„Die Rekruten kommen.”

Von Freiherr von Schlicht.
in: „Das kleine Journal” vom 3. Okt. 1895,
in: „Lübecker Eisenbahn-Zeitung” vom 17. und 18. Okt 1895 und
in: „Aus der Schule geplaudert”.


Die Manöver sind beendet, die Mannschaften, die ihre zwei Jahre „abgerissen” haben, sind zur Disposition entlassen und in den Kasernen und auf den von hohen Mauern umgebenen Höfen herrscht Ruhe, Friede und Stille. Kein Schimpfwort ist zu vernehmen, keine Kommandorufe erschallen – das einzige Geräusch, das aus den Kasernen ertönt, rührt von dem Zeugausklopfen her, einer ebenso nützlichen wie geistreichen Beschäftigung. Der Kompaniechef, der jeden Morgen seinem Feldwebel den Dienst für den nächsten Tag angeben muß, braucht seinen Geist in der Zeit nach dem Manöver nicht zu sehr anzustrengen, mechanisch sprechen seine Lippen jeden Tag: „Morgen ist Kammerarbeit,” hin und wieder sagt er auch einmal: „Morgen ist Arbeit auf Kammer.” Das klingt etwas anders, ist aber im Grunde genommen dasselbe.

Nach dem Manöver ist jeder Mensch wieder gerne Soldat, die Anstrengungen, die man hinter sich hat, sind bald vergessen und Jeder erfüllt den Befehl: „Freut Euch des Lebens!” Der Musketier thut dies, indem er Abend für Abend mit seiner Bertha oder Clara – manchmal auch mit Beiden zusammen – ein frohes Wiedersehen feiert und sich immer wieder von Neuem thatsächliche Beweise ihrer Liebe geben läßt. Der Herr Unteroffizier verbringt seine Abendstunden fast ebenso wie seine Untergebenen, nur daß er die Liebe etwas heimlicher und diskreter betreibt.

Alles, was dem Offizierstande angehört, vom jüngsten Lieutenant bis zu dem gestrengen Regimentskommandeur, hat nur einen Wunsch – und der heißt Urlaub, und zwar „je länger, je lieber”. Nach Möglichkeit werden alle Bitten erfüllt, wer aber dennoch zu Hause bleiben muß, sucht sich dort so gut wie möglich zu amüsiren, und es gelingt ihm dies immer. Zufrieden aber ist kein Mensch und so freuen sich die Soldaten jeglicher Charge nach dem Manöver nicht der schönen Zeit, die sie genießen, sondern ein neuer Wunsch erfüllt ihre Herzen mit Unruhe und Bangigkeit, und der lautet: „Ach, wenn es doch immer so bliebe!”

Ach ja, wie schön wäre es auf der Welt, wenn man das Glück und die Freuden, die ein gütiger Himmel uns geschenkt, festhalten könnte für immer, wenn der Freude kein Schmerz, dem Sonnenschein kein Regen folgte. Aber über jedem Glücklichen schwebt schon ein neuer Unglücksstern, der das Glück verdunkelt – und bei der Soldateska heißt das drohende Gespenst: „Die Rekruten.”

Die Rekruten kommen, das ist das Wort, das dem Korporal die Abendstunden bei der Geliebten verdirbt, das den Kammerunteroffizier nur von zu engen Röcken und zu kurzen Hosen träumen läßt; das ist das Wort, das den Lieutenant mit wildem Angstgeschrei aus dem Schlaf emporfahren macht, das den Hauptmann bitten läßt, daß er wenigstens diesen Kelch nicht bis zur Hefe zu leeren brauchte. Aber er muß ihn leeren, denn ohne Rekruten gäbe es in einem Jahr kein deutsches Heer mehr und ohne Heer gäbe es nach einem weiteren Jahr wohl kein Deutschland mehr – und deshalb müssen Rekruten kommen trotz des Jammerns und Klagens aller betheiligten Personen.

Wer hat es noch nicht erlebt, daß er von einem ihm höchst gleichgültigen oder gar unsympathischen Menschen eine Postkarte mit den Worten erhielt: „Lieber Freund, ich berühre morgen auf der Durchreise Ihre Stadt und würde mich sehr freuen, einige Tage als Ihr Gast bei Ihnen weilen zu dürfen.” Der Empfänger einer solchen Nachricht flucht die erste Viertelstunde und beschließt dann, dem bevorstehenden Unglück dadurch zu entgehen, daß er entweder seine Hausthür verriegelt, einen geladenen Revolver neben sein Bett legt und für keinen Menschen zu sprechen ist, oder dadurch, daß er selbst auf Reisen geht.

Ach, wenn doch solch ein armer Hauptmann oder Lieutenant bei der Nachricht: die Rekruten kommen, ebenso handeln könnte. Aber es geht nicht: schließt er die Hausthür hinter sich zu, so wird er wegen Ungehorsam bestraft, und macht er sich auf und flieht davon bis an das Meer, das man das rothe nennt, weil es nicht schwarz ist, wie Bendix sagt, dann wird er wegen eigenmächtiger Entfernung belangt. So bleibt ihm denn nichts Anderes übrig, als zu bleiben und zu harren der Dinge, die da kommen.

Am schlimmsten hat es natürlich der Lieutenant, der überhaupt bei dem jetzigen Dienstbetrieb ein geplagtes Thier ist. Es ist unglaublich, daß es immer noch Menschen giebt, die allen Ernstes glauben, ein Lieutenant wäre nur dazu da, um in Uniform „Unter den Linden” spazieren zu gehen und um den jungen Mädchen die Köpfe zu verdrehen. Ich weiß, daß eine Dame, die einen Lieutenant zum Diner eingeladen hatte und eine Absage aus dienstlichen Gründen erhielt, ganz erstaunt fragte: „Aber Herr Lieutenant, haben Sie denn überhaupt etwas zu thun?”

Ob ein Lieutenant was zu thun hat? Von Morgens früh bis Abends spät muß er sich abmühen und selten, fast nie gelingt es ihm, es genau nach dem Willen und den Ansichten seiner Vorgesetzten zu machen. Das ist ja eben der Kummer, daß bei dem Militär nicht zwei Vorgesetzte dieselbe Meinung haben, und der Lieutenant hat acht direkte Vorgesetzte, die Zahl der indirekten ist selbst nicht mit einer Logarithmentafel zu berechnen.

Und wie deutlich zeigen sich diese verschiedenen Ansichten bei dem Rekrutenexerzieren und bei Allem, was damit zusammenhängt.

„Die Hauptsache, meine Herren,” sagt der Oberst bei der Stabsoffizierparole zu seinen Hauptleuten, „ist die richtige Fußstellung des Mannes. Stehen die Füße falsch, so stehen auch die Hüften falsch, sind die Hüften aber schief, so kann naturgemäß der Oberkörper nicht gerade stehen, und auf einem schiefen Oberkörper sitzt auch der Kopf schief. Also, meine Herren, halten Sie auf die Fußstellung bei den Rekruten, im vorigen Jahr ist in dieser Hinsicht Manches vernachlässigt worden, ich möchte nicht, daß ich in diesem Jahr nöthig hätte, dasselbe zu tadeln.”

So spricht der Oberst und Jedermann beeilt sich, seinen Wunsch zu erfüllen. Im Frühstückszimmer, wo die Lieutenants sitzen, wird die Parole für dieses Jahr ausgegeben – und die heißt „richtige Fußstellung”; im vorigen Jahre war es die Haltung der linken Hand – wer die seinen Rekruten richtig beigebracht hatte, war des Lobes und der Anerkennung seitens des Herrn Oberst sicher, mochte der Kerl sonst auch noch so „schweinisch” dastehen.

Das Rekrutenexerzieren beginnt, naturgemäß zuerst mit der Fußstellung. Nach der Vorschrift sollen die Hacken beider Füße zusammengenommen werden und die Fußspitzen so weit auseinander stehen, daß sie nicht ganz einen rechten Winkel bilden.

Ein rechter Winkel hat neunzig Grad, was heißt: „nicht ganz einen rechten Winkel”?

Der Hauptmann hat einen Rekruten-Gefreiten selbst „aufgebaut”. „So, Herr Lieutenant, wünsche ich die Fußstellung, nicht enger, aber auch nicht weiter.”

„Zu Befehl, Herr Hauptmann.”

Mit einem kleinen Stäbchen wird der Zwischenraum zwischen den Fußspitzen ausgemessen, damit der Lieutenant ganz sicher geht, genau nach den Wünschen seines Kompagniechefs zu handeln. Und das Wunder gelingt, er erntet nach acht Tagen das erste Lob, darüber naturgemäß große Freude und am Mittag im Kasino die wohlverdiente Flasche Sekt.

Am nächsten Morgen kommt der Herr Major auf den Kasernenhof, er hat gestern Abend zu lange im Klub gesessen, hat einen mordsmäßigen Jammer und befindet sich daher in der denkbar schlechtesten Laune. Die Hände in die Paletottaschen vergraben, sieht er dem Exerzieren zu, den Lieutenants schlägt das Herz, sie kennen das Mienenspiel ihres Vorgesetzten, sie wissen, daß es gleich einschlägt. Wer wird der Unglückliche sein?

Da setzt der Herr Major sich in Bewegung und geht gerade auf den jungen Lieutenant zu, der noch in der Erinnerung an das gestrige Lob schwelgt.

„Herr Lieutenant, ich sehe Ihrem Exerzieren schon eine ganze Weile zu, aber ich habe noch nicht ein einziges Mal gehört, daß Sie die Fußstellung korrigiert haben. Sehen Sie sich einmal nur diese beiden Leute an, wie die dastehen – die Fußspitzen sollen nicht ganz einen rechten Winkel bilden, die sind viel zu weit auseinander. Nehmen Sie mal die Fußspitzen dichter zusammen, mein Sohn, noch dichter, noch dichter, – sehen Sie, Herr Lieutenant, so steht der Mann richtig, so wünsche ich es im Bataillon zu haben.”

Der Herr Major poltert noch eine Viertelstunde weiter und geht dann zur nächsten Kompagnie, um da dieselbe Rede mit einer etwas schärferen Betonung nochmals zu halten.

Der getadelte Lieutenant ruft seine Unteroffiziere zusammen und theilt ihnen mit, daß auf Befehl des Herrn Majors die Fußstellung fortan eine schmalere sein solle. Dann entläßt er sie und die Unteroffiziere rufen ihrerseits nun wieder die Rekruten, um ihnen die soeben vernommene Neuigkeit zu verkünden und um sie zu mahnen, das bisher in diesem Punkt Gelernte möglichst schnell zu vergessen.

Eine Viertelstunde später erscheint der Herr Hauptmann auf dem Kasernenhof. Er geht die Front herunter und wendet sich endlich an seinen Offizier. „Sagen Sie, bitte, Herr Lieutenant, irre ich mich oder irre ich mich nicht? Mir kommt es so vor, als wenn die Rekruten heute ganz anders auf ihren Beinen daständen wie gestern?”

„Zu Befehl, Herr Hauptmann, der Herr Major war vorhin hier und hat mir befohlen, die Fußstellung so zu ändern, wie ich es gethan habe.”

„Der Teufel soll den Major holen,” brummt der Hauptmann vor sich hin, „was geh'n den Menschen meine Rekruten an” Dann setzt er laut hinzu: „Ich werde darüber noch mit dem Herrn Major Rücksprache nehmen, vorläufig bleibt es so, wie ich es angeordnet hatte.”

„Zu Befehl, Herr Hauptmann.”

Eine Minute später setzt der Lieutenant seinen Unteroffizieren auseinander, daß doch die erste Fußstellung beibehalten werden solle, und die Unteroffiziere ermahnen ihre Leute, das ihnen vor wenigen Minuten Gesagte zu vergessen und sich auf das Alte wieder zu besinnen.

Am Nachmittag erscheint der Hauptmann wieder bei dem Exerzieren, und zwar in sichtlich gereizter Stimmung. Er ruft seinen Lieutenant: „Der Herr Major hat heute Mittag mit uns Hauptleuten gesprochen, er will, daß die Fußstellung so bleibt, wie er es heute Morgen befohlen – mit dem Mann läßt sich ja nicht sprechen – bitte, ordnen Sie das Nöthige an.”

Wieder spricht der Offizier mit seinen Unteroffizieren und diese wiederum mit ihren Rekruten. Und an demselben Mittag trinkt der Lieutenant im Kasino zwei Flaschen Sekt, denn eine genügt nicht, um seine Wuth hinunterzuspülen.

Am nächsten Morgen erscheint der Herr Oberst auf dem Kasernenhof, um sich die Rekruten einmal anzusehen. Im Allgemeinen ist er mit der Haltung und der Stellung der Leute zufrieden, nur die Fußstellung – ja, meine Herren, die Fußstellung. Und in längerer Rede setzt er nochmals seine Ansichten über diesen Punkt auseinander. Endlich entfernt sich der Gestrenge, die Herren Bataillons-Kommandeure halten mit ihren Hauptleuten noch eine längere Unterredung und diese dann wieder mit ihren Lieutenants, die dann ihre Unteroffiziere zusammenrufen, um ihnen zu verkünden, daß die Fußstellung fortan eine andere sein solle, die Fußspitzen sollten mehr auseinander stehen.

Der Herr Major ist wüthend, daß der Oberst seiner Ansicht nicht beistimmt, der Hauptmann flucht, daß ihm immer in den Dienst hineingesprochen wird, der Lieutenant ballt heimlich die Fäuste, der Unteroffizier macht seinem Herzen Luft und flucht und schimpft wie ein Rohrspatz und den Rekruten wird von alledem so dumm, als ging ihnen ein Mühlrad im Schädel herum. Aber was nützt das Alles? Nach dem Willen des Herrn Obersten muß gehandelt werden, bis eines Tages der Herr General erscheint und erklärt, daß nach seiner Meinung die Fußstellung eine total verkehrte sei.

Und wie es mit der Fußstellung ist, so geht es mit der Haltung der Arme und der Hände, des Oberkörpers und des Kopfes. Aus wie viel Theilen der Mensch zusammengesetzt ist, lernt man erst, wenn man einmal Rekruten ausgebildet hat. Und wenn die Menschen ihre Gliedmaßen wenigstens noch gebrauchen könnten: aber jeder neu eingestellte Rekrut geht nicht, sondern „er latscht über den großen Onkel”, seine Knie „drückt er nach der Heimath durch”, sein Oberkörper „fliegt im Winde hin und her”, seine „Flossen” hält er stets vor den Magen, in dem sich nicht einmal „vorschriftsmäßiges Kommisbrod” befindet, die Bedeutung seines Kopfes hat er noch gar nicht erfaßt und „der Mensch ist in der Verfassung, in der er sich befindet, vorläufig überhaupt nicht zu gebrauchen”.

„Lieber will ich einen Elephanten durch ein Nadelöhr jagen, als aus Dir ein brauchbares Mitglied der menschlichen Gesellschaft machen,” stöhnt der Unteroffizier wohl hundert Mal am Tage. Ach, es ist nicht leicht, Menschen zu erziehen, es kommt Alles auf die Methode an, sagt ein altes Wort. Der Unteroffizier wendet sie alle an. Zunächst ist er eitel Güte und Sonnenschein, er spricht mit den Rekruten wie ein liebender Vater mit seinen Kindern, er versucht, sich in ihren Geist und ihr Wesen hineinzudenken, er giebt sich mit ihnen die größte Mühe – die Kerls bleiben so dumm wie sie sind.

Seine Geduld ist erschöpft, zu viel Groll hat sich schon in seinem Herzen angesammelt, er muß sich einmal Luft machen, wenn er nicht ersticken soll. So versammelt er denn seine Kindlein um sich und hält ihnen eine Rede, daß ihnen Hören und Sehen vergeht und daß sie sich zum Mindesten Alle todtschießen müßten, wenn sie nach den Worten des Vorgesetzten handeln wollten.

Der Lieutenant hört von Weitem diese Rede mit an und ruft den Korporal, als dieser geendet, zu sich, um ihn mit ernsten Worten zu ermahnen, die Leute anständig zu behandeln. Der Unteroffizier verspricht Besserung, er wird wieder milde und sanft; da ruft ihn der Offizier wieder eines Tages, um ihm zu sagen, daß in seiner Abtheilung nichts geleistet würde, daß seine Leute bummelten und daß er dieselben schärfer anfassen müsse, „natürlich nur in den Grenzen des Erlaubten”.

Nun fängt er wieder an zu wettern und zu fluchen: er ist wüthend, nicht über seine Untergebenen, sondern über seinen Vorgesetzten, und im Stillen fragt er sich: „Keine Methode ist die richtige, welche soll ich anwenden?”

Wer kennt nicht die berühmte Geschichte, wo ein Hauptmann im Laufe eines Jahres viermal ein und dieselbe Brücke angreift? Einmal kommt er von vorne, das zweite Mal von rechts, das dritte Mal von links, endlich von hinten. Jedesmal aber erhält für seine Leistung vom Bataillonskommandeur eine vernichtende Kritik. Da faßt er sich endlich ein Herz und fragt: „Herr Major, wie soll ich die Brücke denn angreifen? Von vorne, von hinten, von rechts und von links bin ich gekommen und immer war es falsch, wollen der Herr Major mir nicht sagen, wie ich das nächste Mal den Angriff richtig machen soll?”

Da sah ihn der Gefragte an und sprach nur die Worte: „Weiß ich's?” Dann wandte er sein Pferd und ritt davon.

Giebt es eine Geschichte, die charakteristischer wäre für so Manches beim Militär? Und nach ihr wird auch gehandelt, wenn die Rekruten kommen und wenn sie da sind: recht machen ist unmöglich, und daß Jeder dies schon vorher weiß, läßt Aller Herzen erbeben und die Gemüther Aller erschauern bei dem Gedanken: die Rekruten kommen.

Freiherr von Schlicht.


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© Karlheinz Everts