Der Schuldige.

Militärische Skizze von Freiherrn von Schlicht
in: „Hamburger Fremdenblatt” vom 5.Apr. 1902 und
in: „Die Fahnenkompagnie”.


„Meine Herren,” sagte der Herr Oberst zu seinem um ihn versammelten Officiercorps, „ich habe Sie gebeten, heute Mittag um zwölf Uhr auf dem Casernenhof zu erscheinen, nicht etwa, um Ihnen Ihre so wie so sehr kurze freie Zeit noch mehr zu kürzen, sondern weil ich eine sehr, sehr wichtige Sache mit Ihnen besprechen möchte.”

Der Herr Oberst ist unter seinen Officiere dafür bekannt, daß er sehr viel mehr redet, als im Interesse des Vaterlandes unbedingt nöthig ist, trotzdem werden seine Officiere jetzt hellhörig; aus seinem Antlitz, aus dem Klang seiner Stimme spricht etwas, das den Zuhörern kundgibt: heute wird es Ernst.

Trotzdem der Herr Oberst gebeten hat, bequem zu stehen, stellen sich Alle unwillkürlich in eine stramme Positur, der Kopf wird höher genommen, die Brust herausgereckt, die Rechte gleitet schnell über den Waffenrock, um sich davon zu überzeugen, ob auch alle Knöpfe geschlossen sind, und die Linke faßt den Säbel ganz vorschriftsmäßig an. Es handelte sich um eine sehr, sehr wichtige Sache.

Der Herr Oberstleutnant wirft dem Herrn Oberst einen ganz erstaunten Blick zu. Er ist gewohnt, von dem etwas sehr unselbstständigen Commandeur in allen und jeden Dingen um Rath gefragt zu werden und von der sehr wichtigen Sache, die jetzt zur Besprechung kommen soll, weiß er gar nichts? Sein Blick wird tadelnd, und er gelobt sich, es seinem Commandeur bei passender Gelegenheit demnächst unter die Nase zu reiben, daß er dafür dankt, nur gelegentlich als Rathgeber hinzugezogen zu werden. Entweder immer oder nie. Tertium non datur, sonst mag er sehen, wie er allein fertig wird.

Auch die Herren Bataillons­commandeure werfen dem Herrn Oberst einen Blick zu, der zu sagen scheint: „Wir verstehen Dich nicht. Du pflegst doch sonst, sobald das Geringste sich ereignet hat, was Dich irgendwie irritirt, uns, die Herren Bataillons­commandeure, zu Dir zu bitten und uns Dein Herz auszuschütten. Und nun gibt es plötzlich etwas sehr Wichtiges, was wir noch nicht wissen? Solltest Du anfangen, selbstständig zu werden? Im Interesse Deiner Carrière und im Interesse des Regiments, das dazu verurtheilt ist, sich von Dir führen zu lassen, wäre es sehr wünschenswerth, aber der Glaube fehlt.”

Die Herren Hauptleute begnügen sich damit, sich gegenseitig anzusehen, während die Herren Leutnants sich heimlich anstoßen oder sich gegenseitig in edle Weichtheile kneifen. Nur der Degenfähnrich, der auf besonderen Befehl des Commandeurs allen Officiers­versammlungen beiwohnt, ist von dem Ernst des Augenblicks ergriffen. Er sperrt Mund und Nase auf, es handelt sich um eine sehr wichtige Sache — was wird er zu hören bekommen? Und Stolz und heilige Begeisterung erfüllt seine jugendliche Brust, daß er diesem großen Augenblick beiwohnen darf. Durch doppelten Diensteifer wird er fortan versuchen, sich des heutigen Tages würdig zu erweisen.

Tiefe erwartungsvolle Stille.

Selbst der Herr Oberst schweigt, er hat sich mit beiden Händen auf seinen Säbel gestützt und blickt zur Erde, nein, nicht zur Erde, sondern auf seine Füße, aber(1) noch genauer gesagt, auf seine Stiefel. Schön sind die Dinger nicht, aber sie sind bequem und vor allen Dingen „vorschriftsmäßig”, genau nach den Angaben der Bekleidungsvorschrift.

Und mit einem Mal wird verschiedenen Herren etwas sonderbar zu Muth. Der Herr Oberst ist zwar ein Confusionsrath erster Classe mit Eichenlaub und Schwertern, aber, nebenbei gesagt, auch ein Commißhengst schlimmster Sorte. Er klebt am Buchstaben. Sollten ihm einige Stiefel seiner Officiere aufgefallen sein, die nicht genau nach den Bestimmungen „gebaut” sind? Der Commandeur versteht in solchen Dingen keinen Spaß, da sperrt er erbarmungslos ein. Daß der Leutnant ganz genau nach der Vorschrift gekleidet ist, ist nach seiner Ansicht viel wichtiger, als daß die Herren im Dienst etwas leisten. Was starrt der Oberst nur immer seine Stiefel an? Verschiedene Leutnants werden unruhig — am unruhigsten aber wird der Degenfähnrich. Eben war er noch so groß und stolz, nun wird er ganz klein; denn er hat ein Paar tadellose Lackstiefel an: mit Spitze und ohne Absätze. Umgekehrt wäre es besser und richtiger. Wenn der Commandeur die Dinger sieht, gibt es ein Unglück. Und im Stillen schwört er sich, die Stiefel, obgleich sie noch nicht mal bezahlt sind, dem ersten Bettler zu schenken, der an seine Thüre geht.

Das kann er ruhig geloben, denn da er in der Caserne wohnt und auch später als Leutnant wenigstens die ersten drei Jahre noch in der Caserne wohnen bleibt, so ist er vorläufig vor Bettlern sicher.

Und immer noch betrachtet der Feldoberst seine Stiefel.

Jetzt aber hebt er den Blick, und mit ihm thun es die Anderen, die um ihn herumstehen.

Tiefe, erwartungsvolle Stille, kein Laut ist zu hören auf dem ganzen Kasernenhof. Man hört nur die Schritte des Soldaten, der als Posten vor dem Arresthaus auf und abgeht und aufpaßt, daß keiner der Arrestanten ausbricht. Alle werfen dem Mann einen tadelnden Blick zu, kann er nicht leise gehen oder irgendwo stehen bleiben? Aber der Jüngling kümmert sich nicht darum, er patrouillirt auf und ab, wie das Gesetz es befiehlt.

Und immer noch tiefes,ehrfurchtvolles Schweigen. Wie wichtig muß die Sache sein, daß der Commandeur noch immer über die Form nachdenkt, in der er sie seinen Officieren mittheilen will.

Jetzt sieht der Herr Oberst sich um, und Alle, die um ihn versammelt sind, folgen seinem Beispiel. Gottlob, es ist kein unberufener Lauscher in der Nähe.

Und jetzt ist der große Augenblick gekommen, der Commandeur will sprechen, Alle sehen es ihm an, und er spricht.

„Meine Herren,” sagt er, „bilde ich es mir nur ein oder kommt wirklich ein unangenehmer Essengeruch aus der Mannschaftsküche?”

Seit einer Viertelstunde stehen die Herren nun schon auf dem selben Platz, gebe es etwas zu riechen, so hätten sie es schon lange gerochen. Trotzdem stecken sie bei der Frage des Vorgesetzten Alle die Nase witternd in die Natur.

Der Fähnrich hat immer noch ein schlechtes Gewissen, andererseits freut er sich, daß seine Stiefel aller Voraussicht nach unentdeckt bleiben und in der Freude seines Herzens, dann aber auch, um seinen Diensteifer zu bekunden, sagt er:

„Ich rieche nichts, Herr Oberst.”

„Sie haben überhaupt nichts zu riechen, Fähnrich, merken Sie sich Das ein für alle Mal,” klingt es sehr scharf und bestimmt zurück, und mit einem rothen Kopf antwortet er:

„Zu Befehl, Herr Oberst.”

Die Anderen wittern weiter, sie riechen zwar nichts, aber wenn der Commandeur etwas zu riechen glaubt, dann muß doch wenigstens die Spur eines Geruches vorhanden sein.

„Ich rieche nichts, Herr Oberst,” nimmt endlich der Etatmäßige das Wort.

„Ich auch nicht,” sagen unisono die drei Bataillons­commandeure.

„Ich auch nicht,” sagen die zwölf Hauptleute und die zwanzig Leutnants, aber sie murmeln es nur so vor sich hin.

Der Einzige, der garnichts sagt, ist der Fähnrich, er hat im Sprechen und im Riechen ein Haar gefunden, aber im Stillen ist er stolz, daß sein Riecher doch richtiger war als der des Herrn Oberst.

„Sonderbar,” murmelt der Commandeur, und noch einmal blickt er sich um, gleichsam als wenn er den Geruch auch sehen könnte. Aber er sieht auch nichts.

„Also zur Sache, meine Herren.”

Der Herr Oberst spricht's, und energisch wirft er den Kopf in die Höhe. Mit großen Augen sieht er prüfend und forschend auf die um ihn versammelten Officiere. Noch einmal fährt er sich mit der Rechten durch den Bart, noch einmal wirft er einen Blick auf seine Stiefel — dann versinkt er in tiefes Schweigen.

Den herumstehenden Herren fing es an, etwas schwül zu werden. Ein Gewitter liegt, wie Alle fühlen, in der Luft — daß es sich vorläufig nicht entladen kann, wird wie stets nur dazu beitragen, das Unwetter nachher um so heftiger toben zu lassen. Was kann es nur sein, das den Commandeur so beschäftigt? Hat er vielleicht plötzlich den Abschied bekommen oder hat er freiwillig um seinen Abschied gebeten? Das würde officiell natürlich Alle sehr betrüben, officiös aber wäre es herrlich. Die Hauptsache ist den Untergebenen, daß sie immer einen Oberst nach dem andern los werden, — daß sie aber stets einen neuen nach dem andern wieder bekommen, machen sie sich gar nicht klar.

Es muß sich heute um eine enorm wichtige Sache handeln, nicht um eine solche Bagatelle wie vor acht Tagen, als der Commandeur zwei Stunden und länger über den Haarschnitt der Mannschaften im Allgemeinen, der Unterofficiere im Besonderen, der Herren Officiere im Speciellsten sprach. Mit einem derartigen „Quatsch” werden die Herren heute Gott sei Dank verschont bleiben.

Tiefes, erwartungsvolles Schweigen.

Dem Herrn Etatsmäßigen fängt die Sache an, langweilig zu werden, er sieht mit Ostentative(2) nach seiner Uhr, und ohne sich aus seiner Ruhe bringen zu lassen, sagt der Commandeur:

„Warten Sie nur die Zeit ab, Herr Oberstleutnant, Sie werden schon noch rechtzeitig genug zu Ihrem Frühschoppen kommen.”

Alle lachen, nur der Herr Oberstleutnant nicht, der schwört im stillen einen furchtbaren Eid, den Oberst nie wieder aus der Patsche herauszuziehen.

Der Commandeur kann ohne seine Hilfe verabschiedet werden.

Die Augen des Herrn Oberst aber weiten sich mit einem Mal auf eine Furcht und Schrecken erregende Art und Weise, und mit stierem Blick starrt er auf einen Punkt in der Natur.

Und dieser Punkt ist der Fähnrich.

„Der Degenfähnrich — treten Sie vor!”

Der Herr Oberst spricht's, und zitternd kommt der Fähnrich seinem Befehl nach. Es gibt nichts, was an ihm nicht zittert, sogar die Spitzen seiner Stiefel wippen auf und ab. In seinem tiefinnersten Innern stöhnt er laut auf: Also doch. Seine Stiefel sind erkannt.

Aber der Commandeur sieht ihm sonderbarer Weise nicht auf die Füße, sondern in das Gesicht, und mit dem Commandeur sehen alle Anderen den Fähnrich an. Plötzlich ist es Allen klar, der ist der Sünder — der hat etwas Großes, Schweres begangen, das ihn unwürdig macht, Officier zu werden. Wer hätte dem liebenswürdigen, jungen Menschen so etwas zugetraut? Aber da sieht man einmal wieder, wie wenig man heut zu Tage Jemandem trauen kann.

„Meine Herren,” nimmt jetzt der Herr Oberst das Wort, „ich will offen eingestehen, daß mir vorhin im Augenblick entfallen war, was ich mit Ihnen zu besprechen mir vorgenommen hatte. Ich habe an so Vieles zu denken, daß es mir momentan nicht in der Erinnerung war, was mich veranlaßt hatte, Sie hierher zu bitten. Bei dem Anblick des Fähnrichs aber fiel es mir plötzlich wieder ein. Meine Herren, ich bitte Sie, sehen Sie sich einmal den Haarschnitt des Fähnrichs an, Das ist überhaupt kein Haarschnitt, und deshalb bestrafe ich den Fähnrich mit Urlaubs­entziehung für den nächsten Sonntag. Haben Sie mich verstanden, Fähnrich?”

„Zu Befehl, Herr Oberst.”

„Na, das freut mich. Also über den Haarschnitt wollte ich mit Ihnen sprechen.”

Entsetzen ergreift Alle — sollen Sie die endlos lange Rede noch einmal anhören? Sie haben am(3) vorigen Mal mehr als genug, und wie auf Commando werfen Alle dem Oberstleutnant einen flehenden Blick zu. Den lassen die Blicke kalt, wohl aber gedenkt er sehnsüchtig seines Frühschoppens, so tritt er denn einen Schritt vor und sagt:

„Gestatten der Herr Oberst, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß dieses Thema erst vor wenigen Tagen eingehend von dem Herrn Oberst besprochen worden ist? Der Herr Oberst scheinen sich dessen im Augenblick nicht zu entsinnen.”

Der Commandeur beißt sich ärgerlich auf die Lippen, der Oberstleutnant hat Recht, es ist ihm, zerfahren wie er ist, gar nicht mehr in der Erinnerung, daß er schon mit seinen Officieren darüber sprach. Nie und nimmermehr aber darf er das zugeben und so sagt er eben: „Sie irren sich, Herr Oberstleutnant, ich weiß sehr genau, daß ich erst vor einigen Tagen dasselbe Thema behandelt habe. Aber der Haarschnitt des Fähnrichs ist ja der beste Beweis, daß ich nicht richtig verstanden worden bin oder daß meine Befehle absichtlich nicht genau befolgt werden; beidem will und muß ich für die Zukunft vorbeugen.”

Und abermals beginnt er seine Ansichten über den Haarschnitt auseinander zu setzen. Nach einer guten Stunde spricht er das erlösende Wort: „Ich danke Ihnen, meine Herren.”

Der Herr Oberst geht mit seinem Adjutanten fort, und kaum ist er verschwunden, da fallen Alle über den armen Fähnrich her, daß an dem kein gutes Haar mehr bleibt: Der Fähnrich ist an dem ganzen Unglück Schuld, er hat die endlos lange Rede heraufbeschworen, er ist Schuld, daß Alle zu spät zum Frühstück kommen und daß der Oberstleutnant bei dem Frühschoppen Niemand mehr vorfinden wird.

Der Fähnrich sieht sein Unrecht ein, mit Thränen in den Augen verspricht er, sich zu bessern und nie wieder durch seine Haare Anlaß zu irgend welcher Bemerkung zu geben.

Und der Fähnrich hielt sein Wort. Als er am Nachmittag zu Tisch in das Casino kommt, hat er sich mit der Einmillimeter–Maschine die Haare herunterschneiden lassen — er hat eine Glatze.


Fußnoten:

(1) In der Buchfassung heißt es hier: „oder”. (zurück)

(2) In der Buchfassung heißt es hier: „Ostentation”. (zurück)

(3) In der Buchfassung heißt es hier: „vom”. (zurück)


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