Das Mädchen von sechzehn Jahren.

Von Freiherr von Schlicht
in: „Die süssen kleinen Mädchen — wie sie lieben.”


Anny, die ebensogut Bertha, Klara, Dora, Liesbeth oder sonst irgendwie heißen könnte, ist nun mehr sechzehn Jahre alt. Gott sei Dank! Endlich gehört sie zu den jungen Damen und nicht mehr zu den jungen Mädchen. Und vor allen Dingen ist sie schon lange konfirmiert. Die Zeit, in der man sie noch mit halbspöttischen Blicken ansah und sie nicht für voll nahm, weil sie „erst eben” konfirmiert war, liegt weit zurück, so weit, daß sie sich kaum noch auf den Tag der Einsegnung zu besinnen vermag, wenigstens dann nicht, wenn sie daraufhin angesprochen wird. In Wirklichkeit aber lebt das feierlicher Ereignis in ihrer Erinnerung noch so frisch, als wäre erst gestern der große Tag gewesen, an dem sie zum erstenmal einen langen Rock anzog, einen wirklichen langen Rock, wie ihn nicht nur die Mutter und die anderen Damen ihrer Bekanntschaft, sondern wie ihn sogar die Königinnen tragen. Und wie eine Königin ist sie sich auch vorgekommen, als sie in dem neuen Kleid einherstolzierte. Der lange Rock war doch das schönste an der ganzen Konfirmation, der hat sie so beschäftigt, daß sie kaum auf die Predigt hinhörte, und als sie dann ihr Sprüchlein aufsagen mußte, wäre sie um ein Haar steckengeblieben, weil sie in dem Augenblick gerade darüber nachdachte, was Fritz Eilers wohl sagen würde, wenn er sie am Nachmittag zum erstenmal in dem langen Rocke sähe, den auch der würde sicher am Nachmittag kommen, um ihr zu gratulieren. Hoffentlich verplapperte er sich da nicht und nannte sie nicht auch in Gegenwart der anderen „du”, wie er es sonst natürlich bei ihren heimlichen Zusammenkünften getan hatte. Denn wenn es gerade an ihrem Konfirmationstage herauskam, daß Fritz und sie und sie und Fritz — ach ja, süß war es gewesen, aber das mußte nun natürlich vorbei sein, denn jetzt war sie eine junge Dame und trug ein langes Kleid.

Allerdings, schon am nächsten Tage bestand die Mutter darauf, daß die alten Röcke auch noch weiter getragen würden, wenigstens in der Woche. Für die Sonntage und für besondere Gelegenheiten blieb dann der lange, aber die alten konnten doch nicht einfach fortgeworfen werden.

Vergebens hatte Anny protestiert, man könne doch nicht einmal lang gehen und dann wieder kurz. Entweder sei man junge Dame oder man sei es nicht. Die anderen Leute wüßten doch sonst gar nicht, wie sie sich ihr gegenüber zu verhalten hätten und vor allen Dingen wäre es in ihrem Alter doch im höchsten Grade unpassend, noch zu zeigen oder irgendwie zu verraten, daß sie Beine hätte, und wenn sie schon welche hätte, dann brauchten die Herren doch nicht zu sehen, was sie für Beine hätte und wie die geformt wären.

Aber auch dafür hatte die Mutter kein Verständnis gehabt, denn die heutigen Mütter verstehen ihre Kinder ja überhaupt nicht mehr, eine Kluft von Anschauungen trennt sie. So viele Brücken auch gebaut werden, über den Abgrund gibt es ganz einfach keine Brücke. Das hat auch Anny wieder einsehen müssen und kopfschüttelnd, zugleich aber innerlich vor Wut weinend, hat sie sich in das Unvermeidliche gefügt, sich aber zugleich im stillen geschworen, alles zu tun, was in ihren Kräften stände, damit die halblangen Röcke bald aufgetragen waren. Jeden dritten Tag ist sie mit einem anderen Rock auf dem Treppenabsatz oder sonst irgendwo an einem Nagel hängengeblieben, den sie zu diesem Zweck selbst einschlug und von ihrem Taschengeld hat sie das Mädchen bestochen, daß diese die Röcke nie reinmache und die Flecken nie ausreibe, sondern sie mit einer fettigen Flüssigkeit weiter und weiter verreibe, damit sie beständig größer würden. So kam, was trotz allen Scheltens der Mutter kommen mußte, nach einem Vierteljahr waren alle anderen Röcke unbrauchbar, und so trägt sie seit langer Zeit nur noch ganz lange, sogar auch an Wochentagen.

Und in stillen Stunden träumt sie von dem Augenblick, an dem sie zum erstenmal ein Kleid mit einer Schleppe tragen würde.

So weit ist es aber noch lange nicht, denn vorläufig ist sie erst eine junge Dame von sechzehn Jahren.

Und diese junge Dame ist sie nicht nur in bezug auf den langen Rock, sondern auch auf ihre ganzen Anschauungen.

Selbstverständlich ist sie nun auch schon lange über alles vollständig aufgeklärt, sie weiß alles, ihr macht kein Mensch mehr ein X für ein U vor.

Vor allen Dingen kennt sie jetzt die Männer in- und auswendig. Die gleichen einander alle auf das Haar und taugen tun sie alle nichts. Nicht die Bohne! Und darum ist sie mit den Männern fertig, vollständig fertig und zwar nicht nur für heute und morgen, sondern für alle Zeiten. Der Mann, der ihr imponieren kann, muß erst noch geboren werden, und sie begreift sich selbst nicht mehr, wie sie sich damals hat von Fritz abküssen lassen können. Daß sie ihn zum mindesten ebenso oft und ebenso leidenschaftlich küßte, wie er sie, das hat sie schon längst vergessen, und sie würde jeden Eid der Welt schwören, daß sie seine Liebkosungen nur duldete, sie aber niemals erwidert, und ferner würde sie jeden Eid darauf schwören, daß sie sich überhaupt nur deshalb von ihm küssen ließ, weil er sie so darum bat, weil sie so großes Mitleid mit ihm hatte und weil er ein so netter, lieber Junge war.

Nein, sie selbst hatte ihn nie geküßt. Gott sei Dank nicht, denn sonst müßte sie ja jedesmal verlegen werden, wenn sie ihm begegnet.

Aber sie wird nicht verlegen, sie grüßt ihn genau so förmlich, genau so gleichgültig, wie jeden anderen jungen Herrn, und daran ändert auch der Blick seiner traurigen Augen nichts, der da immer von neuem zu fragen scheint: Muß es denn wirklich für alle Zeiten zwischen uns aus sein?

Sie weiß ganz genau, was diese Blicke sie fragen, aber das läßt sie ganz kalt und allmählich versteht sie diese Blicke überhaupt nicht mehr, denn es ist doch gar nichts zwischen ihnen gewesen.

Sie hat ihn geliebt, so heiß sie mit ihrem jungen Herzen nur lieben konnte, aber das hat sie schon längst vergessen und vor allen Dingen, was wußte sie damals davon, was Liebe war.

Jetzt weiß sie es, es gibt überhaupt keine Liebe. Liebe ist Unsinn und was die Männer Liebe nennen — nein, darauf fällt sie nicht herein.

Alle Männer sind Egoisten, die denken nur an sich, und was die von einem jungen hübschen Mädchen wollen, wenn sie der erkläeren, ich liebe dich, das weiß sie sehr genau.

Wenn ihr späterer Gatte ihr vor der Hochzeit von seiner Liebe spricht, da muß sie es ja glauben und kann ja auch ruhig zuhören, besonders, wenn er reich ist, so reich, daß sie sich jeden Toilettenluxus erlauben kann. Einen armen Mann heiratet sie natürlich überhaupt nicht. Das soll ihr gerade einfallen, sich womöglich in jeder Saison nur einen Hut kaufen zu können, statt seidener Strümpfe baumwollene zu tragen, anstatt eleganter Lackschuhe derbe Wichsstiefel und das alles nur, weil das Leben so teuer ist und weil die Kinder — — Wenn sie daran denkt, daß sie später vielleicht einmal Kinder haben soll und daß ihr Mann sie vielleicht nur deshalb heiratet, dann zuckt sie geringschätzend die Achseln und hat dafür nur das eine Wort: „Verrückt, total verrückt!”

Wenn sie überhaupt jemals heiraten sollte, was ihr bei ihren Anschauungen über die Männer vorläufig noch mehr als zweifelhaft erscheint, dann tut sie es doch nicht, um Mutter zu werden, sondern um einen Mann zu haben. Dem will sie, wenn der Geistliche dazu seinen Segen dadurch gab, daß er sie ihm als Ehefrau antraute, eine Geliebte werden, wie er sich die nicht besser wünschen kann. Aber Mutter? Kindergeschrei, schmutzige Windeln, Kinderwäsche, ewiger Verdruß mit der Amme, mit Rücksicht auf die Kinder zu Hause sitzen müssen und nicht auf Reisen gehen können? — einfach verrückt!

Und sie will viel reisen, überall hin, wo es schön und elegant ist. Aus der Natur macht sie sich gar nichts und ob die Hochzeitsreise sie nach Italien oder sonst irgendwohin führt, ist ihr ganz gleichgültig, denn auf der Reise kommt man ja doch nicht aus dem Hotel heraus, da sitzt man ja doch den ganzen Tag in seinem Zimmer und kost und küßt und hat sich lieb. Höchstens, daß man zu den Mahlzeiten in den Speisesaal heruntergeht und da muß man natürlich solche Städte und solche Hotels aufsuchen, in denen ganz große Toilette gemacht wird: Paris, London, natürlich Monte Carlo, Biarritz, je eleganter, je besser.

Und sie wird schon dafür sorgen, daß auch ihre Toiletten sich sehen lassen können. Gut angezogen zu sein, ist für eine junge Frau alles. Was wissen die Männer von Liebe? Die lieben ja doch nicht mit dem Herzen, schon deshalb nicht, weil sie gar keins haben, die lieben nur mit den Sinnen und die am besten angezogene Frau, diejenige, die ihnen am schicksten erscheint, lieben sie am meisten.

Wenn der Mann mit seiner jungen Frau auf der Hochzeitsreise ist und er sieht irgendwo eine Dame, die eleganter ist, als seine eigene Frau, dann hat er sofort den Wunsch: Die möchtest du einmal in deine Arme nehmen.

Erst neulich hat sie es wieder von einer noch sehr jungen Frau gehört: Jeder Ehemann, der mit seiner Frau auf Reisen ist und andere Frauen sieht, bricht mit denen in Gedanken täglich mindestens zehnmal die seiner Gattin eidlich gelobte Treue.

Die ganzen Männer sind keinen Schuß Pulver wert. Das Schlimme ist nur, daß man sie braucht, weil man ohne einen Mann zu haben ja nicht heiraten kann. Aber soviel weiß sie, wenn sie später mal heiratet, dann ist sie der Herr im Hause und wenn sie ihrem Gatten sich selbst, ihre ganze Schönheit und ihren Körper darbringt, dann soll er jeden Tag vor ihr auf den Knien liegen und ihr dafür danken und ihr jeden Wunsch aus den Augen ablesen.

Und sie wird schon Wünsche haben. Vor allen Dingen immer neue Toiletten. Jede Frau schmückt sich nur für sich selbst, vor allen Dingen aber für ihre Rivalinnen, damit die vor Neid in allen Regen­bogen­farben schimmern, dem Gatten aber muß sie natürlich sagen: „Ich schmücke mich nur für dich, damit du mich schöner findest als alle anderen und mich alleine lieb behältst.” Und wenn er ihr dann antworten sollte: „Ich werde dich auch ohnedem lieb behalten,” dann wird sie mit Leichtigkeit beweisen, daß er sich irrt.

Gottlob hat sie ja ihre Erfahrungen, wenngleich sie die natürlich später nicht verraten darf. Aber sie sieht es ja jeden Tag von neuem, wie verschieden der Eindruck ist, den ihre Erscheinung hervorruft, je nachdem sie mehr oder weniger elegant gekleidet ist.

Die Männer und die jungen Herren sind ihr alle ganz gleichgültig, aber trotzdem schmeichelt es ihrer Eitelkeit, sich von ihnen bewundern zu lassen. Das aber gibt sie natürlich nicht zu, sondern sie redet sich ein, sich nur deshalb schick und verführerisch zu kleiden, um den Herren den Kopf zu verdrehen, um sich dann hinterher über sie lustig machen zu können.

Daß sie sich jemals in einen Herrn verlieben sollte, ist ganz ausgeschlossen, dagegen ist sie gefeit. Nach allem, was sie über die Männer gelesen und gehört hat, kann ihr keiner mehr gefährlich werden.

Aber ohne den Flirt und ohne daß man ihr den Hof macht, kann sie trotzdem nicht leben. Sie macht sich zwar, wie sie sich einredet, absolut gar nichts daraus, sondern es ist für sie lediglich ein Zeitvertreib, wie das Tennisspiel oder sonst irgend etwas.

So spielt sie denn auf dem Tennisplatz mit den jungen Herren ebenso, wie mit den Bällen, ja mit den Herren sogar noch viel intensiver, denn ob sie schließlich einen Ball ausläßt oder nicht, das ist ihr ziemlich gleich, aber die Herren müssen ihr alle huldigen, da läßt sie keinen aus, die müssen, wenn natürlich auch nur bildlich gesprochen, alle niederknien und sie anbeten. Wenigstens ihr Äußeres und das Äußere ist ja für eine junge Dame die Hauptsache. So hat sie sich denn ein Tenniskostüm machen lassen, das einfach totschick ist und ihr ganz ausgezeichnet steht. Namentlich der flotte Sportshut kleidet ihr junges frisches Gesicht ganz allerliebst. Das weiß sie selbst am allerbesten und sie weiß auch sehr genau, was hübsch an ihr ist. Nicht nur die hübschen, zarten Farben ihres rosigen Teints, sondern auch die runden schwarzen Augen mit den dichten Wimpern, der verführerische, ein ganz klein wenig sinnliche Mund mnit den schneeweißen Zähnen. Wenn sie ihr dichtes braunes Haar löst, fällt es ihr wie ein Mantel über die ganze Schulter, aber so schön das Haar auch ist, am schönsten sind nicht nur in ihren Augen die beiden kleinen Locken, die halb beabsichtigt, halb gegen ihren Willen beständig ihre Ohren umspielen, diese süßen kleinen Ohren mit den rosigen Muscheln.

Und zu diesem hübschen und verführerischen Gesicht gesellt sich ihre mittelgroße, schlanke und geschmeidige Gestalt, die biegsam ist wie eine junge Gerte. Und sie biegt und beugt die bei dem Spiel so oft es nur geht, nicht nur, um keinen der Bälle auszulassen, sondern weil ihr die Blicke nicht entgehen, mit denen die Herren jede ihrer Bewegungen verfolgen. Anscheinend ist alles bei ihr ganz unbeabsichtigt, denn trotz ihrer sechzehn Jahre ist sie für viele der anderen ja doch noch ein halbes Kind, aber je natürlicher und unbeabsichtigter anscheinend alles an ihr ist, um so raffinierter und koketter ist es in Wirklichkeit. Sie weiß sehr genau, daß bei ihrem Anblick in den Herren allerlei sündhafte Gedanken wach werden, aber das geniert sie nicht im geringsten. Im Gegenteil, das veranlaßt sie erst recht, bei dem Laufen ihre Röcke fliegen zu lassen und Stellungen einzunehmen, die ihre Formen deutlich ahnen lassen. Warum auch nicht? Wozu ist sie denn so schön gewachsen? Doch nicht nur, damit sie alleine sich daran erfreut.

Und es schmeichelt ihrer Eitelkeit und es ist ihrer Sinnlichkeit eine gewisse Befriedigung, wenn sie in den Augen der Herren ein heißes und leidenschaftliches Aufflammen sieht, das ihr da deutlich den Wunsch verrät: „Ach, könnte ich dich nur ein einziges Mal in die Arme nehmen und dich küssen, bis uns beiden der Atem vergeht.”

Aber sie selbst bleibt dabei kühl bis in das Herz hinan, ja sie macht sich sogar im stillen über die jungen Herren lustig, denn sie ist ja mit den Männern vollständig fertig und gerade deshalb kann sie es sich erlauben, den Flirt und das Kokettieren bis an die äußerste Grenze zu treiben.

Und je verliebter die Herren in sie werden, desto mehr verdreht sie ihnen kalten Herzens den Kopf. Einem aber ganz besonders. Er heißt Hans, ist ein sehr junger Student, der aus einer angesehenen Familie stammt und der seine Verliebtheit so deutlich zur Schau trägt, daß es alle ganz genau merken, wie es um ihn steht. Er ist ein schlanker, hübscher, junger Mensch, mit schönen blauen Augen, die immer einen ganz traurigen Ausdruck annehmen, so oft er sich irgendwie von ihr vernachlässigt glaubt.

Und da sie sieht, wie er darunter leidet, vernachlässigt sie ihn immer mehr, um ihn dann plötzlich wieder in auffallender Weise zu bevorzugen. Sie läßt alle Künste der Koketterie spielen, um ihn ganz von Sinnen zu machen, sie selbst bleibt dabei ganz kühl und doch hat sie keinen anderen Gedanken, als nur ihn allein. Sie ist neugierig, was bei diesem Flirt herauskommt, ob seine Verliebtheit denn ewig dauern wird, und vor allen Dingen beschäftigt sie die Frage: „Was will er denn eigentlich von dir? Doch nicht etwa heiraten?” Daran denkt sie noch nicht, erst will sie das Leben genießen, sich den Hof machen lassen und den Herren die Köpfe verdrehen.

So treibt sie denn ihr Spiel mit allen weiter, ganz besonders aber mit dem armen Hans, bis sie von dem eines schönen Morgens einen Brief erhält. Nicht etwa heimlich und verstohlen durch Vermittelung des Dienstmädchens oder eines intelligenten Boten, sondern richtiggehend durch die Post. Mit den anderen Sachen liegt er auf dem gemeinsamen Frühstückstisch und ihre Mutter schiebt ihn ihr zu: „Hier ist auch etwas für dich.”

Sie nimmt den Bief in Empfang, sie hat keine Ahnung, von wem er ist, die Handschrift ist ihr ganz fremd, aber sie hat plötzlich das unbestimmte Gefühl, als ob etwas mit diesem Schreiben nicht seine Richtigkeit habe, als berge es irgendein Geheimnis. Sie wird eine plötzlich auftretende Unruhe nicht wieder los. Nur ein wahres Glück, daß die Mutter völlig harmlos ist und zum Mißtrauen nicht das leiseste Talent besitzt. Die Tochter macht soeben an ihrer Mutter die Entdeckung, daß diese in ihrer Jugend und in ihrem Alter wirklich noch sehr unschuldig gewesen sein muß, denn sonst würde sie den Brief ihrem Kinde nicht so ohne weiteres gegeben haben, noch dazu, wo er aus der Stadt kommt und auf dem Kuvert unverkennbar eine Herrenhandschrift trägt.

Anny konstatiert das mit immer größer werdender Genugtuung, aber auch mit ständig wachsender Unruhe, und heimlich schielt sie zu der Mutter hinüber, ob die denn wirklich gar keinen Argwohn schöpft. Aber die kümmert sich absolut nicht um den Brief ihrer Tochter, trotzdem sagt die aber ganz unaufgefordert, lediglich, um bei ihrer Mutter auch den letzten Rest des gar nicht vorhandenen Mißtrauens zu verscheuchen: „Der Brief ist von Ellen, die wollte mir noch Nachricht geben, ob es bei unserer Verabredung für heute vormittag bleibt. Nun ist sicher etwas dazwischen gekommen, schade, ich hatte mich so darauf gefreut.”

Nur ein wahres Glück, daß die Mutter nicht fragt, worin diese Verabredung bestanden hat, im Augenblick wäre sie vielleicht doch um eine Antwort verlegen gewesen.

Dann öffnet sie den Brief. Ihr erster Blick gilt der Unterschrift: „Ihr sich vor Liebe zu Ihnen verzehrender Hans Bandmann.” Ihr zweiter überfliegt die Anrede: „Sehr verehrtes und über alles geliebtes Fräulein Anny.”

Eine Augenblick lähmt sie die Furcht, daß die Mutter nun vielleicht doch noch wissen will, was in dem Brief steht, dann sagt sie ganz ruhig und gelassen: „Es ist, wie ich vermutete, Ellen kann heute morgen nicht.” Und da sie natürlich weiß, wenigstens vermutet, daß der Brief die Bitte um ein Rendezvous oder etwas Ähnliches enthält, setzt sie gleich hinzu: „Ellen bittet mich aber, heute nachmittag zu ihr zu kommen und wenn wir mit den Besorgungen nicht rechtzeitig fertig werden sollten, bei ihr zu Abend essen, sie essen ja eine Stunde später als wir, du hast doch nichts dagegen, Mama?”

Die blickt ganz erstaunt auf: „Warum sollte ich denn etwas dagegen haben?”

Das sieht Anny jetzt auch nicht mehr ein, so sagt sie denn nur: „Ich mußte dich doch wenigstens um Erlaubnis bitten, Mama,” und fährt dann fort: „Ich will dann gleich an Ellen ein paar Worte schreiben, daß ich bestimmt komme. Leider hat sie ja kein Telephon, du entschuldigst mich dann wohl, Mama.”

Und draußen ist sie, noch bevor die Mutter ihr zurufen konnte: „Aber Kind, du hast ja noch kaum etwas gefrühstückt.”

Draußen ist sie und eilt in ihr Zimmer, dessen Türen sie fest hinter sich verschließt.

Dann holt sie den Brief hervor, um ihn in aller Ruhe lesen zu können, aber mit der Ruhe ist es vorläufig noch nicht weit her. Erst als sie das Schreiben sechsmal durchgelesen hat, weiß sie, was es enthält: Das Geständnis einer leidenschaftlichen Liebe, hervorgerufen durch das herzlose Spiel, das sie mit dem armen Jungen getrieben hat. Ein wildes Liebesgestammel, flammende Worte der Sehnsucht nach Erhörung, nach ihren Küssen und nach ihren Liebkosungen. Und zwischendurch immer die Worte: „So ertrag ich es nicht länger, lieber schieße ich mich tot.”

Aber aus dem krausen Wirrwarr klingt doch etwas hervor, das sie erkennen läßt, wie ernst es dem Schreiber mit seinen Worten ist und daß er sich wirklich mit dem Gedanken trägt, unter Umständen seinem Leben ein Ende zu machen.

Heute abend um sechs Uhr erwartet er sie draußen vor dem Tor an dem Zwinger. Er wird sie an einen Platz führen, wo sie vor jeder Entdeckung sicher sind, dort will er ihr sagen, wie sehr er sie liebt und sie soll ihm sagen, daß sie doch ein Herz in der Brust hat, daß sie nicht nur mit ihm spielte, und er will sie küssen und küssen und immer wieder küssen.

Anny ist schon lange mit den Männern fertig und was er da von dem Herzen schreibt, beweist ihr ja, daß er noch ein Kind ist, aber trotzdem lacht sie nicht über ihn und macht sich auch nicht über den Brief lustig, denn der sagt ihr ja, daß Hans sich totschießen will, wenn sie ihn nicht erhört.

Es ist das erstemal, daß ein Mann ihr schreibt:„Ohne dich hat das Leben für mich keinen Reiz mehr.”

Und plötzlich sieht sie ihn ganz deutlich daliegen mit zerschossener Schläfe, das Blut rinnt aus der Wunde herunter, seine hübschen Augen sind geschlossen für immer und nur mühsam unterdrückt sie einen leisen Schrei des Entsetzens. Nein, nicht sterben, um ihretwillen nicht sterben, die Schuld will und darf sie nicht auf sich laden. Und als wenn er es hören und als wenn sie ihn dadurch von seinem Vorhaben zurückhalten könne, sagt sie fortwährend halblaut vor sich hin: „Ich komme, ich komme.”

Und sie geht am Abend zu dem Rendezvous, nicht nur weil sie seinen Tod verhindern will, sondern hauptsächlich, weil sie nun endlich erfahren will, was bei seiner Liebe und bei der ganzen Geschichte eigentlich herauskommen soll. Sie hat sich fest vorgenommen, gleich zu Anfang sehr ernsthaft mit ihm darüber zu sprechen, sie will die Vernünftigere von ihnen beiden sein, aber sie kommt nicht dazu, ihren Vorsatz auszuführen, denn kaum tritt sie ihm gegenüber, da zieht er sie wild an sich, schlingt seine Arme um ihren Hals, küßt sie und trinkt die Küsse von ihren Lippen, wie ein Verdurstender an der Quelle, die ihm das entweichende Leben zurückgibt. Er ist unfähig zu sprechen, eine gewaltige Erregung hat alle seine Sinne, sein ganzes Denken und Empfinden ergriffen, er lallt vor glückseliger Trunkenheit vor sich hin und küßt und küßt sie immer wieder, bis auch sie von seinem Taumel angesteckt ist. Sie weiß gar nicht, wie sie dahin gekommen ist, in einem verschwiegenen Stübchen eines Restaurants findet sie sich endlich wieder, sie sitzt auf seinem Schoß und hat jetzt ihre Arme um seinen Hals geschlungen, wie er sie vorhin an sich zog. Sie duldet und erwidert seine Liebkosungen, sie streichelt ihm das Haar, sie küßt seine schönen Augen, die sie immer noch fragend ansehen, ob das Glück, das er jetzt genießt, auch wirklich Wahrheit ist. Sie nimmt seinen Kopf zwischen ihre beiden Hände und küßt ihn auf den Mund und sie wehrt seinen Händen nicht, als die nun liebkosend über ihren Körper dahin gleiten.

Ein Sinnestaumel hat sie erfaßt, der erste große Sinnenrausch ihres Lebens. Trotzdem vergißt sie natürlich nicht, wer sie ist und wie weit sie gehen darf, ohne Schaden zu nehmen an ihrer Ehre, aber sonst vergißt sie alles andere um sich herum. Sie hat nur noch einen Gedanken und der ist Hans. Sie frägt nicht mehr, was aus dieser Liebe werden soll und was die für einen Zweck hat, sie ist auch schon lange nicht mehr die Verständigere von ihnen beiden. Immer heißer, immer flammender werden ihre Küsse und die Glut in ihren Adern, die immer von neuem entfacht, aber nie gestillt wird, läßt sie ihn immer wilder an sich pressen, sich an seinen Lippen festsaugen, bis sie endlich in leiser Ohnmacht die Augen schließt, um dann doch wieder durch seine Küsse zu neuen Liebkosungen erweckt zu werden.

Endlich wird es Zeit, sich zu trennen, so harmlos und so wenig argwöhnisch die Mutter auch ist, selbst die würde doch etwas merken oder wenigstens Verdacht schöpfen, wenn Anny zu spät nach Hause käme.

Und morgen ist ja auch noch ein Tag und übermorgen und all die kommenden Tage, täglich werden sie sich fortan sehen, täglich werden sie sich küssen wie heute und sie werden nie aufhören, sich zu lieben.

Das schwören sich beide in einem endlos langen, heißen Kuß.

Am nächsten Nachmittag treffen sie sich wie sonst auf dem Tennisplatz. Beide haben sich so in der Gewalt, daß sie sich in keiner Weise verraten, und Anny plaudert genau so gleichgültig mit ihm, wie mit jedem anderen. Dabei denkt sie aber fortwährend: „Wenn ihr wüßtet, wie wir uns gestern küßten und liebkosten.” Das Verlangen wird in ihr wach, sich wenigstens einer Freundin anzuvertrauen, der ihr übervolles Herz auszuschütten, die an ihrem Glück teilnehmen zu lassen, zugleich aber auch deren Neid zu erregen, denn wenn die natürlich auch ihren Freund hat, so hübsch wie Hans ist der lange nicht.

Sie möchte sprechen, aber sie schweigt doch, nicht aus irgendwelcher Furcht, ihr Geheimnis zu verraten, sondern weil dieses Geheimnis einen prickelnden Reiz auf sie ausübt. Es liegt für sie etwas Verführerisches und Aufregendes darin, sich sagen zu können: „Kein Mensch ahnt, wie es um uns beide steht, jetzt ist Hans mir gegenüber genau so kühl und korrekt, wie gegen jede andere von euch und in ein paar Stunden hält er mich in seinen Armen und küßt mich wie wild.”

Bis dann plötzlich die Freundinnen auch ohne ihr Zutun doch alles erfahren. Sie hat geglaubt, ihm heinlich und verstohlen einen Blick des Einverständnisses zuwerfen zu können, aber man hat diesen Blick aufgefangen. Erst neckt man Anny ein klein wenig, dann findet man es von ihr sehr verständig, daß sie seine Bitten endlich erhörte, dann aber wird man neugierig und will interessante Details erfahren. Natürlich weiß man von sich selbst sehr genau, wie es bei solchen Dingen zugeht, aber im stillen denkt man immer, daß es bei anderen vielleicht doch noch etwas anders sein könnte.

Aber Anny ist verschwiegen, sie sagt nichts, sie schwört sogar, die Freundinnen befänden sich im Irrtum, zwischen ihr und Hans sei wirklich gar nichts, nicht das allergeringste. Aber als die Freundinnen dann anfangen, von ihren jungen Freunden zu sprechen, da läßt die Eitelkeit auch sie nicht länger schweigen, die Eitelkeit, daß auch sie einen Freund hat, der bis über beide Ohren in sie verliebt ist.

Nur, daß auch sie ihn über alles liebt, sagt sie nicht, denn sie fürchtet, dadurch lächerlich zu erscheinen. Sie ist ja mit den Männern fertig und wenn sie sich auch küssen läßt, ihr Herz darf nichts davon wissen.

Aber ihr Herz weiß doch etwas davon, wenigstens in den ersten Wochen, in denen Hans bei dem Erwachen und vor den Einschlafen ihr erster und letzter Gedanke ist, wo ihr ganzes Sinnen und Trachten nur ihm gilt, bis sie dann nach einigen Wochen anfängt, ruhiger zu werden. Nicht, weil sie Hans nicht mehr liebt, gewiß, sie liebt ihn noch ebenso, wie am ersten Tage, aber sie kommt allmählich zu der Erkenntnis, daß sie ihn am ersten Tage gar nicht geliebt hat. Die Liebe ist ja überhaupt ein Unsinn, die gibt es gar nicht. Er hat es lediglich verstanden, ihre Sinne zu wecken und zu entflammen und dafür wird sie ihm dankbar sein, so lange sie lebt. Das wird sie ihm nie vergessen und die Stunden, die sie auf seinem Schoß verbrachte, werden in ihrem Gedächtnis bleiben, bis sie dereinst zum ewigen Schlaf die Augen schließt.

Aber trotzdem, auf die Dauer fängt die Sache an langweilig zu werden. Immer nur küssen und immer nur küssen und immer dieselben Liebesworte zu hören — gewiß, das ganz große Mysterium der Liebe kann und wird sie natürlich erst kennen lernen, wenn sie verheiratet ist, aber sie hat so die unbestimmte Empfindung, als ob es noch ein Mittelding gäbe, als gäbe es noch eine andere Art von Liebe, als die ihres Hans. Der ist ihr auch zu sehr verliebt in sie und das ermüdet allmählich. Und er läßt sich alles von ihr gefallen, all ihre Launen, die sie zuweilen absichtlich zur Schau trägt, um zu sehen, wie weit sie es denn eigentlich mit ihm treiben kann.

Nein, Hans fängt an, ihr langweilig zu werden, sie will ihm den Laufpaß geben.

Mehr als einen Brief hat sie ihm schon geschrieben, ohne ihn je abzuschicken. Schreiben läßt sich so etwas so schwer, wenigstens redet sie sich das ein, denn es reizt und lockt sie, ihm in das Gesicht zu sagen, daß sie sich trennen müssen. Sie will es mit eigenen Augen sehen und mit eigenen Ohren hören, wie er die Botschaft aufnimmt.

Auch das hat sie von Tag zu Tag verschoben, aber heute will sie es ihm ganz bestimmt sagen.

Sie kleidet sich zu dem Rendezvous so kokett und so verführerisch wie nur möglich: „Ich will mich für ihn noch einmal so anziehen, wie er mich besonders gern hat, um ihm eine große Freude zu machen,” sagt sie sich, aber in Wirklichkeit kleidet sie sich nur deshalb so hübsch, um ihm das Scheiden von ihr noch viel schwerer als ohnehin zu machen. Je größer seine Verzweiflung sein wird, desto mehr wird das ihrer Eitelkeit schmeicheln, ihre Sinne reizen.

Aber als sie dann auf seinem Schoß sitzt, weiß sie doch nicht das richtige Wort zu finden. Am liebsten sagte sie die Wahrheit: „Ich liebe dich nicht, ich habe dich nie geliebt und darum müssen wir uns trennen.” Aber das wäre herzlos und um ihrer selbst willen darf sie nicht in den Verdacht kommen, herzlos zu sein. Und wenn er sie dann fragen sollte, weshalb sie trotzdem täglich mit ihm zusammengetroffen ist — nein, das geht nicht.

Vor allen Dingen aber würde dann sein Stolz sich vielleicht doch regen. Und wenn sie ihm einfach sagt: „Ich habe dich nie geliebt,” da wäre er vielleicht imstande, ihr einfach zuzurufen: „Dann geh,” oder noch schlimmer, er könnte vielleicht gleiches mit gleichem vergelten und auch ihr zurufen: „Auch ich habe dich nie geliebt, wenigstens nicht mit dem Herzen und der Abschied wird mir deshalb nicht schwer.”

Sie glaubt zwar nicht, daß Hans so sprechen wird, denn das wäre zu gemein von ihm, aber trotzdem, besser ist besser, sie darf sich dem gar nicht erst aussetzen, daß er so sprechen könnte.

Nein, sie muß es ihm andersherum beibringen, damit sie sich an seiner Verzweiflung weiden kann.

So bricht sie denn plötzlich wie auf Kommando in heiße Tränen aus, sie preßt sich an ihn, als wolle sie ihn festhalten für ihr ganzes Leben und mit tränenerstickter Stimme murmelt sie halblaut: „Hans, mein über alles geliebter Hans, ich bin heute zum letztenmal bei dir, wir können und dürfen uns nicht wiedersehen.”

Ihre Augen sind voller Tränen, sie weiß selbst nicht, woher sie die alle so schnell bekommen hat, genug, sie sind da, aber trotz ihres tränenumflorten Blickes sieht sie ganz genau in seinen Zügen den Eindruck, den ihre Worte hervorrufen. Und die grenzenlose Verzweiflung in seinen Mienen, der todestraurige Zug um seinen Mund läßt sie plötzlich laut aufschreien: „Hans, ich kann nicht von dir lassen, ich kann nicht.”

Heißer und leidenschaftlicher denn je küßt sie ihn. Für eine Sekunde glaubt sie selbst, daß sie ihn nicht lassen kann, bis ihr dann wieder einfällt, daß die Trennung ihr eigener, wohlüberlegter Entschluß ist und daß sie sich fest vorgenommen hat. der Sache, die ihr schon lange langweilig geworden ist, heute ein Ende zu machen.

Hans sitzt immer noch wie leblos da, er kann und will nicht glauben, was sie ihm erzählte, und sie muß sich eingestehen: daß er derartig bei ihren Worten zusammenbrechen würde, das übertrifft ihre kühnsten Erwartungen.

„Aber Anny, um Gottes willen, es kann dein Ernst nicht sein, wir uns trennen? Was ist denn nur vorgefallen? Hast du mich denn nicht mehr lieb?”

Fast tonlos lommt es von seinen Lippen, angstvoll hängen seine Blicke an ihrem Mund, es kann ja nicht wahr sein, was sie vorhin sprach.

Wild wirft sie sich an seine Brust: „Ich dich nicht mehr lieben? Hans, mein über alles geliebter Hans, wie kannst du so etwas aussprechen, wie kannst du es nur überhaupt denken?”

Und dannn kommt eine lange Geschichte, die der Augenblick ihr eingibt. Die völlig ahnungslose Mutter wird wie Hamlets Geist aus der Versenkung heraufbeschworen. Die hat gleich, als der erste Brief kam, etwas gemerkt: „Hans, wie konntest du aber auch nur so unvorsichtig sein? Sie hat zwar kein Wort gesagt, aber mich so sonderbar angesehen, weißt du, so, wie nur die Mütter blicken können, wenn sie Unrat wittern. Weißt du und so wie die Mütter nun einmal sind, hat meine Mutter mich jeden Abend ruhig fortgehen lassen, weil sie sich im stillen sagte: Je unbefangener ich mich stelle, desto schneller bringe ich es heraus, ob meine Tochter auch wirklich nicht auf verbotenen Pfaden wandelt. Und wie sie es denn schließlich herausbekommen hat, weiß ich nicht (trotz allen Nachdenkens fällt ihr das im Augenblick nicht so schnell ein), ich habe meine Mutter beschworen, mir zu sagen, worauf sich ihr Verdacht gründet, schon damit ich mich dagegen verteidigen kann, aber sie sagt es nicht, sie hat immer nur die eine Antwort: ,Traurig genug, daß ich alles weiß.' Und dabei weiß sie natürlich noch lange nicht alles, sie hat mich fortschicken wollen auf das Land zu Verwandten, da soll ich zwei Jahre bleiben, bei einem ganz alten Ehepaar — ach, Hans, es war furchtbar und wenn die Mutter ahnte, daß ich trotzdem heute wieder mit dir zusammen bin, wenn auch zum letztenmal — ich habe ihr mein Ehrenwort geben müssen, daß alles zwischen uns aus sei und daß ich dich nie wiedersehe. Und um mich frei machen zu können, habe ich Erna in das Geheimnis gezogen, die hat mir zuliebe schon heute ihren Geburtstag, obgleich der erst in sechs Wochen ist, ich allein bin heute schon eingeladen und an dem wirklichen Geburtstag kann ich nun natürlich nicht hingehen, denn sonst merkt meine Mutter natürlich von neuem Unrat.”

So geht das noch eine ganze Weile weiter, bis ihr dann absolut nichts mehr einfällt. Dann umarmt und küßt sie ihn von neuem: „Hans, mein über alles geliebter Hans, nicht wahr, auch du siehst es ein, daß wir uns trennen müssen, wenn du deine kleine Anny nicht ganz unglücklich machen willst?”

Und schließlich sieht Hans es auch ein, weil er ihr alles glaubt — er beißt sich auf die Lippen, um seine Erregung zu verbergen, um seinen Schmerz niederzukämpfen, aber er kann trotzdem die Tränen nicht zurückhalten.

„Nicht weinen, Hans, bitte nicht weinen.”

Sie küßt ihm die Augen und selbst von neuem in Tränen ausbrechend, trocknet sie die seinen, bis dann die Trennungsstunde schlägt — bis sie meint, daß es nun des Abschiedes genug ist.

„Küß mich noch einmal, Hans, nur noch ein einziges Mal.”

Und sie küssen sich, bis ihnen die Sinne vergehen. Dann reißt sie sich gewaltsam los und ehe er noch den letzten Versuch machen kann, sie mit einem Wort zurückzuhalten, ist sie draußen.

Glücklicherweise ist die Mutter schon zu Bett gegangen, so hat sie es denn Gott sei Dank nicht mehr nötig, der noch heute abend ausführlich von dem Verlauf der Geburtstagsfeier bei Erna zu erzählen und so sucht sie denn gleich ihre Stube auf, aber noch lange nicht ihr Lager. Dazu ist sie noch viel zu erregt, sie muß das, was sie soeben erlebte, alles noch einmal in Ruhe überdenken, um damit für immer fertig zu werden.

Lange sitzt sie noch wach, immer wieder fragt sie sich: „War ich auch nicht zu herzlos, tat ich dem armen Hans auch nicht zu weh?”

Daß sie es war und daß sie es tat, weiß sie natürlich sehr genau, aber trotzdem findet sie ihr Verhalten durchaus richtig und korrekt.

Und vor allen Dingen, einmal mußte die Sache doch ein Ende haben, das konnte doch nicht ewig so weitergehen.

Bis sie dann doch ganz plötzlich anfängt, sich zu schämen . . .

Jetzt, wo die Episode Hans definitiv erledigt ist, gesteht sie es sich endlich selbst ein, wie sie mit ihm ihr Spiel trieb und wie sie ihm eine Komödie nach der anderen vormachte, bis zum letzten Augenblick.

Und plötzlich tut er ihr so entsetzlich leid. Der arme gute Junge, er hat so felsenfest an sie geglaubt und deutlicher als alle Worte verriet ja das starre Entsetzen in seinen Zügen, was er litt, als sie von der Trennung sprach. Sie fühlt plötzlich seine todestraurigen Augen wieder auf sich gerichtet, sie ist gegen ihn schlecht, zu schlecht gewesen und sie gäbe viel, nein,, alles darum, wenn sie ihr Unrecht wieder gutmachen könnte.

Alles — zu jedem Opfer ist sie bereit, aber auf das Nächstliegende, ihrem Hans morgen zu gestehen, daß die Geschichte von dem Abschiednehmenmüssen ein Märchen war, darauf kommt sie natürlich trotzdem nicht, weil dieses Opfer ihr unbequem wäre.

Da müßte sie auch zugeben, gelogen zu haben und ein junges Mädchen lügt nie, wenigstens gesteht sie es nie ein.

Aber niederträchtig schlecht hat sie doch an Hans gehandelt. Sie schämt sich immer mehr. Die Tränen der Reue steigen ihr in die Augen und während sie still vor sich hin weint, beginnt sie sich auszukleiden, denn es ist schon nachts zwölf Uhr und zu lange darf man seine Sünden auch nicht bereuen, sonst sieht man am nächsten Morgen nicht gut aus. Da könne selbst die ahnungsloseste und absolut nicht mißtrauische Mutter Verdacht schöpfen und fragen: „Aber Anny, was hast du denn nur?”

Und Mütter dürfen nie fragen, schon damit die Töchter nicht in die Lage kommen, lügen zu müssen.

Nein, die Mutter darf nicht fragen, durch irgendeinen unglückseligen Zufall könnte sie vielleicht doch die Wahrheit erfahren. Und was dann? Das ist gar nicht auszudenken, nur ein wahres Glück, daß sie rechtzeitig von Hans Abschied nahm, bevor die Sache irgendwie ruchbar wurde.

Armer Hans!

Sie steht vor dem großen Spiegel und läßt ein Stück ihrer Kleidung nach dem anderen zu Boden fallen, erst die Bluse, dann den Kleiderrock, gleich darauf den ganz dünnen seidenen Jupon. Wenig später fallen dann die Höschen, aber bevor sie das Korsett auszieht, reckt und streckt sie ihre geschmeidige Gestalt und freut sich über ihr schönen Formen und über ihren hübschen Busen.

Armer Hans!

Je verführerischer sie sich selber erscheint, desto mehr Mitleid empfindet sie mit dem armen Jungen, der sie nun nie mehr wiedersehen soll. Bis dann plötzlich der Gedanke sie durchfährt: „Wie verliebt wäre Hans wohl erst in dich gewesen, wenn er dich einmal so hätte sehen können oder dich jetzt so sehen könnte?”

Sie fühlt, wie ihr das Blut in die Wangen schießt, wie es auch den Nacken und die Schultern dunkelrot färbt, nein, so etwas darf sie als wohlerzogenes junges Mädchen nicht denken.

Aber sie denkt es doch, bis sie dann schließlich auch die letzte Hülle fallen läßt, um dann ein langes Nachtgewand überzuziehen.

Mit einem Satz ist sie gleich darauf im Bett und dreht das elektrische Licht aus, aber sie schläft noch lange nicht ein. Ihre Gedanken sind bei Hans, sie stellt sich vor, wie traurig er wohl jetzt in seinem Bett liegt, wie er den Kopf in die Kissen vergräbt, damit niemand es hören kann, wie er um sie weint.

Armer Hans!

Sie wird immer trauriger und trauriger und in Gedanken sagt sie zu ihm: „Sei nicht böse, Hans, sei mir nicht böse, du hast ja schließlich selbst eingesehen, es ging nicht anders und wenn wir uns auch nicht wiedersehen können, ich werde nie aufhören dich zu lieben und die Erinnerung an die Küsse und an die Liebkosungen, die wir miteinander austauschten, wird in mir weiterleben, so lange ich atme und wenn ich einmal sterbe, wird mein letzter Gedanke dir gelten und mit deinem Namen auf den Lippen werde ich in das Jenseits hinüberschlummern. Nun darfst du auch nicht mehr traurig sein, mein Hans, nun weine nicht mehr, denn sonst kann ich nicht einschlafen und ich bin ja so müde. Und nicht wahr, Hans, wenn wir einander auch nie vergessen werden, niemals, nicht wahr, mein Hans, wenn wir morgen früh erwachen, dann wollen wir alles, was zwischen uns war, vergessen haben. Nicht wahr, mein Hans?”

Dann schläft sie ein, aber ganz so schnell, wie sie es sich vorgenommen hat, vergißt sie ihren Hans in der nächsten Zeit doch nicht. Zuweilen ist ihr sogar so, als könne sie die in seiner Gesellschaft und mit ihm zusammen verlebten Stunden wirklich niemals vergessen.

Und doch wird auch sie eines Tages, wenn sie verheiratet ist und wenn ihr Mann sie fragt: „Sag mir die Wahrheit, mein Lieb, hast du wirklich vor mir noch nie einen anderen liebgehabt und hast du wirklich noch nie einen anderen vor mir geküßt?” Dann wird auch sie mit unschuldsvollen Kinderaugen zu ihm aufblicken und zu ihm sprechen: „Wie sollte ich wohl vor dir je einen anderen geliebt oder gar geküßt haben? Ich wußte es ja, daß du kommen würdest, da habe ich auf dich gewartet bis zu dieser Stunde, du mein Ritter und Held.”

Und da er ein Mann ist, glaubt er ihr auch, denn wenn die Frau die geborene Liebe ist, dann ist der Mann der lebendig gewordene Glaube.


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© Karlheinz Everts