Die rettende Sonne.

Militärische Humoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Zurück — marsch, marsch!”


Plötzlich und unerwartet, überraschend wie der berühmte Blitz aus dem noch berühmteren heiteren Himmel, hatte sich Seine Exzellenz der kommandierende General zur Besichtigung des in der kleinen Stadt allein stehenden Infanterie-Regiments angesagt.

Als der Herr Oberst das Unglückstelegramm gelesen hatte, tat er dreierlei: erstens verwünschte er den Kommandierenden nach einem Land, in dem nicht einmal Pfeffer wächst, zweitens zitierte er das schöne Wort: „Fort mußt du, deine Zeit ist abgelaufen,” und drittens dachte er darüber nach, ob es ihm bei seiner zahlreichen Familie möglich sein würde, fortan mit seiner Pension auszukommen, oder ob er sich nach einer Ziviltätigkeit umsehen müsse.

Darüber, daß der Kommandierende lediglich käme, um ihn abzuschlachten, täuschte er sich nicht einen Augenblick. Er war einer der „dransten” zum General, er hatte nur noch vier Vorderleute — aber der Kommandierende hatte schon, als er im Frühjahr der Kompagnie-Vorstellung beiwohnte, allerlei fatale Äußerungen fallen lassen, deren kurzer Sinn da lautete: Von einem Oberst, der da hofft, General zu werden, hätte ich viel, viel mehr erwartet.

Nun sollte der Herr Oberst dem hohen Herrn das Regiment vorexerzieren.

„Eigentlich könnten wir uns alle die Mühe ersparen,” dachte der Oberst, denn wie die kritik lauten wird, weiß ich schon im voraus, die heißt kurz und bündig: „Es tut mir leid, gewißlich, — aber Avancement? Das is nich.”

Aber Exzellenz hatte die Besichtigung befohlen und folglich mußte sie stattfinden — soweit ist man beim Militär leider noch nicht, daß man nur das tut, was man will, und nicht das, was man soll. Wenn dieses goldene Zeitalter eintritt, dürfte die Armee bereits nicht mehr existieren.

Pünktlich zur befohlenen Zeit stand an dem befohlenen Tage das Regiment auf dem großen Exerzierplatz und wartete der Exzellenzen, die da kommen sollten; ein Unglück kommt nie allein, und eine Exzellenz auch nicht. Im Gefolge des Kommandierenden befand sich der Herr Divisions­kommandeur, und diesen begleitete der Brigade­kommandeur, und im Gefolge der hohen Herren befanden sich die Generalstabs­offiziere und die Adjutanten, die sich stets einbilden, viel klüger zu sein, als ihre Vorgesetzten es wirklich sind.

Die hohen Herren mit ihrer Begleitung kamen mit dem fahrplanmäßigen Schnellzug, der Exzellenz zuliebe und dem Herrn Oberst zuleide bei dem Bahnwärterhäuschen hielt, das etwa zwanzig Minuten vom Exerzierplatz entfernt lag.

Als die Generalität den Zug verließ, meldete sich bei ihr ein Unteroffizier mit sechs Ulanen und vierzehn Pferden zur Stelle. — Die benachbarte Kavallerie-Garnison hatte den ehrenvollen Auftrag gehabt, die sogenannten Besichtigungspferde zu stellen.

Je älter die Herren waren, desto älter waren die Gäule, die für sie ausgesucht und bestimmt waren und Exzellenz, der Kommandierende, schwang sich auf einen Rappen, der sich selbst in lichten Momenten nur ganz dunkel darauf besinnen konnte, jemals geboren zu sein.

Als die Reiter in weiter Ferne sichtbar wurden, ließ der Herr Oberst sein Regiment stillstehen und das Gewehr präsentieren. Die Musik spielte den Präsentiermarsch und aller Augen sahen gespannt dem und den Kommenden entgegen.

„Um Gotteswillen, was macht Exzellenz denn,” flüsterte der Herr Oberst plötzlich seinem Adjutanten zu — „Exzellenz muß sich mehr nach rechts halten, sonst kommt er in den Graben, der von der Ränkecke aus um den ganzen Exerzierplatz herumläuft — mehr rechts, Exzellenz, mehr rechts.”

Am liebsten hätte der Herr Oberst das „mehr rechts” seinem Vorgesetzten mit der ganzen Kraft seiner Lungen zugerufen — das aber verboten die Disziplin und die Subordination, jene beiden Haupttugenden, ohne die ein Heer nicht denkbar ist. Subordination ist das unangenehme Gefühl, das den Untergebenen in der Nähe der Höheren beschleicht, während man unter Disziplin das Bestreben der Untergebenen versteht, stets dümmer zu erscheinen, als es der Vorgesetzte wirklich ist.

„Wenn Exzellenz über den Graben springt, fällt er vom Gaul,” stöhnt der Herr Oberst, „na, und dann kann ich mir gratulieren, dann ist es mit dem Begräbnis erster Klasse vorbei — dann wird es eine Arme-Leute-Beerdigung.”

Und nicht nur der Herr Oberst allein sah fragend- und kummervoll dem Sprung entgegen.

„Wenn Exzellenz springt, springe ich heute durch,” stöhnte der unvorschriftsmäßig dicke Major vom dritten Bataillon, „ich weiß nicht, was ich dem Oberst getan habe, daß er in der letzten Zeit beständig auf mir herumreitet — ich kann ihm nichts mehr recht machen, immer hat er etwas bei mir zu tadeln. Ich glaube, hauptsächlich gefällt ihm mein Exterieur nicht — aber ich kann mich ihm zuliebe doch nicht in einen spindeldürren Jüngling verwandeln. Man wandelt nicht nur nicht ungestraft unter Palmen, sondern auch nicht ungestraft täglich zum Früh- und Abendschoppen, das gibt jene Rundung, über die die Vorgesetzten nicht leicht hinwegsehen. Wenn der Himmel ein Einsehen hat und Exzellenz nicht springen läßt, will ich mich bessern und mir das Biertrinken, wenigstens vorläufig, abgewöhnen.”

Auch die Hauptleute stöhnten — am liebsten hätten sie die Hände gerungen, da sie das aber nicht konnten und nicht durften, krümmten sich ihre Eingeweide vor Grausen. „Wenn Exzellenz springt,” klagten sie, „taugen weder Richtung noch Vordermann etwas — dann ist alles hundsmiserabel und wir bekommen nicht nur einen, sondern wenigstens ein Dutzend hineingewürgt.”

Die Leutnants streichelten zunächst ihre Beine und sprachen ihren „Kniechen” Trost zu: „Schlimm wird es nachher werden und Exzellenz wird euch marschieren lassen, daß euch eure Hühneraugen übergehen. Aber verzaget nicht — kein Leben währet ewiglich, selbst das einer Exzellenz nicht — einmal muß er, wenn nicht aus freiem Antriebe, dann einer höheren Macht gehorchend, Schluß machen, und dann fängt das Leben wieder an, schön zu werden. Daran müßt ihr euch nun schon einmal gewöhnen, daß der Dienst eine unangenehme Unterbrechung der freien Zeit ist.”

Die Unteroffiziere und Mannschaften dachten gar nichts — die fluchten nur, sie konnten das präsentierte Gewehr kaum noch halten, und wenn Exzellenz erst glücklich da war, fing die Sache doch erst an. Die Aussicht war weder schön noch genußreich.

Und Exzellenz war immer noch nicht da — im gegenteil. Einer der Adjutanten mußte ihn auf den Graben aufmerksam gemacht haben, er bog weit aus, aber leider nach der falschen côté-Seite, statt nach rechts ganz nach links.

Die Musik spielte immer noch den Präsentiermarsch — sobald sie zu Ende war, fing sie wieder von vorne an und mißvergnügte musikalische Gemüter dachten: „Eigentlich hat es doch gar keinen Zweck, daß wir den Mücken in der Luft etwas vorspielen.”

Das ganze Regiment hatte nur den einen Wunsch: „Bitte, komm doch, Exzellenz.”

Und Exzellenz schickte sich an zu kommen: er hatte den Graben entdeckt, und da er sich wohl scheute, angesichts des Regiments dem Hindernis auszuweichen, entschloß er sich, mutig darüber hinwegzusetzen. Man sah, wie er seinem alten Rappen die Sporen gab und wie das Tier seinen Galopp beschleunigte.

„Das geht nie und nimmer gut,” stöhnte der Oberst, „was mache ich nur?”

Der Adjutant flüsterte seinem Herrn und Gebieter etwas zu. Gleich darauf sprengte der Herr Oberst vor die Front und mit wahrer Donnerstimme kommandierte er: „Ganzes Regiment — kehrt.”

Und ohne daß vorher „Gewehr über” genommen war, ohne daß die Musik aufhörte, zu blasen, drehte sich das ganze Regiment um seine Längsachse — anstatt nach Osten, sah es plötzlich nach Westen. Auch die berittenen Offiziere wandten ihre Pferde. Selbst der Herr Oberst drehte sich mit seinem Adjutanten um — er war diskret genug, sich nicht im geringsten um das zu kümmern, was hinter seinem Rücken vorging.

Eine Minute verging nach der anderen — endlich, endlich erschien Exzellenz mit seiner Begleitung hoch zu Roß vor dem Regiment.

„Guten Morgen, Leute!”

„Guten Morgen, Exzellenz!”

Der Herr Oberst sprengte an die Seite des hohen Vorgesetzten und da sah er, daß Exzellenz, wie er es richtig vermutet hatte, vom Gerüste gefallen war; zwar war die Uniform gesäubert, aber einige Flecken und Andenken an die Mutter Erde waren doch zurückgeblieben.

„Warum haben Sie denn eigentlich das Regiment Kehrt machen lassen, Herr Oberst?” fragte Exzellenz mit weithin schallender Stimme.

Und ohne sich zu besinnen, schrie der Herr Oberst so laut er konnte: „Die Sonne schien den Leuten zu sehr ins Gesicht!”

„Bravo!” lobte Exzellenz, dann nahm die Vorstellung ihren Anfang, und mit Lob und Anerkennung überschüttet, kehrte der Oberst mittags zu den häuslichen Penaten zurück.

Die Sonne, die an dem Tage überhaupt nicht schien, hatte ihn gerettet.


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