Auf dem Scheibenstand.

Von Freiherr von Schlicht,
in: „Im Barackenlager und anderes”


Die Zeit vergeht, mit ihr entflieht die Jugend, manchmal auch die Tugend, oft aber kommt mit der schwindenden Zeit auch die Weisheit und die Erkenntnis dessen über uns, die uns früher fehlte.

Die Zeit vergeht, die Herren der Reserve haben sich bei dem Regiment und vor allen Dingen vor der Front eingelebt. Theoretisch und praktisch verstehen sie das Waffen­handwerk und wenn sie zuweilen trotzdem noch eine Dummheit machen, dann trösten sie sich damit, daß sogar schon kommandierende Generäle ihren Abschied erhalten haben und das ganz gewiß nicht deshalb, weil sie zu klug und zu begabt waren.

Es ist ein wahres Glück, daß beim Militär einer immer noch dümmer ist, als der andere, denn woher kämen sonst die ganz dummen Untergebenen, die Musketiere?

Aber es ist auch ein wahres Glück, daß beim Militär einer immer noch klüger ist, als der andere, denn woher kämen sonst bei(1) ganz klugen Vorgesetzten, die Exzellenzen?

Die Untergebenen haben zu gehorchen, die Vorgesetzten haben zu befehlen und die haben für heute nachmittag Offiziers­schießen angesetzt. Damit die Sache den Herren noch mehr Spaß macht, ist sogar ein Preis­schießen arrangiert. Diese Preise sind teils aus der Schießkasse gestiftet, teils von der Herren selbst geschenkt worden und jeder hat natürlich von Anfang an die feste Absicht, den Preis, den er der Allgemeinheit stiftete, selbst zu gewinnen.

Es wird bataillonsweise geschossen und kaum sind die Herren Bataillons­kommandeure zur Stelle, da beginnt auf den einzelnen Ständen das Schießen.

Den ersten Schuß hat der Herr Major. Der ist wirklich ein guter Schütze und so macht er nicht nur einen guten, sondern sogar den besten Schuß, den es überhaupt auf der Windscheibe(2) gibt. Die Anzeiger markieren "25".

Allgemeine ehrliche Bewunderung darüber, aber am verwundertsten ist eigentlich der Herr Major selbst. Er hatte bei dem Abdrücken vorhin die Empfindung, als ob er anstatt „gestrichen Korn” ein klein wenig „Feinkorn” genommen hätte.

Er taxierte den Schuß auf 22, höchstens auf 23. Daß es nun doch 25 wurden, hat er selbst nicht erwartet. Aber das sagt er natürlich nicht, im Gegenteil, er tut sogar, als verstände er die bewundernden Worte und Blicke der Anderen garnicht. Seine Augen und sein ganzes Verhalten sagen ganz deutlich: „Aber, meine Herren, was wollen Sie denn eigentlich? Daß ich 25 schieße, ist doch selbstverständlich.” Und über die aktiven Herren hinweg gleitet sein Blick zu den Herren der Reserve und in diesem Blick steht geschrieben: „So schieße ich, der Herr Major, wie aber werdet Ihr schießen?”

Es dauert gar nicht so lange, da ist der Leutnant der Reserve Martens an der Reihe. Jeder der Herren gibt sieben Schuß ab, drei aufgelegt, vier freihändig, und so tritt der denn jetzt an den Zielpfahl heran und hebt das Gewehr.

Er zielt sehr genau, er läßt den unteren Rand des Spiegels aufsitzen, nimmt gleich Druckpunkt und will dann, der Vorschrift gemäß, den Zeigefinger der rechten Hand immer weiter und weiter krümmen.

Aber der Zeigefinger krümmt sich nicht.

„Nanu,” denkt er, „seit wann ist mir denn die Gicht derartig in die Knochen gefahren, daß ich meine Glieder nicht mehr bewegen kann, und gleichsam zur Probe steckt(3) er den Finger wieder nach vorn und krümmt ihn dann von neuem. Bis zum Druckpunkt, aber weiter geht es auch dieses Mal nicht.

„Das soll ein anderer verstehen,” sagt er sich, dann setzt er das Gewehr ab und wendet sich dann den anderen Herrn(4) zu, während er ratlos von einem zum anderen blickt. Aber die haben vorläufig für ihn viel weniger Interesse als für ihre eigene Person, so rufen ihm denn alle zu: „Mündung nach vorne, denn wenn das scharf geladene Gewehr sich durch eine ungeschickte Bewegung des Schützen entladet, kann ein großes Unglück entstehen. Drei Leben endet ein Schlag und morgen ist nicht einmal Feiertag(5).”

„Nehmen Sie das Gewehr nach vorn,” ruft der Herr Major ihm zu, „legen Sie den Sicherungsflügel von links nach rechts herum, damit der Schuß nicht losgehen kann, dann erzählen Sie, was Sie haben.”

„Zu Befehl, Herr Major.”

Der Herr Leutnant schickt sich an, die Ermahnungen des Herrn Major zu befolgen, aber als er das Gewehr sichern will, wird ihm plötzlich schwach auf der Brust. Mit starren Augen blickt er auf das Gewehr und mit einem Mal versteht er, worin die Gicht in seinem Zeigefinger bestand: Das Gewehr ist schon gesichert.

Mit einem gesicherten Gewehr aber kann kein Gott schießen, so dreht er denn schnell die Sicherung nach links, nimmt von neuem das Gewehr an die Backe — da hallt auch schon der Schuß, er hat aus Versehen zu früh losgedrückt und das Geschoß fliegt durch das Weltall.

Einen Augenblick lähmt ihn jähes Entsetzen, dann aber ruft er unwillkürlich ganz laut: „Halt, halt.”

„Halt ist gut,” necken ihn die Kameraden, „aber wissen Sie, was noch besser ist: Laufen Sie hinter dem Geschoß her und wenn Sie Glück haben, kriegen Sie es in Afrika zu fassen.”

Alle lachen, nur der Schütze nicht, bis der Herr Major ihn tröstet: „Der Schuß muß natürlich gelten, aber wenn Sie wollen, können Sie gleich einen zweiten abgeben, der wird dann sicher umso besser werden.”

„Sicher, Herr Major,” stimmt der Schütze ihm bei und dann ladet er das Gewehr und legt es auf den Zielpfahl. Er schließt das linke Auge und richtet die Visierlinie haarscharf auf den unteren Rand des Spiegels. Das muß ein 25 werden und wenn es nicht noch mehr wird, dann liegt das nur daran, daß es auf der Scheibe keinen höheren Ring gibt. Langsam krümmt er den Zeigefinger immer weiter, aber im letzten Augenblick „muckt” er, sein Körper zuckt zusammen, die rechte Schulter stößt gegen den Gewehrkolben. Da gibt es nur eine Rettung: Zeigefinger lang und absetzen.

„Zeigefinger lang,” ruft er sich selber zu, um noch zu retten, was zu retten ist, aber in der Aufregung streckt er den Finger nicht nach vorne, sondern nach hinten. Der Schuß knallt und abermals fliegt das Geschoß davon.

Die Kameraden haben natürlich sein Mucken gesehen und necken ihn nun von neuem: „Na, Martens, was ist es denn nun geworden? Spiegel doch wohl wenigstens?”

Der ist der festen Überzeugung, daß er auch diesmal nur die Luft kaput geschossen hat und er traut seinen Augen nicht, als die Arbeiter nun die Scheibe hereinziehen. Da muß das Geschoß also doch in den Kugelfang eingeschlagen haben.

Das gibt ihm neuen Lebensmut und so antwortet er denn: „Na, 25 werden es wohl gerade nicht sein, ich denke so 20 oder 22, ich war bei dem Abdrücken ein ganz klein wenig unruhig.”

Die Anderen wollen sich halbtot lachen: „Das nennen Sie ein ganz klein wenig? Wenn die Kerls nicht im letzten Augenblick den Zielpfahl festgehalten hätten, dann hätten Sie den umgeschmissen und Sie selbst lägen jetzt der Länge nach auf dem Bauch. Na, wir sind nur neugierig, was die Kerls anzeigen werden.”

Aber die zeigen vorläufig noch garnichts an, die suchen und suchen, aber können anscheinend nichts finden, denn die Scheibe bleibt immer noch eingezogen.

„Hat nicht einer von Euch Karten bei sich?” fragt ein Kamerad, „denn bis die da unten was gefunden haben, können wir wenigstens zwölf Runden Skat spielen.”

Da wird die Scheibe plötzlich wieder herausgezogen und gleichzeitig erscheint der lange „Amen”(6), eine Stange, mit der die Arbeiter anzeigen, wo der Schuß sitzt, und dieser sitzt ganz weit außerhalb der Ringe, ganz oben rechts in der Ecke, gerade da, wo das Holzgestell und die daraufgeklebte Leinwand zu Ende sind.

„Der Schuß war garnicht so schlecht, wie er aussah,” meint ein Kamerad, „wenn Sie das nächste Mal einen Meter tiefer und anderthalb Meter mehr nach links halten, wird es schon was werden.”

Der Herr Major aber sagt: „Es ist wohl besser, daß Sie sich erst etwas beruhigen, bevor Sie weiterschießen. Vielleicht trinken Sie ein Glas Zielwasser.”

Auf einen Wink des Vorgesetzten schenkt ein Soldat aus einer bei jedem Schießen bereitstehenden Blechkanne ein großes Glas voll Wasser und kredenzt das dem Schützen. Dem ist von allen Getränken einzig und allein das Wasser verhaßt, er ist der festen Überzeugung, daß es ihm gesundheitlich nicht bekommt, und so sagt er denn jetzt: „Es wird nachher auch ohne dem gehen, Herr Major.”

Aber der bleibt bei seiner Ansicht: „Trinken Sie nur, es ist besser, glauben Sie mir.”

„Warum soll ich dir glauben, wo du mir doch auch nicht glaubst,” denkt der Herr Leutnant, „ich bin zwar nur Zahnarzt in meinem Zivilberuf, habe natürlich aber trotzdem auch die allgemeine Medizin studiert. Da kenne ich meinen Körper in- und auswendig, ich weiß, daß das Wasser nur schädlich ist, schon deshalb, weil es mir nicht schmeckt, warum soll ich dir da also glauben?”

Und als Antwort auf diese stumme Frage, die der Vorgesetzten zwar nicht hört, aber aus den Zügen des Untergebenen errät, sagt der nun mit fester Stimme: „Ich wünsche, Herr Leutnant, daß Sie den Becher Wasser trinken, Sie werden nachher selbst sehen, wie gut er Ihnen getan hat.”

Diesen Worten gegenüber hilft kein Sträuben. Und um bei der Qual, die ihm bevorsteht, nicht umzufallen, setzt er sich auf die Patronenkiste und erwartet in dieser Stellung das Glas Zielwasser, wie Sokrates den Schierlingsbecher. „Aber Sokrates hatte es gut,” denkt der Herr Leutnant, „denn als der den Becher leer hatte, war er wenigstens gleich tot, ich aber muß mit diesem Gedöff im Magen noch weiterleben.”

Mit dem Becher in der Hand tritt der Sodat näher. Der Herr Leutnant fühlt den Blick des Vorgesetzten auf sich gerichtet, er muß trinken, ob er will oder nicht.

Und er trinkt, es ist wirklich keine Einbildung, er kriegt kein Wasser herunter, dieses am allerwenigsten, denn es ist abgestanden und lauwarm.

So setzt er denn nach wenigen Zügen ab.

Der Soldat sieht, wie gräßlich dem Herrn Leutnant das fade Zielwasser schmeckt. Das amüsiert und belustigt ihn, und er möchte sich im stillen gerne noch weiter über das entsetzte Gesicht des Vorgesetzten amüsieren und so sagt er denn, als er den Becher zurückerhält: „Er ist aber noch mehr als halbvoll, Herr Leutnant.”

Und aus angeborener Niedertracht sagt er das so laut, daß der Herr Major es hören muß.

So kommt nun das Unvermeidliche. Der Vorgesetzte sagt: „Trinken Sie den Becher nur ruhig leer, je mehr, desto besser, Sie werden es mir nachher schon danken.”

„Für den Dank kannst du ruhig im voraus danken,” denkt der Herr Leutnant, dann macht er die Augen ganz fest zu und den Mund ganz weit offen (umgekehrt wäre es ihm wesentlich lieber) und gießt den Rest des Getränkes in sich hinein. Er hat es garnicht für möglich gehalten, daß es derartige Restbestände überhaupt geben könne, die hat er im schlimmsten Falle bei Wertheim an Ausnahmetagen vermutet, und nun muß er ein derartiges Warenlager sogar in seinen eigenen Magen aufnehmen.

Endlich ist der Becher leer und als der Soldat ihn umkippt (natürlich so, daß der Herr Major es nicht nur sehen kann, sondern sogar sehen muß), da läuft auch nicht ein einziger Tropfen mehr zur Erde.

„Bravo,” lobt der Herr Major, „das haben Sie gut gemacht, Herr Leutnant, aber Sie werden nachher selbst einsehen, es war nur zu Ihrem Besten.”

„Meinst du,” denkt der Herr Leutnant, „ich weiß nicht, ich glaube, es war zu meinem Schlechtesten, denn mir ist schon jetzt ganz blümerant in meinem Magen. Derartige Quantitäten Wasser nimmt ja nicht einmal ein Kamel zu sich, wenn es einen vier­wöchent­lichen Wüstenritt hinter sich hat, geschweige denn ein zweibeiniges Geschöpf, das, wie ich, heute zum Frühstück zwei Eisbeine und eine doppelte Portion Sauerkraut gegessen hat. Das muß doch eine Magen­revolution geben.” Und um das Ende alles dessen, was in(7) seinem Inneren beschäftigt, in aller Ruhe abzuwarten, zieht er sich in eine stille Ecke zurück, nachdem er einen Soldaten beauftragt hat, ihn rechtzeitig zu benachrichtigen, wenn er wieder mit dem Schießen an die Reihe kommt.

Vorläufig aber hat das noch gute Zeit. Augenblicklich steht der Herr Eisenbahn­minister am Zielpfahl, aber er prophezeit im voraus, daß es heute nicht viel werden wird. Er hat aus Nervosität in den Händen einen Tatterich. Er hat eine Nachricht erhalten, die ihm in sämtliche Gliedmaßen gefahren ist. In vierzehn Tagen wird Seine Majestät der Kaiser auf einer Reise „seinen” Bahnhof passieren, da muß der Hofzug über dieselbe Weiche fahren, bei der damals das Unglück geschah. Nun fürchtet er, daß es ein neues Unglück gibt, und wenn dem Kaiserlichen Sonderzug etwas zustößt, na, dann gute Nacht.

Er sagt sich selbst, daß diese Befürchtungen völlig grundlos sind, aber er wird sie trotzdem nicht los und während er jetzt zielt, denkt er nur daran, daß an dem betreffenden Tage der Hofzug um 11.17 Uhr auf seinem Bahnhof eintreffen wird, d. h. wenn er eintrifft, wenn ihm nicht unterwegs ein Unglück passiert, wenn die Maschine nicht entgleist und sich nicht in die Erde einbohrt, daß der Sand hoch aufspritzt.

Er sieht das in Gedanken ganz deutlich vor sich und plötzlich sieht er es sogar in Wirklichkeit, er hat auf fünf Schritte Entfernung in den Dreck geschossen.

Bei dem zweiten Schuß gibt er sich mehr Mühe, aber er schießt auch diesesmal vorbei.

Er hat es ja vorausgesagt, daß es heute nicht viel werden würde, aber er ärgert sich doch, daß er sich so blamiert und so sagt er denn mehr zu sich selbst als zu den anderen: „Nanu, ich werd' doch wohl noch das Geschoß bis zur Scheibe runter bringen können.”

„Soll ich Ihnen da ein unfehlbares Mittel nennen?” fragt ein Kamerad.

„Und das wäre?” erkundigt sich der Schütze neugierig.

Der Andere hält mit seiner Weisheit nicht hinter dem Bege: „Lassen Sie einen Extrazug anspannen, legen Sie die Patrone hinein, spannen Sie 'ne Lokomotive vor und fahren Sie immer geradeaus, dann wird sie schon unten ankommen.”

Dieser Witz ärgert den Herrn Minister und um zu zeigen, daß er seine Patrone auch ohne dem bis an die Scheibe bringen kann, nimmt er von neuem das Gewehr an die Backe und diesesmal kommt das Geschoß nicht nur bis zum Ziel, sondern es fliegt sogar in einem weiten Bogen darüber hinaus.

Der Herr Leutnant tritt zurück, denn auch ihm verordnet der Herr Major einen Becher Zielwasser und nun kommt der Herr Rechtsanwalt an die Reihe.

„Na, was werden Sie denn schießen?” fragt der Herr Major.

„'ne 25,” lautet die selbstbewußte Antwort und der Herr Major hat darauf weiter nichts zu erwidern als: „Na-na.” Und dieses Na-na bedeutet: „Lieber Freund, bisher bin ich heute nachmittag der einzige geblieben, der eine 25 geschossen hat. So leicht, wie du dir das zu denken scheinst, ist das denn doch nicht.”

Aber trotzdem es wirklich garnicht so leicht ist, schießt er dennoch 25.

Vorhin sagte der Herr Major na na, jetzt sagt er nanu.

Und der zweite Schuß ist wieder eine 25.

Dieses Mal sagt der Herr Major nicht nanu, sondern wieder na na und das heißt: Ob die Sache auch wirklich mit rechten Dingen zugeht? Wenn ich selbst nur eine 25 geschossen habe, dann ist es doch mehr als sonderbar, daß du sie zweimal triffst.

Und der ditte Schuß ist wieder eine 25.

Dieses Mal sagt der Herr Major wieder nanu, und zu seinem Adjutanten gewandt, fragt er mit halblauter Stimme: „Sagen Sie mal, welcher Gefreite zeigt denn da unten an? Ist es auch ganz sicher, daß der Mann richtig anzeigt und können wir uns auf dessen Ehrlichkeit auch verlassen?”

„Vollständig, Herr Major,” lautet die Antwort.

„Schön, dann bin ich beruhigt,” meint der Vorgesetzte, aber mit seiner Ruhe ist es schnell wieder vorbei, denn um zu beweisen, daß er nicht nur stehend aufgelegt, sondern als leidenschaftlicher Jäger auch stehend freihändig sein Ziel zu treffen weiß, läßt der Herr Rechtsanwalt dem dritten Schuß gleich den vierten folgen und wenn es zwar auch keine 25 wird, so ist es dennoch eine 24.

Und der Herr Major hat stehend freihändig als besten Schuß nur die 22 erreicht.

Der Erfolg, den der Andere erzielt, macht den Vorgesetzten neidisch, das darf er aber natürlich nicht eingestehen und so sagt er denn väterlich wohlwollend: „Sie sind ja der reine Kunstschütze, lieber Berka, aber jetzt würde ich an Ihrer Stelle doch eine kleine Pause machen, denn sonst wird Ihre Hand vielleicht unruhig und es wäre doch jammerschade, wenn Sie sich das bisherige glänzende Resultat nun durch ein paar schlechte Schüsse verderben wollen.”

Im stillen hofft der Major natürlich, daß der Andere nachher wesentlich schlechter schießen wird als bisher.

Der Herr Leutnant fühlt nicht die leiseste Neigung, den Rat des Vorgesetzten zu befolgen, er ist jetzt gerade so schön im Zug, wer weiß, ob seine Hand nachher noch so ruhig ist wie jetzt.

Aber trotzdem muß er natürlich die Worte des Vorgesetzten befolgen — vorausgesetzt, daß er sie gehört hat.

Aber er tut, als hätte er sie nicht gehört. Blitzschnell nimmt er das Gewehr an die Backe, zielt einen Augenblick und drückt dann ab.

„25” sagt er siegesgewiß.

Und es ist eine 25.

„Nun würde ich an Ihrer Stelle aber wirklich aufhören,” ruft der Major, der nur noch kaum seinen Ärger zu verbergen vermag, „sonst verderben Sie sich ja mit aller Gewalt das bisherige Resultat.”

„Glaubst du, ich durchschaue dich nicht,” denkt der Herr Leutnant. Am liebsten würde er sich auch dieses Mal taub stellen, aber der Vorgesetzte hat so laut gesprochen, daß er ihn gehört haben muß. So tritt er denn beiseite, geht auf den Schreiber zu, der die Schießresultate in ein Buch einträgt und überzeugt sich davon, daß er selbst dann der Beste bleiben wird, wenn er sich nachher nur noch zwei mittelmäßige Schüsse leistet.

Und da er das weiß und da er ferner weiß, daß er seines Schusses heute absolut sicher ist, schießt er, als er wieder an die Reihe kommt, lediglich um dem Herrn Major eine Freude zu machen, absichtlich nur eine 17.

Aber damit der Herr Major sich auch nicht zu lange freut, schießt er gleich darauf wieder eine 25.

Am liebsten würde der Vorgesetzte dem Leutnant sausiedegrob, aber das darf er natürlich nicht, er muß ihm vielmehr seine höchste Anerkennung aussprechen. Aber das Lob fällt nur sehr kurz aus und unmittelbar danach fragt er: „Wie steht es, haben noch viele Herren zu schießen oder sind wir bald fertig?”

Man merkt es ihm an, er hat keine Lust mehr, er möchte gerne nach Hause.

Aber er muß doch noch dableiben, verschiedene Herren haben noch zu schießen und als dann endlich alle fertig sind und man Schluß machen will, stellt der Schreiber fest, daß Herr Leutnant der Reserve Martens noch ein paar Schüsse abzugeben hat.

„Ach so, ja richtig, der Herr mit dem Zielwasser,” ruft der Herr Major. Jetzt fällt ihm wieder ein, daß er dem geraten hat, eine längere Pause zu machen. Das Zielwasser wird inzwischen seine Schuldigkeit getan haben.

Und es hat seine Schuldigkeit getan, allerdings in ganz anderer Art, als der Herr Major glaubt. Er(8) hat eine Seekrankheit erzeugt, wie sie sonst nur ein Sturm auf hoher See hervorzurufen vermag, wenn die haushohen Wogen mit dem Schiff Diabolo spielen.

Die Seekrankheit ist schon längst vorüber, und um sich von den ausgestandenen Strapazen zu erholen, hat sich der Herr Leutnant unter dem Schatten kühler Bäume in das weiche Gras gelegt und schläft.

Er schläft so süß und macht im Traum ein so glückliches Gesicht, daß es dem Soldaten, der davongeeilt ist, um ihn zu benachrichtigen, schwer fällt, ihn wecken zu müssen. Aber es muß sein, so ruft er denn: „Herr Leutnant!”

Es dauert lange, bis darauf eine Antwort erfolgt, er muß immer und immer wieder rufen, aber endlich hat ihn der Herr Leutnant doch gehört und sich im Schlaf von der rechten auf die linke Seite werfend, sagt er: „Halt's Maul.”

Der Soldat steht da und weiß nun nicht, was er machen soll. Der Herr Major hat ihm befohlen, dem Herrn Leutnant zu sagen, daß er erwartet wird, und der Herr Leutnant hat ihm befohlen, das Maul zu halten. Er muß beide Befehle ausführen, wenn er sich nicht strafbar machen will, aber zu sprechen, wenn er das Maul halten soll, ist schwierig.

Endlich verfällt er auf den Ausweg, das Maul zu halten und den Herrn Leutnant trotzdem zu wecken.

Er beugt sich über den Schläfer und rüttelt ihn an den Schultern, aber gleich darauf springt er mit einem gewaltigen Satz zur Seite, denn der Herr Leutnant hat das rechte Bein hochgezogen und versetzt der Natur einen derartigen Fußtritt, daß der dem braven Musketier unfehlbar die Magenwände eingedrückt hätte, wenn er nicht beizeiten zur Seite gesprungen wäre.

„Kinnings, dat is ja lebensgefährlich,” denkt der Soldat, „dat hev ick nich nödig, mi hier tau Appelmus pedden tau laten, ick gah tau dem Majur und segg tau dem: De Dübel mag den Herrn Leutnant wecken, aber ick nich.”

Schon wendet er sich zum Gehen, da fällt ihm ein, daß die Befehle dazu da sind, um ausgeführt zu werden. Kommt er unverrichteter Sache zurück, dann kann er unter Umständen nicht nur etwas, sondern sogar sehr viel erleben.

So betrachtet der denn den Schläfer von neuem: „Wenn ick man ne Ahnung hadde, wo ick die wach kriegen kenn,” denkt er und plötzlich glaubt er es zu wissen. Er wird den Herrn Leutnant wieder an den Schultern rütteln, aber dieses Mal nicht von vorne. Er wird sich hinter den Schläfer stellen, da ist er vor jedem Fußtritt sicher.

Dem Entschluß läßt er die Tat folgen, aber gerade, als er im besten Rütteln war, taucht plötzlich unmittelbar vor seiner Nasenspitze eine geballte Faust auf. Blitzschnell dreht er den Kopf zur Seite, die Nase ist gerettet, dfür aber bekommt er einen derartigen Faustschlag auf das Unterkinn, daß er hintenüberfliegt und alle Viere von sich streckt.

„Nu heww ick aber würklich nog,” flucht der Soldat, „minetwegen kann hei slapen, bis hei tod is. Ick gah nu tau Hus und segg, ick hadd ihn nich funden.” Aber gerade als er nach Haus gehen will und noch einen letzten Blick auf den Schläfer wirft, sieht er, daß der wach geworden ist und sich die schmerzende rechte Hand reibt.

„Na, dat is man good, dat mi dei Slag nich alleen weh dohn hedd,” denkt der Soldat, dann meldet er dem Herrn Leutnant, daß er erwartet wird.

Der springt mit einem Satz auf die Beine, reibt sich den Schlaf aus den Augen und während er seinen Anzug in Ordnung bringt, läßt er sich von dem Musketier das Nähere erzählen.

„Und ich hab' geglaubt, 'ne Biene oder sonst irgend ein Tier hätte mich in die Hand gestochen,” meint der Herr Leutnant, dann setzt er hinzu: „Es tut mir leid, daß ich Sie mit der Faust getroffen habe, das war natürlich nicht meine Absicht, sondern ist nur im Schlaf geschehen. Hier, legen Sie dieses Pflaster auf Ihre Wunde, dann wir die bald heilen.”

Freudestrahlend steckt der Soldat gleich darauf ein großes Fünfmarkstück in die Tasche und folgt dann dem Herrn Leutnant, der, so schnell er kann, zu dem Vorgesetzten hineilt.

Es sind mehr als fünfhundert Meter, die der Herr Leutnant zurückzulegen hat, bis er wieder auf dem Stand eintrifft, denn je schlechter ihm vorhin wurde, desto weiter zog er sich in die Büsche zurück, um zu dem leiblichen Schaden nicht auch noch den Spott und die Neckereien der Kameraden erdulden zu müssen.

So kommt er denn fast ganz außer Atem bei dem Vorgesetzten an und meldet sich zur Stelle.

Der mustert ihn mit einem kurzen, prüfenden Blick, dann sagt er: „Sie sehen jetzt viel ruhiger aus als vorhin, das Zielwasser hat seine Schuldigkeit getan. Nun passen Sie auf, Sie werden jetzt sehr gut schießen.”

Aber in Wirklichkeit ist der Herr Leutnant absolut nicht ruhig, er ist viel zu schnell gelaufen, seine Hand zittert, das Blut zirkuliert zu schnell, so geht der erste Schuß in die Wicken.

„Aber,” sagt der Herr Major vorwurfsvoll.

Der Herr Leutnant aber sagt garnichts und schickt den zweiten Schuß in die Welt.

„Vorbei,” markiert der Anzeiger, indem er den langen Arm herausstreckt und mit dem in der Luft herumfährt.

„Aber, Aber,” sagt der Herr Major noch vorwurfsvoller.

Der Herr Leutnant aber sagt garnichts, sondern schickt den dritten Schuß in die Welt.

„Wenn der nicht erst recht vorbei ist, will ich mich köpfen lassen,” denkt der Herr Leutnant.

Die Arbeiter ziehen die Scheibe herein und da geschieht ein Wunder. Sie markieren gleich darauf die 25.

„Nanu,” sagt der Herr Leutnant ganz laut vor sich hin. Alles hat er für möglich gehalten, aber das nicht. Es ist natürlich auch lediglich ein Zufallstreffer. Wie selbst die blindeste Henne ein Korn findet, so hat er den Spiegel erwischt.

„Nanu,” sagt er noch einmal, denn er vermag sich immer noch nicht von seinem Erstaunen zu erholen.

Da tritt der Herr Major auf ihn zu und ihm väterlich wohlwollend die Hand auf die Schulter legend, sagt er: „Na, sehen Sie es jetzt ein, wie gut das Zielwasser gewirkt hat? Es tat mir ja vorhin leid, daß ich unerbittlich bleiben mußte, aber dieser glänzende Schuß hat es ja bewiesen: Es war nur zu Ihrem Besten.”

Der Herr Major ist ganz stolz, daß er nun doch recht behalten hat, das tröstet ihn sogar darüber hinweg, daß er sich selbst nicht den ersten, sondern nur den zweiten Preis erschossen hat.

Aber plötzlich erlebt sein Stolz eine arge Enttäuschung. Die Arbeiter haben ganz schnell die Tafel mit der 25 wieder zurückgezogen und stecken nun den langen Arm wieder heraus, mit dem sie energisch in der Luft herum wedeln.

Das bedeutet: Es ist eben falsch angezeigt worden und das kommt daher, weil von den Papierpflastern, mit denen die Schußlöcher verklebt werden, eins herunterfiel. Die 25, die wir eben markierten, war ein alter Schuß, der letzte ging in die Luft.

Der Herr Major ist ganz geknickt, umso glücklicher ist dagegen der Herr Leutnant, denn der sagt sich: „Gott sei Dank, daß ich nichts getroffen habe, denn nun, da der Vorgesetzte weiß, daß seine Medizin bei mir nichts verschlägt, wird er mich in Zukunft mit ihr verschonen.”

Aber seine Freude ist nicht von langer Dauer, denn sich hoch aufrichtend, sagt der Herr Major plötzlich: „Daß Sie nichts trafen, Herr Leutnant, liegt nicht daran, daß Sie Zielwasser tranken, wie Sie vielleicht selbst annehmen, sonderbar lediglich daran, daß Sie es zu spät und in einem zu geringen Quantum zu sich nahmen.” Und zu seinem Adjutanten gewandt setzte er hinzu: „Bitte, erinnern Sie mich doch daran, daß der Herr Leutnant in den nächsten Wochen bei jedem Offiziers­schießen gleich am Anfang, noch bevor er den ersten Schuß abgibt, zwei große Becher Zielwasser zu trinken bekommt.”

Bald darauf, nachdem die Preise verteilt worden sind, verabschiedet sich der Herr Major und kaum ist er gegangen, da sinkt der Herr Leutnant der Reserve Martens ganz gebrochen auf seiner Patronenkiste wieder zusammen.

Zwei Glas Zielwasser und nach dem einen war ihm schon so schlecht!

Und aus dem Tiefsten seines Inneren heraus beneidet er den alten Sokrates von neuem. Der war, als er den Schierlingsbecher getrunken hatte, wenigstens gleich tot. Er aber muß mit dem Gesöff im Magen nicht nur weiter leben, sondern er muß es sogar noch weiter trinken.

Bis er sich dann schließlich damit tröstet, daß das auch sein Tod sein wird.


Fußnoten:

Das Manuskript dieses Textes konnte anscheinend von dem Setzer nur mit Mühe und mit vielen Mißverständnissen gelesen werden und eine Korrekturlesung wurde wohl nicht durchgeführt.

(1) Hier liegt wohl ein offensichtlicher Fehler des Setzers vor. Richtig ist wohl „die”. (Zurück)

(2) Und hier ist wohl die „Zielscheibe” gemeint. (Zurück)

(3) Muß wohl heißen: „streckt”. (Zurück)

(4) Recte: „Herren”. (Zurück)

(5) Vielleicht gemeint: „Freitag”? (Zurück)

(6) Vielleicht gemeint: der lange „Arm”. (Zurück)

(7) Vielleicht gemeint: „was ihn in seinem Inneren”. (Zurück)

(8) Offensichtlich muß es hier heißen: „Es”. (Zurück)


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