Der ruhige Pensionär.

Humoreske von Freiherrn von Schlicht.
in: „Hamburger Fremdenblatt” vom 5.Dez. 1900 und
in: „Zurück - marsch, marsch!”.


„Lieber Hugo!

Also endlich kommst Du zur Vernunft, na, lange genug hat's gedauert. Hab' es nie begreifen können, warum Du, der Besitzer eines großen Vermögens, Dich so lange von Deinen Vorgesetzten hast chicaniren lassen. Activer Major sein, ist sehr schön, ein ruhiger Pensionär zu sein, ist viel schöner. Man trägt keine unbequeme Kleidung, und man hat keinen Aerger, gar keinen, und Das ist ja die Hauptsache. Dein Besuch ist meiner Frau und mir eine große Freude, und wenn Du Dich mit eigenen Augen davon überzeugt hast, wie ruhig wir leben, dann wirst Du Deine letzten Bedenken fallen lassen und „ins Civil” gehen.”

Diese Zeilen seines alten Freundes, des Oberstleutnants a. D. Schönborn, las der Major von Kaltborn während der langweiligen Eisenbahnfahrt, die ihn dem Pensionopolis, der Stadt zahlloser verabschiedeter Officiere näher brachte, nun wohl zum zwanzigsten Male, und immer wieder sagte er sich: Der Schönborn hat Recht, was soll ich mich noch länger plagen. Das Leben als Soldat wäre das schönste auf der Welt, wenn es keinen Dienst und keine Vorgesetzten gäbe. Leider sind aber diese Factoren, mit denen man rechnen muß, vorhanden, und der stärkste Wille der Untergebenen ist nicht im Stande, sie abzuschaffen. Was soll ich mich noch länger plagen? Ich liebe den Dienst, Das ist wahr; ich werde sehr traurig sein, wenn ich den bunten Rock einst nicht mehr anhabe, Das ist auch wahr, und meine Frau wird mehr als unglücklich sein, wenn ich wirklich gehe, Das ist erst recht wahr. Na, um keinen allzulangen ehelichen Krieg herauf zu beschwören, habe ich mit meiner Frau einen Handelsvertrag geschlossen. Ich habe mir vorläufig acht Tage Urlaub genommen, um mir das Leben eines ruhigen Pensionärs aus allernächster Nähe anzusehen; gefällt es mir nicht, was ich kaum glaube, gebe ich die Abschiedsgedanken vorläufig auf — gefällt es mir aber, wovon ich fest überzeugt bin, dann ziehe auch ich mich in das Privatleben zurück. Man wird alt mit der Zeit.

Aber trotz dieses Stoßseufzers sah der Herr Major noch sehr rüstig aus und war auch kaum fünfundvierzig Jahr, und das dichte schwarze Haupthaar, der dichte Bart, das lebhafte Auge und der frische, lebendige Gesichtsausdruck ließen ihn noch jünger erscheinen.

Er sah nach der Uhr: Nur noch fünf Minuten — Gott sei Dank — soweit ich mich entsinne, fährt man mit dem Orient–Expreßzug schneller als mit dieser Klingelbahn, da es verboten ist, Eilbriefe mitzunehmen, weil diese durch einen reitenden Boten schneller befördert werden.

Endlich, endlich hielt der Zug, aber vergebens sah der Herr Major sich nach seinem alten Freunde um — da, im letzten Augenblick kam er angestürmt und schloß den alten Regimentskameraden in die Arme.

„Na, wie geht es denn, alter Junge? Schön, daß Du hier bist, und dafür, daß Du hier ganz bleibst, werden wir schon sorgen. Sei nicht bös, daß, ich einen Augenblick auf mich warten ließ, aber der Johann, der Lümmel, hatte natürlich den falschen Anzug für mich zurecht gelegt, überhaupt diese Civilburschen, davon könnte ich Dir ein Lied erzählen. Beim Militär muß solch ein Mensch gehorchen, sonst holt ihn der Teufel, aber im Civil? Halt' Dir nie einen Diener, lieber Freund, der Johann ist nun schon der Siebente, der fliegt, und fliegen thut er und zwar heute noch, sonst ärgere ich mich noch todt an dem Menschen”.

Lachend schob der Major seinen Arm in den des Freundes: „Aber alter Knabe, Du kennst doch das schöne Wort: Hugo, Hugo, ärgere Dich nicht und mach nicht solch Gesicht, Das schickt sich nicht.”

„Recht hast Du,” gab der Andere zur Antwort, „nun aber komm, meine Frau wartet bereits mit dem Frühstück.”

Ein nur kurzer Weg führte nach dem hübschen Haus, in dem der Oberstleutnant die erste Etage bewohnte, und wenig später saßen die Herren mit der Dame des Hauses beim Frühstück.

Der Major konnte nicht umhin, die schönen Räume zu loben und gab seiner Bewunderung offen Ausdruck.

„Je mehr es Dir hier gefällt, um so besser,” erwiderte der Oberstleutnant. „Die Wohnung ist nicht nur sehr schön, sondern auch spottbillig, Du würdest es nicht glauben, wenn ich Dir den Preis nenne. Hier in diesem Pensionopolis lebt man nicht nur gut, sondern auch billig, und vor allen Dingen ruhig.”

In demselben Augenblick ertönte in der zweiten Etage ein Clavier — durch die anscheinend nur sehr dünne Zimmerdecke war jeder Ton der „Washington Post” zu hören.

Wie von der Tarantel gestochen, fuhr der Obestleutnant in die Höhe, und seine Wangen färbten sich dunkelblau vor Wuth. Dröhnend schlug er mit der Faust auf den Tisch. „Nun fängt das Satansweib sogar schon Mittags um zwölf Uhr mit ihrer Dudelei an. Der Teufel soll sie holen und die „Washington Post” dazu — wenn das Frauenzimmer nur einmal, nur ein einziges Mal etwas Anderes spielen würde, ich glaube, ich würde niederknien und ihr den Saum ihres Kleides küssen. Aber ich komme garnicht in Versuchung; immer dasselbe Lied, und immer schmeißt sie an derselben Stelle um — paßt auf, gleich ist sie so weit — nun spielt sie schon langsamer, weil sie sich der Note nähert, die sie immer vorbeigreift. Hört Ihr's — da habt Ihr's.”

Und wirklich ertönte in diesem Augenblick ein gräßlicher Mißklang durch die Welt.

„Nun fängt sie wieder von Vorn an,” stöhnte der Oberstleutnant, dem der Angstschweiß auf der Stirn stand, „ich kenne Das, Die läßt nicht locker,” und von Neuem erklang die bekannte Melodie.

„Ich habe ja fünf Jahre Contract und der Teufel da über mir ja auch,” stöhnte der Oberstleutnant, „wir können von einander nicht kommen, wir haben uns Beide zu lieb.”

„Es ist schrecklich,” nahm nun auch die Frau des Hauses das Wort, „und fast noch schlimmer als die Musik ist, daß mein Mann sich stets so maßlos darüber ärgert; ich fürchte, er wird noch eines Tages einen Schlaganfall bekommen.”

„Das Beste wär's,” knurrte der Oberstleutnant ingrimmig, „dann hätte man wenigstens endlich Ruhe. Dies Leben ist schon überhaupt keines mehr — na, Schönborn, alter Junge, wenn Du denn doch nicht mehr issest, dann komm. Wir wollen zum Frühschoppen gehen.”

Muß Das sein?” bat der Major, „offen und ehrlich gestanden, bekommt es mir nie, wenn ich am Vormittag trinke.”

„Du wirst Dich daran gewöhnen,” lautete die Antwort. „Das Trinken ist ja das Wenigste, die Hauptsache ist die liebenswürdige Gesellschaft und das nette Geplauder. Komm!”

Als die Herren nach einer Viertelstunde die Weinstube betraten, war die Tafelrunde fast vollzählig versammelt. Freundlich wurde der Gast willkommen geheißen, und von allen Seiten wurde an ihn die Frage gerichtet: „Wo standen Sie zuletzt, Herr Major?”

„Nirgends! Ich stehe noch,” erwiderte der Herr Major; „ich bin nur in Civil, weil ich mich auf Urlaub befinde.”

Etwas wie Neid drückte sich auf den Gesichtern der anderen Herren aus. Also der Herr Major war noch im Dienst — Das war ein Glück, eine Auszeichnung, die ihm die Anderen kaum gönnten.

Für einen Augenblick herrschte ein fast ehrfurchtsvolles Schweigen, dann nahm die Unterhaltung ihren Fortgang; die neueste Rang- und Anciennetäts­liste lag auf dem Tisch, und die Personalverhältnisse gemeinsamer Bekannten wurden auf das Genaueste besprochen. Auch die Stadt­neuig­keiten wurden eingehend erörtert, und dazwischen durch wurde sehr brav gezecht — eine Flasche billigen deutschen Schaumweins(1) erschien nach der andern, und nach und nach rötheten sich die Köpfe. Mit dem Glockenschlage ein halb zwei Uhr wurde die Sitzung aufgehoben, und Jeder strebte dem heimatlichen Mittagessen entgegen.

„Aber was hattest Du nur?” fragte der Major seinen Freund, als sie gemeinsam durch die menschenleeren Straßen schritten. „Du hast Dich ja kaum an der Unterhaltung betheiligt.”

„Wie soll ich denn da guter Laune bleiben und mich über ganz gleichgültige Sachen unterhalten können,” brauste der Oberstleutnant auf, „wenn ich sehen muß, daß der General sich nun schon zum zweiten Mal in eben so vielen(2) Tagen auf meinen Stuhl setzt und gar keine Anstalten macht, mir denselben wieder einzuräumen. Der Platz am Stammtisch ist fast ebenso heilig wie der Kirchenstuhl — den darf uns kein Anderer fortnehmen. Aber ich denke nicht daran, mir diesen Eingriff in meine Rechte so ohne Weiteres bieten zu lassen, ich werde dem General morgen einen Herrn in die Wohnung schicken, der wird ihm in meinem Namen schon den Standpunct klar machen — am Stammtisch gibt es keine Subventionen(3) und keine Disciplin, da sind sich Alle gleich.”

„Aber Liebster, ich bitte Dich,” sagte der Major, „wie kann man nur als ruhiger Pensionär sich über so Etwas aufregen?”

„Aus Kleinigkeiten setzt sich das angenehme(4) Leben zusammen,” klang es grollend zurück, „aber Du hast Recht, schon der selige Kalisch sagte: „Niemals ärgern, immer nur wundern.”

Aber trotz dieser fast salomonischen Weisheit ärgerte sich der Oberstleutnant doch wieder zu Haus. Er fand einen Brief von dem unter ihm wohnenden Hauptmann vor, in dem sich dieser bitter darüber beklagte, daß der Hund aus der ersten Etage dem Paragraph Sieben des Miethscontractes entgegen doch wieder im Garten, der dem Parterre laut Paragraph Sechs ausschließlich zustände, gewesen wäre und sich dort nicht einwandfrei benommenn hätte. Das Schreiben schloß mit den Worten: „Damit dieser ewige Aerger endlich aufhört, sehe ich keinen anderen Ausweg, als daß Sie sich entschließen, Ihren Hund abzuschaffen — es sollte mir leid thun, wenn ich mich gezwungen sähe, gerichtlich gegen Sie vorzugehen.”

Bei alleinstehenden Ehepaaren vertreten die Hunde die Stelle der fehlenden Kinder, die Liebe und Verehrung für das Viehzeug ist grenzenlos, und so gerieth der Herr Oberstleutnant in eine unglaubliche Aufregung. „Ich soll meinen Hund abschaffen — meinen Hund, meinen Hector, meinen besten Freund — der Mann da unten muß verrückt geworden sein, — er hat Flöhe im Gehirn, etwas Anderes ist garnicht möglich, aber einen Brief schreibe ich ihm, einen Brief, den soll er nicht hinter den Spiegel stecken.”

Trotz des guten Essns und der schönen Weine kam bei Tisch keine Stimmug auf — so viel Aerger konnte so schnell nicht überwunden werden.

Der Nachmittag brachte einen Spaziergang und den Abendschoppen. Um 6 Uhr versammelte sich der zweite Stammtisch, dem der Oberstleutnant angehörte, in einem Bierlocal und erörterte die Politik; um 8 Uhr ging man zum Abendessen auseinander. Es war über China gesprochen worden und die Köpfe und die Gemüther hatten sich erhitzt.

Der Oberstleutnant befand sich in einer Stimmung, in der er am liebsten die ganze Gesellschaft vor die Pistole gefordert hätte. „Die Menschen haben Ansichten,” schalt er auf dem Heimweg, „Ansichten, als wenn sie nicht mit zwei, sondern mit vier Beinen auf die Welt gekommen sind. Und so Etwas sperrt der Staat wegen gemeingefährlicher Dummheit nicht einmal ein, so Etwas läuft nun frei in der Welt herum und bildet sich noch obendrein auf die traurige und für sie beschämende Thatsache geboren zu sein Etwas ein. Kein Wort ist so wahr wie der Ausspruch: „O Gott, wie unendlich groß ist Dein Thiergarten.”

„Aber warum gehst Du denn zu dem Stammtisch hin, wenn es Dir dort nicht gefällt?” fragte der Major.

Der Oberstleutnant sah ihn groß an, dann sagte er: „Man muß doch Etwas zu thun haben. Als ruhiger Pensionär kann man doch nicht nur spazieren gehen, man kann doch nicht nur Romane und andere thörichte Bücher lesen. Nein, ohne Stammtisch geht es nicht.”

Der Abend brachte noch einmal eine Stunde lang die „Washington Post”, dann saß man im gemüthlichen Geplauder beisammen, bis der Major gegen zehn Uhr bat, sich zurückziehen zu dürfen: „Ich bitte um Verzeihung, aber ich habe es vorausgesagt, das Trinken am Vormittag bekommt mir nicht, ich habe wahnsinnige Kopfschmerzen.”

„Morgen wird es Dir schon besser bekommen,” tröstete ihn der Freund, „schlaf' Dich nur ordentlich aus; um zehn Uhr wird Kaffee getrunken.”

„Stehst Du denn so spät auf?” fragte der Major.

„Glaubst Du etwa nicht?” lautete die Gegenfrage, und nach einer kleinen Pause fuhr der Oberstleutnant fort: „Lieber Freund, ich bin fünfundzwanzig Jahr Soldat gewesen. Während dieser ganzen Zeit habe ich auf Befehl meiner Vorgesetzten stets zu einer menschenunwürdig frühen Zeit, oft des Morgens um drei und vier Uhr, aufstehen müssen — was ich da an Schlaf zu wenig bekam, hole ich jetzt nach. Das halte ich für meine Pflicht — nun aber schlaf' wohl. Gute Nacht!”

Die Nacht brach herein, und in den langen Stunden, die der Major, von Kopfschmerzen gefoltert, wachend zubrachte, faßte er einen Entschluß, den er am nächsten Tag ausführte, ohne sich durch den Widerspruch des Freundes zurückhalten zu lassen. Er fuhr in die Garnison zurück und gab die Abschiedsgedanken vorläufig auf — der ruhige Pensionär lebte ihm zu unruhig.


Fußnoten:

(1) In der Fassung von „Zurück — marsch, marsch!” heißt es hier: „Flasche billigen Schaumweins”. (zurück)

(2) In der Fassung von „Zurück — marsch, marsch!” heißt es hier: „eben so viel Tagen”. (zurück)

(3) In der Fassung von „Zurück — marsch, marsch!” heißt es hier: „Subordination”. (zurück)

(4) In der Fassung von „Zurück — marsch, marsch!” heißt es hier: „das ganze Leben”. (zurück)


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