Sie will nicht heiraten.

Militärhumoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Sie will nicht heiraten”


Eine große Neuigkeit machte in allen interessierten Kreisen die Runde und wurde dort lebhaft erörtert und besprochen. Gestern abend auf dem großen Ball bei dem Regierungs­präsidenten hatte Leutnant von Holten der schönen Gisela Lassen einen Heiratsantrag gemacht und einen Korb bekommen, einen ganz großen sogar, wie die Eingeweihten behaupteten.

Länger als ein Jahr hatte die schöne Gisela sich von dem jungen, hübschen, flotten Offizier den Hof machen lassen, sie hatte ihn bei jeder Gelegenheit ausgezeichnet, die ganze Stadt hätte darauf geschworen, daß die beiden ein Paar würden, und nun hatte sie ihm doch einen Korb gegeben. Niemand wußte warum. Und da man die Gründe nicht kannte, hielt man sich lediglich an die Tatsache. Aber noch viel weniger als das Nein, das Gisela dem hübschen Offizier geantwortet hatte, begriff man die Begründung, mit der sie es getan: Sie hatte erklärt, sie wolle überhaupt nicht heiraten.

Die jungen Mädchen, die Giselas Konkurrenz bei dem stillen Kampfe um einen Bräutigam um so mehr gefürchtet hatten, je intimer sie angeblich mit der Rivalin befreundet waren, hörten diese Nachricht nicht ohne stille Genugtuung — um so mehr konsternierte diese Botschaft die Herren.

Fräulein Gisela will überhaupt nicht heiraten.

Im Offizierkasino wurde heute bei dem Frühstück von nichts anderem gesprochen. Was, das schönste, reichste und klügste junge Mädchen der ganzen Stadt wollte bis an ihr Lebensende ledig bleiben? Das war nicht nur ein Wahnsinn, das wäre ja geradezu ein Verbrechen, das man unter keinen Umständen zugeben durfte. Die ritterliche Pflicht eines jeden Offizierkorps ist es, den Frauen zu dienen. Und nun erst, wenn es sich um eine so schöne, junge Dame handelte. Daß sie dem guten Holten einen Korb gegeben hatte, bewies allerdings, daß es ihr mit der Absicht, nicht zu heiraten, verdammt Ernst sein mußte, denn der abgewiesene Freier besaß alle Tugenden, die ein Mann braucht, um das Herz eines jungen Mädchens zu gewinnen. Er war groß und kräftig, hatte ein frisches, männliches Gesicht mit einem flotten, schwarzen Schnurrbart und übermütigen, großen, braunen Augen. Er war ein guter Offizier, ein Gesellschafter von seltener Liebenswürdigkeit, hatte viele Interessen, kurz und gut, wenn der ihr nicht gefiel, dann würde es den andern erst recht nicht leicht werden, sich die Gunst der Schönen zu erringen.

Wie sie das anfangen sollten, wußten sie heute noch nicht, aber es mußte ihnen einfach einfallen, und sie dachten an das Wort ihres Exerzier­reglements, das da sagt: Ein Offizier darf keinen Sieg für unmöglich halten, und der Glaube an den Sieg ist bereits der halbe Erfolg.

Vielleicht hätten die Herren sich noch weiter über diesen Punkt unterhalten, wenn nicht plötzlich Leutnant von Holten im Kasino erschienen wäre. Mit einem Male verstummte das Gespräch, es wäre ja mehr als taktlos gewesen, das bisherige Thema weiter zu erörtern. Alle wußen, was sich gestern auf dem Balle zugetragen hatte, obgleich niemand hätte sagen können, wie es eigentlich bekannt geworden war.

Alle hatten geglaubt, der arme Holten würde vollständig niedergebrochen sein. Aus gelegentlichen Äußerungen wußten sie, wie er die schöne Gisela liebte, wie er keinen andern Gedanken hatte als den, sie zu erringen. Und nun dieser Riesenkorb! Wenn sie noch wenigstens gesagt hätte: „Ich will mir Ihren Antrag überlegen, fragen Sie in ein paar Wochen wieder einmal an.” Statt dessen ein rundes, glattes, definitives „Nein”.

Das war bitter, das mußte den armen Holten ja umwerfen, aber sonderbarerweise schien den die Sache ganz kühl zu lassen. Er bestellte sich sein Frühstück, als wenn nicht das geringste vorgefallen wäre, er aß und trank mit dem denkbar besten Appetit, er plauderte und scherzte über die gleichgültigsten Dinge, und ein paarmal lachte er stillvergnügt vor sich hin, als wäre er glücklich, daß er sich auch fernerhin der goldenen Freiheit erfreuen dürfe.

Die Kameraden wurden zum erstenmal an ihm irre, sie hatten ihn bisher in jeder Hinsicht für einen vollkommenen Gentleman gehalten, jetzt sahen sie, daß er kalt und herzlos war. Er mußte ja gar kein Gefühl besitzen, wenn er Giselas Verlust so leicht ertrug. Nur ein Glück, daß sie ihn nicht genommen hatte, die Ehe wäre ja mehr als unglücklich geworden. Da waren sie selbst doch aus einem andern Holze geschnitten, und wenn Gisela später einem von ihnen die Hand reichte, dann würde sie das wahre Glück kennen lernen. Aber dieser Holten — wie war es nur möglich, daß sie sich hatten in dem so irren können.

Der erriet natürlich sofort, was in den andern vorging, aber anstatt daß ihn das niederdrückte und beschämte, belustigte es ihn nur. Jetzt erhob er sein Glas und trank den Kameraden zu. „Na prosit, Kinder.”

Aber das „Prosit, Holten”, mit dem man ihm antwortete, klang sehr kühl und frostig.

Auch jetzt lachte er fröhlich auf: „Ach Kinder, nehmt es mir nicht übel, aber ihr seid wirklich Kinder, unschuldsvolle, kleine Kinder. Und damit empfehle ich mich eurem geneigten Wohlwollen und bitte, wenn ich draußen bin, um milde Nachrede.”

Damit verabschiedete er sich, und kaum war er fort, da saßen die andern doch über ihn zu Gericht. Was sollten seine letzten Worte und sein Übermut bedeuten? Hatte er den Gedanken an Gisela vielleicht noch gar nicht aufgegeben, glaubte er, sie dennoch gewinnen zu können?

So unfaßlich dies den Kameraden erschien, ebenso unfaßlich war dem braven Holten selbst dieser Gedanke zuerst gewesen, aber nun hielt er um so zäher an ihm fest.

Vollständig zerschlagen war er gestern nach dem Ball nach Hause gekommen, gleich nachdem er den Korb erhalten, war er von dem Fest fortgegangen, um zu Haus seinen Gedanken nachhängen zu können. Alles auf der Welt hätte er für möglich gehalten, alles — seine sofortige Beförderung zum General, mit Überspringung sämtlicher Zwischenstufen, einen Gewinn in der Lotterie, obgleich er gar kein Los besaß, einen ihm freiwillig angebotenen Urlaub von acht Wochen, obgleich sein Kommandeur beinahe Krämpfe bekam, wenn er das Wort Urlaub nur hörte. Alles, selbst das Unwahrscheinlichste, hätte er geglaubz, aber daß die schöne Gisela ihm ein Nein antworten würde, das hatte er einfach für ausgeschlossen gehalten. Er hätte noch gestern nachmittag seine beiden Hände dafür ins Feuer gelegt, am Abend ein glücklicher Bräutigam zu sein, und nun war es doch anders gekommen. Woran lag das?

Darüber zerbrach er sich in der Stille der Nacht stundenlang den Kopf. Er war sich keiner Schuld bewußt, er war genau derselbe geblieben, der er immer gewesen war, das mußte doch einen Grund haben, daß sie ihm seine(1) Hand verweigerte. Und was sollte ihr Wort: „Ich werde überhaupt nicht heiraten!?”

Der Morgen dämmerte fast schon, als er sich plötzlich mit der Hand derartig vor die Stirn schlug, daß er unwillkürlich „au” rief.

Dann aber strahlte er plötzlich über dem ganzen Gesicht, die Erkenntnis war ihm gekommen.

„Schafskopf,” sagte er zu sich selbst, und als sein zweites Ich sich gegen diesen Titel auflehnen wollte, wurde er sich erst recht grob: „Du bist ein Schafskopf, sogar ein ganz großer. Wenn ein junges Mädchen sagt, es will niemals heiraten, so ist das ein untrüglicher Beweis dafür, daß es eine unglückliche Liebe hat. Und da es den nicht kriegen kann, den es will, will es überhaupt keinen. Siehst du das ein?”fragte er sein zweites Ich.

Das widersprach nicht.

„Na also, ich freue mich, daß du das trotz deiner Dämlichkeit begriffen hast. Nun hör weiter zu. Vorgestern hat Gisela mich noch geliebt, dafür könnte ich dir tausend Beweise bringen, wenn ich dadurch nicht indiskret würde und dadurch nicht den Anschein erwecken könnte, eitel zu sein. Wenn ein Mädchen wie Gisela mich vorgestern noch liebte, liebte sie mich gestern auch noch und heute ebenfalls, denn sie wechselt ihre heiligsten Gefühle nicht wie eine Hausfrau ihre Tischwäsche. Sie liebt mich also noch, und wenn sie trotzdem erklärt, sie würde niemals heiraten, so heißt das auf deutsch: Ich will nie heiraten, weil ich dich, den ich über alles liebe, nicht heiraten kann. — Das ist dir doch hoffentlich auch klar.”

Abermals widersprach niemand.

„Gott sei Dank,” fuhr Holten in seinem Selbstgespräch fort, „du scheinst mir doch noch nicht ganz so dumm zu sein, wie ich das vorhin beinahe fürchtete. Nun nimm aber, bitte, deinen Verstand weiter zusammen. Wenn also Gisela mich nicht heiratet, obgleich sie mich liebt, und wenn sie keinen andern will, weil sie nur mich will, dann steckt irgend etwas dahinter, und ich will dir auch sagen, was, ein anonymer Brief oder sonst irgendeine Verdächtigung. Gisela hat sicher einer Freundin von mir erzählt, und da hat die, weil sie selbst noch keinen Bräutigam hat, ihr abgeraten, ihr vielleicht erklärt: ,Jeden würde ich an deiner Stelle nehmen, nur diesen Holten nicht. Was man sich von dem alles in der Stadt erzählt, einfach unglaublich.' Und dann hat die Märchen erfunden wie Schahrazad in ,Tausend und eine Nacht', und Gisela hat das geglaubt, weil eine so vornehme Natur wie die ihrige es sich nicht denken kann, daß sich solche Lügengeschichten aus den Fingern saugen lassen. Sie hat den Glauben an mich verloren und dadurch, weil sie mich liebt, sogleich den Glauben an alle Männer überhaupt, und lediglich deshalb will sie nicht heiraten. Begriffen?”

Auch jetzt widersprach sein zweites Ich nicht.

„Schön, ich fange allmählich wieder an, mich mit dir auszusöhnen, und da wir nun die Ursache des Korbes gefunden haben, wird es auch ein leichtes sein, diese zu beseitigen. Denk mal ein bißchen mit nach.”

Aber trotz allen Grübeln fiel ihm nichts ein. Das einfachste wäre natürlich, an Gisela zu schreiben, ich ginge in der Annahme wohl nicht fehl, daß man mich bei ihr verleumdet hätte, ich wüßte zwar nicht, was man gesagt hätte, aber ich wäre zu jedem Eid bereit, daß alles gelogen wäre. So könnte ich ja schreiben, aber sie würde mir ja nicht glauben, und dann wäre es aus zwischen uns, denn ich könnte es ihr nie verzeihen, an meinem Wort gezweifelt zu haben. ich muß also etwas anderes finden.”

Als der Bursche kam, um seinen Herrn zum Dienst zu wecken, saß der noch wach und dachte und dachte, aber immer noch vergebens. Aber auf dem Kasernenhof war ihm plötzlich die Erleuchtung gekommen: „So wird's gemacht, nicht anders. Ich spiele zwar va banque ent- oder weder, aber schlimmer als die Situation augenblicklich ist, kann sie nicht werden. Zu verlieren habe ich nichts mehr, ich kann nur gewinnen, also Mut.”

Je länger er über seine Idee nachdachte, desto besser gefiel sie ihm: „Sobald ich im Kasino gefrühstückt habe, will ich an Gislea schreiben,” beschloß er, und nun saß er an seinem Schreibtisch und tauchte immer und immer wieder die Feder ein, bevor er anfing, denn so ganz einfach war der Brief doch nicht.

Dann aber nahm er seinen ganzen Mut zusammen und schrieb frisch darauf los:

„Mein sehr verehrtes, gnädiges Fräulein!

Ich müßte Sie nie geliebt haben und nicht auch noch heute über alles lieben, wenn Ihre Antwort, die Sie mir gestern erteilten, mich nicht niedergeworfen hätte. Aber ich würde vielleicht noch viel mehr verzweifelt sein, als ich es schon bin, wenn ich nicht die Hoffnung, ja noch mehr, die Gewißheit hätte, daß doch noch alles gut wird. Durch einen Zufall habe ich erfahren, daß man mich bei Ihnen verleumdet hat, ich weiß auch, wer das tat, und behalte mir vor, die betreffende Persönlichkeit deswegen zur Rede zu stellen, ich weiß auch, was man Ihnen über mich erzählte, und wenn auch vieles stark übertrieben ist, so ist doch das meiste dennoch die Wahrheit. Es wäre mir ja ein leichtes, alles abzuleugnen, aber das wäre unmännlich und feige. Wenn ich unrecht tat, will ich auch die Folgen tragen. Mit Recht würde Ihre vornehme Natur sich von mir abwenden, wenn ich nicht den Mut hätte, die Konsequenzen auf mich zu nehmen. Was geschehen ist, läßt sich heute nicht mehr ändern. Daß ich ein Windhund war, ist traurig, aber läßt sich nicht mehr ungeschehen machen

Ich kann nur gereuen und ernste Besserung geloben. Sie aber, mein gnädiges Fräulein, müssen verzeihen. Wie die Könige allein das Recht haben, Gnade walten zu lassen, so ist es das Vorrecht der Frauen, milde, gütig und nachsichtig(2) zu sein. Die Liebe verzeiht alles, sonst ist es nicht die große, echte, wahre Liebe.

Können Sie mir vergeben, dann bin ich der glücklichste aller Menschen; vergeben Sie aber nicht, dann sehe ich daraus, daß Ihre Liebe zu mir nicht halb so groß ist wie die meinige, und dann werde ich auch unter Ihrer gestrigen Antwort nicht mehr leiden, denn dann weiß ich, daß Sie mich doch nicht glücklich gemacht hätten.”

„Donnerwetter, der letzte Satz ist eigentlich etwas reichlich stark,” dachte Holten, als er die Worte niedergeschrieben hatte. Einen Augenblick überlegte er, ob er den Brief nicht noch einmal von vorne anfangen solle, dann aber besann er sich eines anderen. „I wo, was steht, das steht, je energischer ich auftrete, desto besser ist es.” So schrieb er denn weiter:

„Ich sende Ihnen diese Zeilen durch meinen Burschen und bin den ganzen Nachmittag zu Haus, um Ihre Antwort in Empfang zu nehmen.

Ich begrüße Sie mit dem Ausdruck
meiner größten Hochachtung und
Verehrung als Ihr sehr ergebener
Holten.”

„So,” sagte er sich, als er den Brief nochmals durchgelesen hatte. „Unheil, du bist im Zuge, nimm welchen Lauf du willst.” Dann klingelte er seinem Burschen, und gleich darauf machte er sich mit dem Schreiben auf den Weg.

Schon nach einer kleinen Stunde kam die Antwort. Er war gewiß nicht feige, aber es fehlte ihm doch lange der Mut, den Brief zu öffnen. „Peter, halt den Daumen,” sagte er zu seinem Burschen, „wenn hier drin was Gutes steht, kriegst du einen blanken Taler.”

„Ich drück' schon, Herr Leutnant.” Und wirklich preßte Peter seine Daumen, als lägen sie unter einem Schraubstock.

Und mit einem Male fiel ihm der Leutnant um den Hals. „Peter, freu dich mit mir, wir sind verlobt.”

Als gehorsamer Untergebener freute er sich auch wirklich, aber über den Taler freute er sich noch viel mehr, und freudestrahlend ging er in das Schlafzimmer, um für seinen Herrn die beste Uniform herauszusuchen, während Holten immer wieder Giselas Antwort las: „Ich verzeih Dir alles und bin stolz auf Dich, daß Du den Mut zur Wahrheit hattest und nicht erst zu leugnen versuchtest, was ja auch leider, leider gar nicht zu leugnen ist. Aber meine Liebe ist größer, als Du glaubst, und ich bin glücklich, Dir verzeihen zu dürfen.”

Glückstrahlend eilte Holten zu seiner Braut, und wenn sie ihm auch verzieh, den Kopf wusch sie ihm doch ganz gehörig. Wie hatte er nur früher so schlecht sein können!

Holten war anscheinend so zerknirscht, daß er gar keine Antwort fand, und angeblich war er auch durch sein Ehrenwort gebunden, darüber zu schweigen, auf welchem Wege er von der gegen ihn erhobenen Anklage Mitteilung erhalten hätte. Das nahm Gisela zwar zuerst etwas übel, aber sie beruhigte sich, als Holten ihr gelobte, die ihm ja in Wirklichkeit auch ganz unbekannte Persönlichkeit nicht zur Rechenschaft zu ziehen.

Ein heißer Kuß belohnte ihn für seinen Edelmut.

Die ganze Wahrheit erfuhr erst Gisela viel später, da aber wurde sie ernstlich böse, so böse, daß sie die Verlobung gleich wieder auflösen wollte. Aber Gott sei Dank war es dazu schon zu spät, denn sie waren bereits seit mehreren Monaten verheiratet.


Fußnoten:

(1) Hier soll es wohl heißen: „daß sie ihm ihre Hand verweigerte”. (Zurück)

(2) Im gedruckten Original steht: „nachsüchtig”. (Zurück)


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