kommen Zeugen. Verschiedene Paare, die sich von dem Tanzen etwas ausruhen und miteinander plaudern wollen, betreten das Zimmer und sehen diesen Kuß.

Staffi ist überglücklich. Wenn man erzählen kann, daß man den Verlobungskuß erhalten hat, ist es schon schön, wenn aber andere es mit ansehen, daß man diesen Kuß erhielt, dann ist es viel, viel schöner, das ist einfach zu schön. Aber trotzdem stößt Staffi, anscheinend auf das äußerste erschrocken, einen leisen Schrei aus und sucht zu entfliehen. Aber die jungen Mädchen halten sie fest. Sie soll, nein, sie muß erzählen, wie alles so schnell gekommen ist. Staffi soll erzählen, schon damit die Freundinnen etwas daraus lernen können, damit die es auch ihrerseits erfahren, wie sie es in einem ähnlichen Falle anzufangen haben, um die Entscheidung herbeizuführen.

Aber Staffi hütet sich, etwas zu verraten, sie ist viel zu glücklich, um sprechen zu können, wenigstens behauptet sie das, und je weniger die Freundinnen es ihr glauben, umso mehr behaupten die, ihr das nachzufühlen. Ja, mit einem Blick auf ihre Herren setzen sie sogar hinzu: „Ja, wir würden in solchem Falle vor lauter Glückseligkeit auch nicht sprechen können.”

Staffi ist glücklich, schon weil die anderen es nicht sind und weil die sie für glücklich halten. Und als eine kleine halbe Stunde später ihre Verlobung der Gesellschaft bekannt gegeben wird, als alle sie umringen, um ihr Glück zu wünschen, als sie plötzlich die Hauptperson des Festes ist, da ist sie wirklich glücklich, und dieses Glück hält an. Nicht nur an diesem Abend, sondern die ganze nächste Zeit hindurch, und sie wird umso glücklicher, je näher der Tag der Hochzeit heranrückt, denn darin stimmt sie ihrem Verlobten bei, nur keine lange Brautzeit. Und sie freut sich auf die Hochzeit, nicht, um ihm da ganz anzugehören, sondern um eine junge Frau zu werden, und um dann ihren geliebten Cäsar immer um sich zu haben, denn die Liebe des schönen Tieres zu ihr ist womöglich noch größer geworden, als sie es am Anfang war. Cäsar weicht schon nicht mehr von ihrer Seite. Und wenn er ihr zu Füßen liegt, und wenn sie ihre Füße auf sein weiches, glänzendes Fell stellt, knurrt er behaglich vor sich hin wie ein verliebter Kater. Cäsars Liebe ist geradezu rührend. Sie liebt ihn aber auch von ganzem Herzen wieder und erst recht liebt sie natürlich ihren Peter, obgleich sie seinen Namen auch jetzt noch scheußlich findet. Aber daran ist allein ihre Freundin Emmi schuld, warum hat die ihr erzählt, daß ihr Kanarienvogel Peter heißt, nun muß sie immer an den denken, wenn sie ihren Verlobten meint. Aber sie liebt ihn, und sie muß ihn, ohne daß sie es sich wohl aus mädchenhafter Scheu eingestand, schon an dem Tage geliebt haben, da er um sie anhielt. Und wenn sie ihn trotzdem in jener Stunde nicht geliebt haben sollte, dann liebt sie ihn jetzt erst recht, schon weil er sie immer aufs neue darum bittet, und weil sie nun doch bald seine Frau wird und weil gerade sie sich fest vornahm, aus keinem anderen Grunde zu heiraten als nur aus Liebe.

Aber am meisten freut sie sich doch darauf, wenn sie erst verheiratet ist, Cäsar als ständigen Begleiter um sich zu haben. Der muß sogar mit auf die Hochzeitsreise, das setzt sie ihrem Verlobten auch auseinander, denn dem Cäsar verdankt sie doch ihr Glück. Hätte der sich nicht gleich so zutraulich an sie geschmiegt, und hätte der nicht die nähere Bekanntschaft zwischen ihnen beiden vermittelt, wer weiß, ob alles so gekommen wäre.

Das sieht ihr Peter denn schließlich auch ein, obgleich er mit seinen schweren Bedenken nicht zurückhält: „Du darfst nicht vergessen, Staffi, wir fahren im warmen Coupé erster Klasse, Cäsar aber in dem kalten Hundecoupé. Das ist für das schöne Tier kein Vergnügen, man muß damit rechnen, daß er sich erkältet, denn auch Hunde können Gicht und Rheumatismus bekommen. Dazu auf der langen Fahrt die schlechte Verpflegung, der Mangel an Bewegung. Mir wäre es, offen gestanden, lieber, wir ließen ihn zu Hause, da wird er von meinen Leuten auf das beste versorgt, aber trotzdem, ganz wie du willst.”

Und Staffi will und Cäsar fährt mit auf die Hochzeitsreise. Aber schon, als sie nach langer Tages- und Nachtfahrt bei strengster Winterkälte an ihrem Ziel ankommen, muß Staffi zu ihrem Entsetzen bemerken, daß dem geliebten Cäsar die Reise nicht bekommen ist, trotzdem man alle nur denkbaren Vorsichtsmaßregeln getroffen und den Bahnbeamten gegenüber mit dem Trinkgeld nicht gespart hatte, damit diese nach besten Kräften für ihn sorgten. Steif und mühselig klettert Cäsar aus dem Hundecoupé, er steht da und läßt traurig den Kopf hängen, er stößt kein freudiges Gebell aus, er schmiegt sich weder an seinen Herrn, noch an seine neue Herrin. Und als er die nun endlich ansieht, da tut er es mit einem so vorwurfsvollen Blick, daß Staffi in Tränen ausbricht. Staffi ist außer sich und ihr Mann ist es auch. Er will ihr zurufen: Warum hast du nicht auf mich gehört! — Aber er unterläßt es, er sieht es ja ohnehin, daß Staffi sich die bittersten Vorwürfe macht, und schließlich ist er ja auch mitschuldig, warum hat er nicht energischer Widerspruch dagegen erhoben, daß Cäsar mitfahren solle.

Cäsar ist krank und er bleibt es, trotzdem man sofort den besten Tierarzt holen läßt. Der schüttelt den Kopf, schon weil er nicht feststellen kann, was dem armen Tier eigentlich fehlt. Er verordnet alle möglichen Medikamente, aber er unterläßt es nicht, gleich hinzuzusetzen, er könne nicht dafür garantieren, daß die Mittel viel helfen würden.

Und die helfen gar nichts, denn eines Morgens, als sie in dem Hotel ihr Wohnzimmer betreten, in dem Cäsar wachehaltend vor der Tür zum Schlafzimmer sein warmes Lager hat, ist er eingegangen. Tot liegt er da, alle Viere von sich gestreckt.

Mit einem lauten Aufschrei fällt Staffi neben dem toten Cäsar nieder, und auch ihr Mann beißt sich die Lippen blutig, um seinen Schmerz nicht zu verraten. Auch er hat die schöne Dogge sehr geliebt, und aufs neue macht er sich nun die bittersten Vorwürfe, den mit auf Reisen genommen zu haben. Aber das Klagen und die nachträglichen Vorwürfe helfen nun nichts mehr. So beißt er tapfer seinen Schmerz hinunter, klingelt nach der Dienerschaft, um für Cäsars Beiseiteschaffung das Nötige anzuordnen und versucht gleich darauf, Staffi zu trösten, denn wenn sie beide auch den Hund sehr liebten, wenn er ihnen beiden auch der treueste Freund war, er war trotz alledem doch nur ein Tier, dem man nicht endlos nachweinen darf, als hätte man die Eltern, den Gatten oder ein Kind verloren.

Allem, was ihr Mann ihr da immer wieder auseinandersetzt, hört Staffi anscheinend sehr aufmersam zu, aber in Wirklichkeit hört sie gar nicht danach hin. Ihr Mann hat gut reden, aber was weiß der davon, was Cäsar ihr war. Ein paarmal ist sie in Versuchung, ihm zuzurufen: Glaubst du wirklich, daß ich deine Frau geworden wäre, wenn du deinen Cäsar nicht gehabt hättest? — Aber sie schweigt, die Männer sind ja so beschränkt und so kleinlich. Ihr Mann wäre imstande, ihr diese Worte übel zu nehmen, oder er könnte sie falsch verstehen und glauben, sie sei in Cäsar tatsächlich verliebt gewesen, so wie es zuweilen bei krankhaft veranlagten Naturen vorkommen soll. Sie ist aber in dieser Hinsicht vollständig normal und gesund. Aber sonst ist sie krank, ihr Herz tut ihr weh, so grämt sie sich um den Verlust des schönen Tieres. Immer wieder macht sie sich die heftigsten Vorwürfe, daß sie den Hund mitnahm, immer wieder fragt sie sich: Warum tatest du das nur?

Und in weiterer Folge dieser Frage fragt sie sich eines Tages im stillen: Warum habe ich, da Cäsar tot ist, eigentlich geheiratet?

Wie schlecht von ihr, daß sie sich so etwas nur fragen kann, und wie entsetzlich, daß sie darauf nicht gleich eine Antwort findet. Dafür gibt es nur eine Erklärung, auch ihr Gemüt und ihr Verstand müssen unter Cäsars Tod gelitten haben, sonst müßte ihr doch wieder einfallen, warum sie heiratete.

Aber es fällt ihr nicht ein, dagegen fällt sie immer mehr ein. Sie bekommt ein ganz schmales, blasses Gesicht, hohle Wangen, und sie sieht so miserabel aus, daß ihr Mann ihr eines Tages erklärt: „So geht das nicht weiter, Staffi, du mußt dich beherrschen, du darfst dich deinem Schmerz um Cäsar auch nicht zu sehr überlassen. Du mußt dich zerstreuen, und deshalb werden wir mehr unter Menschen gehen und die Vergnügungen auch mehr aufsuchen, als bisher. Du mußt auf andere Gedanken kommen.” Und um seine Frau zu zerstreuen, führt er sie schon an demselben Abend in das Theater. Man gibt eine alte Operette, den „Zigeunerbaron”, den Staffi sonderbarerweise noch nicht kennt, auf die sie sich aber schon deshalb freut, weil in der seine Saffi als handelnde Person auftritt, und weil sie neugierig ist, ob diese Saffi in ihrem Wesen und in ihrem Charakter mit ihr, der Staffi, wohl irgendwelche Ähnlichkeit hat.

Aber als das Spiel beginnt, sieht sie trotzdem am Anfang wenig auf die Bühne, umso mehr auf ihren Mann. Sie betrachtet ihn fortwährend heimlich und verstohlen, um sich auch jetzt immer wieder zu fragen: Warum hast du ihn eigentlich geheiratet? Weil er ein hübscher Mensch, weil er klug und intelligent ist, weil er über ein großes Vermögen und über ein hohes Einkommen verfügt, weil er sie schon aus der Jugendzeit kennt, weil er sich ausgezeichet anzieht? Nein, aus all diesen Gründen nicht, wenigstens nicht aus denen allein. Es hat noch etwas anderes mitgesprochen, aber was war das nur? War es Cäsar? Aber das ist Unsinn, man heiratet doch keinen Mann, nur weil er eine selten schöne Dogge besitzt oder besaß.

Nein, es hatte noch etwas anderes mitgesprochen, sie weiß es ganz genau, sie kann sich nur im Augenblick nicht darauf besinnen. Zu Hause in ihrem Hotel will sie in aller Ruhe darüber nachdenken. Jetzt kann sie es nicht, die Musik und der Gesang stören sie. Und weil das Nachdenken vorläufig keinen Zweck hat, wendet sie ihre Aufmerksamkeit endlich der Bühne zu, und sie ist mit einemmal ganz Ohr, als jetzt das Duett zwischen Barinkay und der Saffi beginnt:

Wer uns getraut?
Ei sprich!
Sag du's!
Der Dompfaff der hat uns getraut!
Und mild sang die Nachtigall
Ihr Liedchen in die Nacht:
Die Liebe, die Liebe
Ist eine Himmelsmacht!

Keiner hat dem Gesang so aufmerksam zugehört wie Staffi, und als der beendet ist, atmet sie mehr als erleichtert auf. Gott sei Dank, nun braucht sie nicht mehr nachzudenken, jetzt weiß sie, warum auch sie geheiratet hat, einzig und allein aus Liebe! Und leise klingt es in der Erinnerung noch einmal an ihr Ohr: Die Liebe, die Liebe ist eine Himmelsmacht!

Ja, sie liebt ihren Mann, er ist so klug, so hübsch, er zieht sich so gut an, er versteht es wie kaum ein zweiter Herr, sich die Kravatte zu binden, er erfüllt ihr jeden ihrer vielen kleinen Wünsche, und wenn sie vorübergehend wirklich manchmal geglaubt haben soll, daß sie ihren Mann auch Cäsars wegen liebt, sie versteht sich selbst nicht mehr. Die Liebe ist doch eine Himmelsmacht, die geht doch nicht durch die Hunde.

Und so traurig sie zuerst war, als Cäsar einging, ist es vielleicht ganz gut, daß er nicht mehr lebt, der hätte sich mit der Zeit sicher zwischen sie und ihren Mann gedrängt. Er hatte es sogar schon getan, denn sie war auf dem besten Wege gewesen, zu vergessen, warum sie ihren Peter, ach, wenn er doch nur nicht Peter hieße, heiratete. Nun aber weiß sie es wieder, und sie wird es auch nie wieder vergessen, und damit sie das nicht tut, wird sie ihren Mann bitten, Cäsar dem ersten niemals einen Cäsar den zweiten folgen zu lassen. Das heißt, niemals ist natürlich zuviel gesagt. Warum soll dem Cäsar dem ersten kein zweiter folgen? Dafür liegt gar kein Grund vor, dem ersten muß sogar ein zweiter folgen, der womöglich noch klüger und hübscher ist, als es der erste war. Es muß sehr bald eine neue Doge in das Haus. Und warum auch nicht? Jetzt weiß sie es ja für alle Zeiten, warum sie ihren Mann heiratete, und damit sie es trotzdem sobald nicht wieder vergißt, nimmt sie sich fest vor, sich täglich wenigstens einmal das hübsche Lied vorzusingen: Die Liebe, die Liebe ist eine Himmelsmacht!


Fußnoten:

(1) Alraune. Die Geschichte eines lebendigen Wesens ist ein phantastischer Roman von Hanns Heinz Ewers, der im Jahr 1911 veröffentlicht wurde. (Zurück)

(2) „Der Weibsteufel” ist ein 1914 von Karl Schönherr verfasstes Drama. Seine Uraufführung erlebte das Schauspiel am 6. April 1915 im Johann Strauß-Theater in Wien. (Zurück)

(3) Wenn man sich diesen Satz mehrmals genau ansieht, könnte man zu der Meinung kommen, hier hätte der Setzer eine ganze Zeile Text ausgelassen. — zum Beispiel: „weil sie bei fast jedem Gespräch immer wieder” (Zurück)


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© Karlheinz Everts