Paradepferde.

Militärische Humoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Wittener Zeitung” vom 16.5.1897,
in: „Kölner General-Anzeiger” vom 16.5.1897,
in: „General-Anzeiger für Bonn und Umgegend” vom 30.5.1897,
in: „Aus der Schule geplaudert”


Vor einigen Jahren wurde im Reichstag beschlossen, daß die Offiziere nur soviel Rationen beziehen sollten, wie sie Pferde besäßen, es müßte demnach von Rechts wegen der Hauptmann nur ein Pferd besitzen, der Major deren zwei, der Kommandeur drei. Wieiviel Rationen der Generalität zustehen, ist mir nicht bekannt.

Leider aber begnügen sich die Vorgesetzten nicht mit den „etatsmäßigen” Pferden — ein außeretatsmäßiges Pferd hat jeder, die meisten deren zwei.

Der eine außeretatsmäßige Gaul ist das Steckenpferd, der zweite das Paradepferd.

Das Paradepferd unterscheidet sich vom Steckenpferd wie ein Zylinder vom Schlapphut.

Die Zahl der Steckenpferde ist Legion, die der Paradepferde ist beschränkt. —

Die Bataillonsvorstellung steht vor der Tür — eine jede Vorstellung ist unangenehm, schon zwei Menschen miteinander bekannt zu machen, ist für manche scheußlich, wenigstens für mich, der ich mit tödlicher Sicherheit einen der beiden Namen im Augenblick vergesse. Und wie es mir geht, so geht es sicherlich vielen — in der letzten Sekunde läßt uns das Gedächnis im Stich. Im gewöhnlichen Leben macht man in solchem Falle sein liebenswürdigstes Gesicht und sagt: „Ach, bitte, nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich kann mich im Augenblick wirklich nicht besinnen —” und damit ist die Angelegenheit erledigt.

Wie aber, wenn man sein Bataillon den hohen Vorgesetzten „vorstellt”, und wenn da plötzlich das Gedächtnis aussetzt, daß man die einfachsten Kommandos nicht mehr weiß, und sich „für eine Million” nicht darauf besinnen kann, wie man seine Truppen zum Gefecht entwickelt? Da kann man nicht sagen: „Ach bitte, nehmen Exzellenz es mir nicht übel, aber es fällt mir halt nimmer ein.”

Das weiß der Herr Major, daß er nicht so sprechen darf, und deshalb hat er fleißig im „Bataillönchen” exerziert. Siebenmal arf er nur geschlossen exerzieren, so will es das Reglement, woraus man ersieht, daß die Zahl sieben nicht nur im Buch der Bücher, sondern auch im Buch des Soldaten eine große Rolle spielt. Siebenmal darf der Herr Major nur exerzieren — folglich tut er es natürlich auch, denkt ein jeder, der nicht Soldat war; die anderen sagen, sieben ist eine dehnbare Zahl. Im Parolebuch steht natürlich nur siebenmal: morgen früh steht das Bataillon zu der und der Zeit an dem und dem Ort, die anderen Male trifft er sich mit seinen vier Wenzeln (so nennt man die Hauptleute eines Bataillons) „zufällig” auf dem großen Exerzierplatz.

Na, was dieses „zufällig” heißt, weiß man ja.

Mittags auf dem Kasernenhof ruft der Herr Major seine Hauptleute zu sich heran. Er spricht mit ihnen über tausend Dinge und sagt dann schließlich, als handele es sich um etwas ganz Nebensächliches: „Ach, meine Herren, ich möchte sehr gern, daß die Kompagnien morgen auf dem großen Platz exerzierten — ich komme dann auch hinausgeritten und möchte dann das Bataillon gern einen Augenblick zusammennehmen — selbstverständlich will ich nicht exerzieren, sondern nur ein paar Bewegungen machen.”

Der Herr Major schweigt, und merkwürdigerweise schweigen die vier Wenzel, die sonst gegen alles, was der Herr Major sagt, „ankolken”, auch.

„Es ist Ihnen doch recht, meine Herren?” fragt der Major, „oder hatten Sie morgen etwas Besonderes vor?”

Und nun löst sich der Bann, der bisher die vier Hauptmannsgemüter umfangen hielt:

Die erste Kompagnie wollte morgen schießen, sie ist in diesem Dienstzweig so weit zurück, daß sie sowieso nicht weiß, wie sie fertig werden soll — sie muß morgen „unbedingt” schießen.

Die zweite Kompagnie hatte mit aller Bestimmtheit darauf gerechnet, den morgigen Tag endlich zu ihrer Verfügung zu haben, um die Anzüge instandsetzen zu können.

Die Königliche Dritte beabsichtigte morgen einmal wieder gründlich en détail zu exerzieren, uund die Vierte hatte sich vorgenommen, morgen einmal wieder turnen zu lassen, „denn geturnt, Herr Major, habe ich seit Wochen mit der Kompagnie nicht.”

Endlich schweigen die Herren Hauptleute, sie haben alles gesagt, was sie auf dem Herzen hatten, und das war nicht wenig.

Auch der Major schweigt, aber nur für eine Sekunde, dann erhebt er stolz das Haupt: „Meine Herren, es bleibt dabei, wie ich sagte. Ich wünsche die Kompagnien morgen früh auf dem großen Platz zu sehen.”

Und er sieht sie da, er kann ganz sicher sein, denn was die Vorgesetzten „wünschen”, ist Befehl und muß ausgeführt werden.

So treffen sich die Kompagnien am nächsten Vormittag „zufällig”, und es dauert nur wenige Minuten, da sprengt der Adjutant durch das Gelände: „Die Kompagnien sollen zur Tiefkolonne zusammenrücken.”

„Jetzt schon?” brummen die Kapitäne, „ich denke, der Alte will nur ein paar Bewegungen machen?”

Aber der Adjutant hört nichts, er hört prinzipiell nichts, sondern er jagt schon zu einer anderen Kompagnie, um dieser die frohe Botschaft zu überbringen.

Kurz darauf übernimmt der Herr Major selbst das Kommando. Mit dem Schulexerzieren hält er sich nicht lange auf, die Sache ist ja so einfach, aber die Entwicklung des Bataillons zum Gefecht ist schon schwieriger, und darau verwendet er auch mehr Zeit und Sorgfalt.

Ganz besonders übt er die Entwicklung des Bataillons nach den Flanken, in Front und Kehrt. Die Sache ist sehr schwierig, aber er ist nun einmal darauf versessen, das ist nun einmal sein Paradepferd, das will er bei der Vorstellung vorführen, na, und wenn das geht, „dann, mein Herr Major,” hört er im Geiste schon Se. Exzellenz sagenn, „dann, Herr Major, habe ich für die Leistungen Ihres Bataillons nur ein Wort: vollkommen.”

Und so oft er im Geiste dieses Wort hört, macht er unwillkürlich eine Verbeugung.

Endlich ist der Tag der Bataillonsvorstellung da — der Herr Major ist ganz ruhig, sein Paradepferd geht vorzüglich.

Seine Exzellenz der kommandierende Herr General ist schon am Abend vorher mit einem Offizier des Generalstabes in der Garnison angekommen und hat wenig später mit den Stabsoffizieren des Regiments noch ein Glas Bier zusammen getrunken. Zu aller Freude war Exzellenz sehr liebenswürdig und hatte gesprächsweise allerlei Andeutungen gemacht, worauf er bei der Besichtigung besonders Gewicht legen würde.

So ruhg hatten die Stabsoffiziere noch nie vor einer Vorstellung geschlafen wie an diesem Abend.

Und die Gnadensonne Sr. Exzellenz lächelte auch am nächsten Morgen, als er im Galopp an den rechten Flügel des in Breitkolonne stehenden Bataillons heransprengte.

„Darf ich Sie bitten, mir Ihr Bataillon vorzuführen?”

„Zu Befehl, Eure Exzellenz.”

Die Sache „klappte”, es war eine wahre Freude, es mitanzusehen, und besonders die Entwicklung des Bataillons nach der Flanke war unübertrefflich.

Gnädig ritt Se. Exzellenz an den Herrn Major heran: „Sagen Sie mal, Herr von Dingsda, was Sie mir da soeben gezeigt haben, war wohl Ihr Paradepferd?”

„Zu Befehl, Eure Exzellenz.”

Aber Herr Major, wie konntest du dich so verplappern! Selbst dein Gaul merkt die kolossale Dummheit, die du soeben gesagt hast, und schüttelt unwillig mit dem Kopf.

Se. Exzellenz macht ein Gesicht, ein Gesicht — und der Herr Major merkt es mit Grausen, die Gnadensonne ist untergegangen.

Der Herr General ruft seinen Generalstabsoffizier herbei und läßt durch diesen das Bataillon „aufbauen”, daß der Major schließlich nicht mehr weiß, wie die Kompagnien stehen. Se. Exzellenz wendet sich wieder zum Herrn Major, und sein [sic! D.Hrsgb.] Mund umspielt ein Lächeln.

„Herr Major. dürfte ich Sie bitten, nun Ihr Bataillon nach der Flanke zu entwickeln?”

„Zu Befehl, Eure Exzellenz.”

Das ist aber auch alles, was der Herr Major sagt. Sprachlos blickt er auf das Heer vor sich: da findet nur der Teufel oder ein Klügerer als er hindurch.

„Herr Major,” spricht Se. Exzellenz und lächelt dabei wieder ganz eigentümlich, „es ist hier weder Zeit noch Ort, Ihnen Reitunterricht zu geben, aber einen guten Rat möchte ich Ihnen denn doch erteilen. Man muß sich nur auf solche Pferde setzen, die man auch wirklich reiten kann, mit dem Draufsitzen allein ist es nicht getan, und nichts macht einen traurigeren Eindruck, als wenn man zu Ehren einer Besichtigung ein Paradepferd besteigt und von demselben vor der Front herunterfällt.”

Se. Exzellenz lächelt, und der Generalstabsoffizier lächelt mit, und dieses Lächeln pflanzt sich fort und findet einen Widerschein auf den Gesichern aller, die die Worte Seiner Exzellenz hörten.

Nur einer lächelt nicht — wie eine geknickte Lilie sitzt der Herr Major auf seinem Streitroß, das traurig die Ohren gesenkt hat; es weiß, sehr oft wird es nun nicht mehr zur Parade geritten werden, und es war so stolz auf den neuen englischen Sattel, unter dem es beinahe wie ein Paradepferd aussah. Sein Herr sitzt im Wurstkessel, und das treue Roß sieht sich im Geiste in der Wurst, und wohlbekannte Klänge: „Heiße, Heiße” tönen an sein Ohr. —

So hat der Sturz von einem Paradepferd gar manches Mal üble Folgen.

„Zwar weiß ich viel, doch möcht' ich alles wissen,” singt der Dichter, der, wenn er Soldat gewesen wäre, sicherlich gesagt hätte: „Zwar weiß ich viel, doch muß ich alles wissen.”

Man braucht stets mehr Geld, als man hat, und man soll stets mehr Weisheit vorzeigen, als man besitzt — das sind zwei alte Tatsachen, deren Wahrheit niemand besser bezeugen kann als der junge Offizier, dessen sehnlichster Wunsch es ist, daß jeder der 364 Tage ein „Erster” wäre.

Und sein Wissen ist auch nur Stückwerk: so hat er stets eine gewaltige Angst vor der Vorinstruktion. Zwar sind die Themata, die in den einzelnen Dienstperioden durchgenommen werden sollen, ganz genau vorgeschrieben, aber, aber —

Die Vorinstruktion beginnt.

„Was haben Sie mit Ihren Leuten in der letzten Zeit durchgenommen?”

„Die und die Themata, Herr Oberst.”

„Welches wird der Oberst nun bestimmen?” denkt der Leutnant im stillen, und der Oberst denkt: „Nun, die Themata, die in der letzten Zeit durchgesprochen sind, werden die Leute wohl kennen, da will ich lieber ein anderes wählen,” und die Folge ist natürlich, daß der Herr Leutnant mächtig „hineinsegelt”.

So kommt es, daß selbst ganz junge Offiziere sich zwei bis drei Paradepferde anschaffen, mit denen wissen sie umzugehen — kommt dann etwas anderes dran, als sie sich gedacht haben, dann „Gute Nacht”.

Ich kannte einen Leutnant, der nur ein einziges Paradepferd ritt. Von einem Freund hatte er eine brillante Ausarbeitung des schwersten aller Instruktions­themata — des Waffengebrauchs — erhalten und sich dieselbe geistig zu eigen gemacht.

„Nun, meine Herren, wer von Ihnen will über Waffengebrauch instruieren?” fragte der neue Herr Oberst bei der Besichtigung.

Allgemeines Entsetzen, und jeder stellte sich so harmlos in die Welt schauend wie nur möglich dar.

Endlich, nach langem Zögern, anscheinend nur mit Widerstreben, trat der liebe Freund vor.

Und der Erfolg?

„Sehen Sie, meine Herren, so muß instruiert werden, das nenne ich ein Eingehen und Eindringen in das Thema. Die Leute wissen hervorragend Bescheid, und Ihnen, Herr Leutnant, spreche ich meine vollste Anerkennung aus und stelle Sie, trotz Ihrer Jugend, den anderen als leuchtendes Vorbild hin.”

Als das leuchtende Vorbild später ins Kasino kam, wurde er von seinen Kameraden mächtig „verdroschen”, aber das schadete ihm nichts, er ließ sich die Keile auch ganz ruhig gefallen, denn er hatte ein Wort seines Obersten gehört, das dieser zu seinem Adjutanten sagte, und das da lautete: „Erinnern Sie mich noch morgen daran, eine sehr hervorragende Instruktionskraft, muß zur Unteroffizierschule eingegeben werden.”

Im Geiste sah er sich schon in Potsdam, und wirklich wurde er nach einem Vierteljahr dorthin als Lehrer kommandiert.

Pferde sind zwar keine wilden Tiere, aber sie sind oft unberechenbar, selbst ein alter Droschkengaul geht manchmal in einer Anwandlung von temporärer Geistesstörung Galopp, und unberechenbar sind auch die Paradepferde.


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