Otto der Faule.

Militärhumoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Der Lügenmajor” und
in: „Der Gefechtsesel”


Leutnant Otto, von seinen Kameraden „Otto der Faule” genannt, lag in seiner Jung­gesellen­wohnung der Länge nach auf der Chaiselongue und strampelte mit den Händen und mit den Beinen, und er hatte auch wirklich alle Ursache dazu: an Stelle eines Kameraden, der ihm im letzten Augenblick den Gefallen getan hatte, sich bei dem Exerzieren den Fuß zu verstauchen, war er auf vier Wochen zur Gewehrfabrik in die Residenz zum „Schmergeln” kommandiert. Er hatte wirklich mehr Glück als Verstand, morgen sollte die Reise losgehen, an demselben Tag, an dem im Regiment eine große Feld­dienst­übung stattfand, vor der er sich schon lange gegrault hatte. Und nun war er nicht nur diese eine Übung los, sondern für die nächsten Wochen auch alle anderen Übungen, denn einen um den andern Tag ging es sicher ins Gelände, um bald auf diese, bald auf jene Art und Weise den markierten Feind zum Rückzug zu bringen. Was ging ihn das nun an, was kpümmerte es ihn, ob Frontalangriff, Flankenangriff, Umgehung, Umfassung oder Hinterhalt das einzig Richtige war? Was ging es ihn an, er war für die nächsten Wochen frei, und in der Freude seines Herzens strampelte er abermals mit allen vieren.

Allerdings, seine Nachteile hatte das Kommando auch. Zuerst gab es wenig Dinge auf der Welt, für die er eine so ausgesprochene Interesselosigkeit besaß, wie für Gewehrläufe, und dabei sollte er sich nun vier Wochen eingehend mit ihnen beschäftigen, die zahllosen Fehler kennen lernen, die an einem Flintenlauf vorkommen können, ergründen, welchen Einfluß sie auf die Treffsicherheit ausüben, und theoretisch und praktisch sollte er lernen, wie man diese Fehler beseitigt. Leutnant Otto, der seinen Beinamen „der Faule” mit Fug und Recht führte, hatte seit seinem Abgang aus dem Kadettenkorps nie den Ehrgeiz besessen, seine Kenntnisse zu erweitern, und vor der Wissenschaft, die ihm nun winkte, empfand er einen wahren Horror. Aber schließlich konnte man ja im Hörsaal schlafen, und er dachte mit Stolz daran zurück, daß er auf der Kriegsschule sogar die Kunst besessen hatte, ganz fest mit offenen Augen zu schlafen. Sehr groß war auch die Unannehmlichkeit, die dieses Kommando in der Zukunft zur Folge hatte. Egoistisch und auf den eigenen Vorteil bedacht, schickten der Miltärfiskus und das Regiment ihn nicht seiner schönen Augen wegen auf das Kommando, sondern sie wollten in Zukunft Nutzen davon haben, und so winkte dem faulen Otto unmittelbar nach seiner Rückkehr, spätestend zum Herbst, die Ernennung zum Mitglied der Waffenkommission. Das war sehr fatal, denn diese Kommission hat sehr viel zu tun, sie muß von Zeit zu Zeit die ganzen Gewehre des Bataillons nachsehen, die erforderlichen Reparaturen mit dem Büchsenmacher besprechen und ihre sorgfältigste Ausführung überwachen und außerdem noch zahllose Bücher führen. Das war schon mehr als Beschäftigung, das war schon Arbeit, und für einen Augenblick knickte der faule Otto bei dem Gedanken an das, was ihm bevorstand, in sich zusammen, aber er erholte sich schnell wieder, als er zufällig mit der linken Hand in die linke Hosentasche fuhr. Da saß Geld, viel Geld. Er hatte telegraphisch seinen alten Herrn angepumpt, er hatte sich telegraphisch an seine Schwester gewandt, die mit einem reichen Mann verheiratet war, und da er einen ausgeprägten Familiensinn besaß, hatte er sich auch an seinen Bruder gewandt, der eine sehr reiche Frau besaß. Er hatte fünf Mark Telegrammgebühren bezahlt und tausend Mark geerntet, das Anlagekapital hatte sich also ganz gut verzinst. Eingedenk des Wortes: wo Geld ist, kommt immer mehr dazu, hatte er bei seinem Versuch, den Zahlmeister zu erschlagen, einen geradezu glänzenden Erfolg gehabt, ja, der Offizier­unterstützungs­fonds hatte ihm eine monatliche Zulage von fünfundsiebzig Mark bewilligt, das Regiment gab ihm aus der Kommandokasse eine tägliche Zulage von drei Mark, und schließlich bezahlte der Staat ihm noch sieben Mark fünfzig Pfennige Tagegelder, dazu kam auch noch sein Gehalt. So hatte er alles in allem beinahe zweitausend Mark, das war mehr, als er zu fassen vermochte, und die augenblickliche Freude am Besitz verscheuchte alle Sorgen für die Zukunft.

So fuhr er denn am nächsten Tag mit seinem Burschen fröhlich und guter Dinge nach der Residenz. Von seiner Kadettenzeit her kannte er dieselbe sehr genau, auch später war er oft dort gewesen, so wußte er, wo man sich amüsiert, und er amüsierte sich herrlich, nicht nur am ersten Tag, sondern auch an allen folgenden. Nur eins ließ ihn nie dazu kommen, die Freude ganz auszukosten: daß er jeden Morgen schon um sieben Uhr mit den Kameraden zur Schießschule hinausfahren mußte. Um acht Uhr begann der Unterricht, und dann saß man fünf Stunden im Hörsaal und mußte die trockenste Wissenschaft über sich ergehen lassen. Eine tödliche Langeweile lagerte über dem Hörsaal — — was nützte es, daß man sich in Erinnerung an vergangene Jugendzeiten gegenseitig mit Stahlfedern in die Beine piekte, oder einem Streber, der gewissenhaft alles notierte, das Tintenfaß über sein Heft goß? Das waren doch nur frohe Sekunden im Vergleich zu den tödlich langweiligen Stunden. Und fast noch schlimmer war es, wenn man in der Werkstätte zusehen mußte, wie der Oberbüchsenmacher mit dem heiligsten Ernst einen Lauf nach dem anderen ausbeulte und einmal vor Entsetzen beinahe ohnmächtig wurde, als ein Husar zu ihm sagte: „Warum beulen Sie den Lauf erst aus, wenn das Gewehr hinfällt, ist die Beule ja doch wieder da.”

Mit wahrhaftem Entsetzen bemerkte Otto der Faule, daß er in den langen Jahren, die seitdem vergangen, die Kunst, mit offenen Augen zu schlafen, verlernt hatte. Bei dem ersten Versuch fielen ihm die Augen fest zu, und als er endlich erwachte, saß er ganz allein im Hörsaal, alle anderen waren schon zum Frühstück gegangen. Mit Riesenschritten eilte er ihnen nach, hin nach dem Kasino, das mitten in dem großen Garten gelegen war, denn die Frühstückspause war das einzige, was ihm an dem ganzen Kommando gefiel. Er stürzte die Treppen hinunter und eilte über den Hof. Aber er hatte nicht nur den Beinamen „der Faule”, sondern auch den „der Pfadfinder”, denn es gab kaum einen Offizier in der ganzen Armee, der einen so geringen Ortssinn hatte, wie er. Nie erkannt er eine Gegend wieder, schon deshalb nicht, weil er immer in der Kolonne dahindöste und nicht auf die Gegend achtete. So stand er plötzlich still, als der Weg sich nun dreimal teilte. Was nun? Wohin ging es nun: zur Rechten, zur Linken, oder geradeaus? Er sah sich suchend um, nirgends war das Kasino zu entdecken, mit dem Überlegen durfte er nicht viel Zeit verlieren, so wandte er sich auf gut Glück nach links. Er beeilte seine Schritte und sah sich plötzlich in den Anlagen einem sehr hübschen jungen Mädchen gegenüber, das damit beschäftigt war, sich einen kleinen Strauß zu pflücken. Sie hatte sein Kommen nicht gehört und fuhr jetzt erschrocken zusammen. „Pardon, gnädiges Fräulein,” bat er, „ich hoffe, Sie nicht zu sehr erschreckt zu haben, aber Sie sehen in mir einen müden Wanderer, der anscheinend von dem richtigen Wege abgekommen ist und nun unstät durch die Welt irrt. Ich suche das Offizierskasino — würden Sie die Güte haben, mir zu sagen, wie ich dorthin gelange?”

Er hatte mit seiner ganzen Liebenswürdigkeit gesprochen und sich bemüht, auch durch seine Erscheinung den besten Eindruck zu machen, er hatte sich stolz aufgerichtet, den Schnurrbart in die Höhe gezwirbelt, den Überrock glatt gestrichen und den Ansatz seines Embonpoint eingezogen, soweit es ging. Aber das alles schien nicht den leisesten Eindruck auf sie zu machen, sie tat, als hätte sie seine Worte gar nicht gehört, und wandte sich zum Gehen. Mit einem sehr erstaunten und verblüfften Gesicht sah er sie an. „Pardon, gnädiges Fräulein,” begann er von neuem, „ich weiß nicht — ich verstehe nicht — Sie scheinen zu glauben, daß ich nur einen Vorwand gesucht habe, um mich Ihnen zu nähern, ich bin mir nicht bewußt, Sie irgendwie verletzt zu haben — gestatten Sie, daß ich mich Ihnen vorstelle.”

Aber auch jetzt hörte sie gar nicht auf seine Worte, sie setzte ihren Weg fort.

Mit eiligen Schritten hatte er sie eingeholt und ging an ihrer Seite weiter: „Gnädiges Fräulein, mir muß daran liegen, das Mißverständnis, das anscheinend herrscht, aufzuklären. Ich darf es nicht zugeben, daß Sie mich für keck und aufdringlich halten, das liegt meinem ganzen Wesen fern. Ich würde mir nie erlaubt haben, eine mir fremde junge Dame anzusprechen, wenn ich nicht tatsächlich eine Auskunft erwartet hätte. Wenn Sie mir nicht Bescheid sagen können oder dies aus irgend einem Grunde nicht wollen, so bitte ich Sie, mir wenigstens zu erklären, warum Sie überhaupt keine Silbe sprechen, denn daß Sie stumm sind, kann ich doch nicht annehmen.”

Für einen Augenblick huschte ein leises Lächeln über ihr Gesicht, und plötzlich lief sie schnell davon, als der Ruf erscholl: „Edith — wo bleibst du?”

Edith hieß sie auch noch, das war sein Lieblingsname, und seit vielen Jahren war es bei ihm beschlossene Tatsache, daß seine zukünftige Frau keinen anderen Namen haben durfte.

Verwundert sah er ihr nach, da schlug das Sprechen der Kameraden, die aus dem Kasino zurückkehrten, an sein Ohr. Er ging in eine Seitenallee und versuchte, sich ihnen unbemerkt anzuschließen. Aber dieser Versuch schlug fehl, von allen Seiten wurde er geneckt und mit Fragen bestürmt, wie er geschlafen und wie ihm das Frühstück geschmeckt habe. Zuerst wurde er ärgerlich, dann lachte er gezwungen, und schließlich sagte er: „Kinder, regt euch nur nicht auf, ihr würdet sterben vor Neid, wenn ihr wüßtet, was mir passiert ist; mit dem profanen Frühstück, das ihr eingenommen habt, imponiert ihr mir heute gar nicht. Ich hatte heute wirklich keinen Hunger, deshalb bin ich hier in den Parkanlagen herumgewandert und bin einem jungen Mädchen begegnet, einem jungen Mädchen — — ich sage euch — so etwas gibt es überhaupt in Europa nicht wieder —” Und in den glühendsten Farben schilderte er ihre Schönheit und ihre Anmut.

Neugierig lauschten die Kameraden. „Und hat sie mit dir gesprochen?”

Für eine Sekunde wollte er die Wahrheit gestehen, dann aber genierte er sich, es zu bekennen, wie er abgefallen war. „Natürlich,” sagte er, „meint ihr, daß ich wie ein stummer Stockfisch an einer schönen jungen Dame vorübergehe? Sonst mag ich faul sein, aber in dem Verkehr mit jungen Mädchen ist keiner so lebhaft wie ich. Ich kann euch nur sagen: ich habe mich selten so angeregt und lustig unterhalten, wie heute morgen. Im Fluge ist mir die Zeit vergangen. Ich habe es ja immer gesagt, die schönste Schöpfung der Welt ist und bleibt das Weib.”

Verwundert blickten die Kameraden auf; sie hatten es dem faulen Otto gar nicht zugetraut, daß er überhaupt imstande wäre, sich für irgend etwas auf der Welt so zu begeistern; aber sie trösteten sich damit, daß er sich schon bald wieder beruhigen würde. Zu ihrem Erstaunen sahen sie jedoch, daß er auch am nächsten Tage bei dem Frühstück fehlte; er wanderte wieder in den Parkanlagen herum; er suchte die Holde nicht vergebens, er traf sie wieder bei dem Rosenbeet, und sein Herz schlug höher. Aber kam wurde sie seiner ansichtig, da floh sie abermals davon.

Als er am dritten Tage in den Garten wollte, war dort eine Tafel angebracht: „Das Betreten des Gartens ist nur den dauernd hierherkommandierten Offizieren gestattet, den anderen Offizieren dagegen verboten!”

Der faule Otto taumelte zurück, aber schnell faßte er sich wieder, und mit Blitzesschnelle kam ihm der Gedanke: du läßt dich dauernd hierherkommandieren! Und dieser zuerst nur flüchtige Entschluß befestigte sich immer mehr in ihm, als er erfuhr, daß „Edith” die Tochter des Kommandeurs der Schießschule sei. Der Herr Oberst hatte vor einem Jahr die Anstalt übernommen, er war ein sehr liebenswürdiger und reicher Herr, dessen ganzen Stolz und ganzes Glück sein eiziges Kind bildete, er wollte, daß sie unter allen Umständen, wenn sie später einmal heiratete, wirklich glücklich werden sollte, und dazu gehörte nach seiner Ansicht, daß Edith ihr Herz nicht etwa im Fluge, sondern erst nach langer gegenseitiger Bekanntschaft verlöre. Desgalb hatte er auch seinem Kinde verboten, mit den Offizieren, die nur vorübergehend hierherkommandiert waren, irgendwie in Berührung zu kommen oder sich mit ihnen zu unterhalten.

Nach weiteren acht Tagen war es für ihn beschlossene Tatsache, er mußte sich Ediths wegen dauernd hierherkommandieren lassen, und um dieses zu erreichen, wurde er plötzlich aus dem faulsten der fleißigste Schüler. Er heuchelte plötzlich für alles das größte Interesse, je verbogener ein Flintenlauf war, um so größer war sein Entzücken, und seinem Lehrer erzählte er bei jeder sich bietenden Gelegenheit, daß es für ihn nichts Schöneres auf der Welt gebe, als die Behandlung der Schießwaffen, deren eminente Bedeutung im Kriege über allen Zweifel erhaben sei. Mit den glänzendsten Zeugnissen und verliebt bis über beide Ohren kehrte er in seine Garnison zurück; er hatte Edith täglich, wenn auch nur flüchtig, gesehen, und jedesmal hatte er sich geschworen: die oder keine. Im Juli war sein Kommando beendet, für den ersten Oktober konnte seine Einberufung, wenn er Glück hatte, erfolgen.

Und er hatte Glück. Seine Einberufung erfolgte wirklich, aber er wurde jäh aus seiner Freude darüber herausgerissen, denn dieselbe Nummer des Militär­wochenblattes, die ihm die frohe Botschaft brachte, meldete zugleich in ihrem Annoncenteil, daß Edith, die einzige Tochter des Kommandeurs der Schießschule, sich mit einem Husarenleutnant verlobt habe.

Der faule Otto fluchte wie wild, und nicht ohne Grund; Edith zuliebe hatte er sich drei Jahre abkommandieren lassen, er hatte dieses(1) für ihn grausame Kommando nur in der Hoffnung und in der Gewißheit auf sich genommen, Edith zu erobern. Nun war ihm der Husar zuvorgekommen, und was ihn am meisten ärgerte, war die Tatsache, daß der Kavallerist sich seine Braut errungen hatte, ohne auch nur für die Dauer einer halben Sekunde zur Schießschule kommandiert gewesen zu sein.


Fußnote:

(1) In der Fassung von „Der Gefechtsesel” heißt es hier: „er hatte nun dieses” (Zurück)


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