Der Schweiger.

Militärhumoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Zu dumm!”


Leutnant von und zu Scholten war für seine Kameraden der Gegenstand beständigen Neides, denn er hatte es nach der Meinung der andern viel zu gut auf der Welt. Er war von ältestem Uradel, er war wohlhabend und hatte früher bei der Garde gestanden. Wenn er jetzt nicht mehr die Gardelitzen trug, so war das für ihn keine Strafe, im Gegenteil eher eine Auszeichnung. Denn als das Linien­infanterie­regiment, dem er jetzt angehörte, vor einigen Jahren als Geburtstagsgeschenk Ihrer H. H. Hoheit der Prinzessin Kunigunde verliehen wurde, da war Leutnant von Scholten in das Regiment versetzt worden, um dieses etwas blaublütig zu machen. Im Laufe der Jahre waren dann noch andere adlige Offiziere hierher gekommen, aber Scholten war doch der erste gewesen, ihn hatte das Vertrauen seines Landesherrn doch in erster Linie ausersehen, durch den Nimbus seiner adligen Persönlichkeit erzieherisch und reformatorisch auf den bürgerlichen Geist des bis dahin ganz bürgerlichen Regiments einzuwirken. So hatten die Kameraden wirklich alle Ursache, Scholten um seiner Ausnahmestellung wegen zu beneiden, aber noch eins kam hinzu, um ihn als den besonderen Liebling der Götter erscheinen zu lassen, das waren die großen Reisen, die er alljährlich unternahm. Er benutzte seinen Urlaub nicht, um sich nach Leutnantsart auf dem heimatlichen Gut bei seiner Mutter an Schinken und Würsten satt zu essen, er unternahm stets eine Reise ins Ausland oder nach irgend einem besonders interessanten Teil des eigenen Vaterlandes. So war er in Bayreuth gewesen, er hatte in Oberammergau die Passionsspiele besucht, er war in Paris und Chicago zur Weltausstellung gewesen, als einer der ersten war er mit der neuerbauten Sibirischen Bahn gefahren, kurz und gut, er kannte die Welt. Und was das schönste an ihm war, was ihn namentlich bei den Damen so unendlich beliebt machte, das war, daß er so wahnsinnig interessant über seine Reiseerlebnisse schwieg. Wieviel Schönes und Großes hatte er nicht gesehen, und daß er trotzdem nie etwas davon erzählte, daß, er sich darüber ausschwieg, darin lag eben seine große geistige Bedeutung. Denn er schwieg nicht etwa wie ein Dummkopf, der nichts zu sagen weiß, sondern mit der Miene eines Diplomaten und mit der überlegenen Ruhe eines Mannes, der da ganz genau weiß, daß jedes gesprochene Wort, und wäre es das klügste, nur den tiefen Eindruck seines geistig bedeutenden Schweigens zerstören kann. Eines Tages hatte er eine Dame zu Tisch geführt, die noch unmusikalischer war als der linke Flügelmann seines Regiments, der beständig gegen die große Trommel anmarschierte. Sie war auch einmal in Bayreuth gewesen und hatte sich schon seit Wochen, wie sie sagte, darauf gefreut, sich mit ihm über Parzival unterhalten zu können: Meine Lieblingsoper, wie sie flötend hinzusetzte. Dann hatte sie gefragt: „Nun, Herr von Scholten, wie denken Sie über dieses geniale Werk eines mehr als genialen Menschen.” Da hat er sie nur angesehen, groß,tief und ernst und ganz beglückt hatte sie ihm zugestimmt: „Da bin ich ganz Ihrer Ansicht, Herr von Scholten.” Und dann hatte sie ihm ihr Urteil über Parzival erzählt, das sie aus einer Kritik auswendig gelernt hatte. Moltke war ein großer Schweiger gewesen, Scholten aber war noch mehr, er war ein bedeutender Schweiger. Aber es gab trotz alledem auch Kameraden, die den Mut hatten zu behaupten, Scholten schwiege nur aus Dummheit. Das waren natürlich die bürgerlichen Elemente des Regiments, die da so sprachen, die dem Adel das Ansehen, das er auf Grund uralter Tradition und auf Grund seiner geistigen Überlegenheit genoß, nicht gönnten. Ja, sie gingen noch weiter, sie behaupteten sogar, Scholten hätte seine weiten Reisen gar nicht gemacht, sondern er hätte sich den Urlaub nach dem Ausland nur bewilligen lassen, um interessant zu erscheinen, in Wirklichkeit hätte er doch bei den Fleischtöpfen der Mutter gesessen. Natürlich kamen diese Verdächtigungen auch Scholten zu Ohren, seine Freunde verlangten, daß er sich gegen diese unerhörten Angriffe verteidigen sollte, aber er schwieg auch jetzt mit dem überlegenen Lächeln eines weisen Mannes. Trotzdem, wie es kam, wußte eigentlich niemand, aber plötzlich begann Scholtens Ansehen zu schwinden, man glaubte seinem interessanten Schweigen nicht mehr so recht, und man sagte nicht mehr: Sie sind ja auch da und da gewesen, sondern, Sie sollen ja auch da und da gewesen sein. Man begann über ihn zu lächeln und Scholten sah es ein, sein Ansehen war dahin für alle Zeiten, wenn es ihm nicht bald gelang eine neue Reise zu unternehmen, und wenn er dann nicht irgend einen Beweis dafür erbrächte, daß er wirklich auch im Auslande gewesen sei. Lange schwankte er, wohin er dieses Mal seine Schritte lenken sollte, dann entschied er sich für Holland. Einmal, weil er es noch nicht kannte, dann aber auch, weil seine Bekannten es auch noch nicht kannten, Italien, Frankreich, Norwegen, die Schweiz waren ja alles abgegraste Fremdenreviere, aber Holland war neu, und so fuhr er denn eines Tages mit dem nötigen Urlaub und dem nötigen Kleingeld in der Tasche von dannen. Nach acht Wochen kam er wieder und dieses Mal ließ er sich herbei, ausführlich zu erzählen: Amsterdam — Rotterdam — Haag — Scheveningen — riesig interessant. Fabelhaft flaches Land und die Königin immer noch ohne Erben(1) und famose alte Kirchen mit ganz alten Bildern von ganz alten Malern, die vor altem Alter schon lange tot sind. Aber auch diese ausführliche Schilderung erweckte einige Zweifel, ob er wirklich dort gewesen sei, denn trotz aller Bitten hatte er von unterwegs nicht eine einzige Karte geschrieben. Was er da erzählte, wußte man ja schließlich auch so.

„Haben Sie sich irgend etwas mitgebracht aus Holland?” fragte ihn einer seiner Kameraden.

„Selbstverständlich, tue ich stets, kaufe immer Landesprodukte. Wenn es die Herren interessiert, sie sich einmal anzusehen . . .”

Und am Abend erschienen die Kameraden in seiner Wohnung und ein Ausruf der Überraschung entrang sich ihren Lippen, als sie die Landesprodukte vor sich sahen. Es war die reine Kolonialausstellung: tausend holländische Zigarren und fünfzig Flaschen holländischen Schnaps, der mit Recht so beliebte Advocaat.

„Den können Sie schließlich auh hier gekauft haben,” meinte ein Kamerad.

Zum erstenmal blieb Scholten die Antwort nicht schuldig. „Das schon, aber ich habe es in Holland gelernt, wie man ihn trinken muß, wenn ich das den Herren zeigen darf.”

Es begann ein gewaltiges Trinken, und nach einer Stunde zeigten sich bei allen deutliche Spuren der Trunkenheit: „Wir können nicht mehr,” riefen die meisten.

„Weil Ihr trunken seid? Ihr habt recht, das ist ein gräßlicher Zustand, aber es gibt etwas, das ist göttlich schön und das habe ich in Holland kennen gelernt. Da sagte mir ein alter Oberst: Amsterdam, Rotterdam, Haag, Scheveningen — riesig interessant. Fabelhaft flaches Land und die Königin noch immer ohne Erben und famose alte Kirchen mit ganz alten Bildern von ganz alten Malern, die vor altem Alter schon lange tot sind. Aber wissen Sie, das schönste ist, sich in jenen Zustand hineinzutrinken, den die anderen Nationen gar nicht kennen und für den wir den Ausdruck „leckertrunken” haben. Ehe Sie das nicht kennen gelernt haben, wissen Sie gar nicht, wie schön Holland ist. Und darum, meine Herren, wenn auch Sie einen vollen Begriff von der ganzen Schönheit dieses Landes bekommen wollen, dann müssen Sie weitertrinken. Sie wissen ja, Amsterdam, Rotterdam, Haag, Scheveningen. Flaches Land, immer noch kein Thronerbe, alte Kirchen, alles fabelhaft, aber leckertrunken ist mehr als das, das ist einfach leckertrunken.

So tranken sie denn weiter und weiter und endlich verfielen sie aus dem Zustand der Trunkenheit in den der Leckertrunkenheit und aus diesem verfielen sie in einen ganz tiefen Schlaf. Und als am nächsten Morgen der Dienst begann, da schliefen sie immer noch, es war der reine Dornröschenschlummer, aus dem erst das Erscheinen des Herrn Oberst sie weckte.

Wegen Trunkenheit und Dienstversäumnis erhielt jeder der Herren fünf Tage Stubenarrest, aber für Scholten fiel die Strafe am härtesten aus, es wurde ihm zugeschworen, daß er nie wieder Auslandsurlaub erhalten werde, und das betrübte ihn tief. Denn wenn er auch nie im Ausland gewesen war, sondern diese Reisen stets nur erfunden hatte, um anstatt der üblichen vier Wochen alljährlich acht Wochen Urlaub und länger herauszuschlagen, so hatte er sich während dieser Zeit im strengsten Inkognito stets köstlich in Berlin amüsiert und namentlich mit dem alten holländischen Oberst, der eine bildhübsche junge holländische Büfettdame war, hatte er jetzt acht selige Wochen verlebt.

Aber der Erfolg war trotzdem erreicht. Nach der Leckertrunkenheit, die mit ihrem moralischen und physischen Kater lange vorhielt, zweifelte niemand mehr an seinen weiten Reisen, und er blieb nach wie vor der ineressante Schweiger.


Fußnoten:

(1) Königin Wilhelmina hatte am 7.2.1901 Herzog Heinrich zu Mecklenburg geheiratet. Nach vier Fehlgeburten folgte 1909 schließlich die Geburt ihrer Tochter Juliana. (Wikipedia: Wihelmina(Niederlande)) (Zurück)


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