Weimarisches Sonntagsblatt

„Frau Olgas Freund”

Von Freiherr v. Schlicht †

aus: „Weimarisches Sonntagsblatt”
Unterhaltungsbeilage der Allgemeinen Thüringischen Landeszeitung Deutschland
vom 10., 17. und 24. Okt. 1926

Frau Olga Weidmann, groß, schlank und auffallend hübsch gewachsen, mit großen dunklen Augen unter ganz dichten Brauen, mit einer beinahe klassischen Nase, einem entzückend geformten Mund und verführerischen Lippen, zwischen denen zwei Reihen schneeweißer Zähne sichtbar wurden, wenn sie mit einem leichten liebenswürdigen Lächeln einen ihrer Bekannten begrüßte, der an ihr vorüberging oder der ein paar flüchtige Worte mit ihr wechselte, saß, wie immer ebenso elegant wie geschmackvoll angezogen, in dem Gesellschaftsraum des großen Hotels bei ihrer Tasse Tee und wartete voller Ungeduld auf ihren Mann, der ihr fest versprochen hatte, sich pünktlich zu Beginn des Fünfuhrtees einzufinden. Aber anstatt pünktlich zu sein, ließ er auch heute natürlich auf sich warten und anstatt selbst zu tanzen, mußte sie sich vorläufig damit begnügen, dem Tanz der anderen Paare zuzusehen. War es wirklich nur ein Zufall, daß bisher noch keiner der Herren sie aufgefordert hatte oder lag es an der in ihren Kreisen allgemein bekannten Eifersucht ihres Mannes, daß keiner es wagte, sich ihr vor dem Erscheinen ihres Gatten zu nähern, damit ihm, ihrem Tänzer, und ihr hinterher daraus nicht vielleicht irgend welche Unannehmlichkeiten und Eifersuchtsszenen entstanden? Und wie schon so zahllose Male schauerte sie auch plötzlich jetzt zusammen, als sie nun wieder daran dachte, was wohl geschehen würde, wenn ihr Mann jemals etwas davon erfahren oder wenn auch nur jemals der Verdacht in ihm wachwerden solle, daß sie ihm nicht treu sei und daß der in der ganzen Stadt bekannte Frauenarzt Dr. Langholz, in dessen Behandlung sie sich einmal längere Zeit befunden und den sie auch jetzt noch hin und wieder konsultierte, ihre Liebe, ihre ganze Liebe besäße. Aber nein, beruhigte sie sich gleich darauf wieder, wie bisher, so würde ihr Mann auch in Zukunft nichts davon erfahren und wenn doch, würde es ihr ein leichtes sein, ihm das Lächerliche seines Verdachtes und seiner Vorwürfe klar zu machen, denn der Doktor stand glücklicherweise in dem Ruf, zu jeder seiner zahllosen Patientinnen intime Beziehungen zu unterhalten und daß das nicht wahr sein könne, mußte doch auch ihr Mann ohne weiteres einsehen. Und außerdem hatte der Doktor Langholz, ihr Harald, eine Eigenschaft, die es wohl selbst ihren Mann kaum ernstlich glauben lassen würde, daß sie, ausgerechnet sie, eine der schönsten und elegantesten Frauen der hiesigen Gesellschaft, sich gerade in den verliebt haben könne und solle, denn der Doktor war einer der häßlichsten Männer, die man sich nur vorzustellen vermochte, aber er hatte, was ihr Mann natürlich glücklicherweise nicht ahnte, für die Frauen eine faszinierende Häßlichkeit und in seinen Augen lag eine Macht, der wohl keine Frau auf die Dauer widerstehen konnte, sie selbst hatte es jedenfalls nicht vermocht.

Ihr Mann, den sie erwartete, war vergessen, sie dachte nur noch an ihren Harald, von dem sie gestern für ein paar Tage hatte Abschied nehmen müssen, denn ein Telegramm hatte ihn zu seiner schwerkranken Mutter gerufen und die Sorge um diese, an der er mit grenzenloser Liebe hing, hatte ihn so bedrückt, sein ganzes Denken derartig beschäftigt, daß ihm gestern jeder Sinn für den Austausch irgend welcher Zärtlichkeiten fehlte und daß er ihr zum Abschied lediglich die Hand, nicht einmal den Mund küßte. Und da war mit einemmal die Furcht, die entsetzliche Furcht in ihr wach geworden: Was dann, wenn seine Mutter stirbt? Bis er das überwand und überwunden hatte, konnten Wochen vergehen und was dann, wenn er unter dem Verlust derartig leiden sollte, daß er selbst sie darüber vernachlässigte, daß er sie womöglich bat, vorläufig nicht zu ihm zu kommen, nicht eher wiederzukommen, bis er das Entsetzliche überwunden und bis er wieder in der Stimmung sei, Zärtlichkeiten zu tauschen. Was dann? Aber seine Mutter würde ja auch nicht sterben, das Leid würde der Himmel ihm, aber auch ihr nicht schicken, denn wie sollte sie wohl leben können, ohne ihren Harald zu sehen, denn ihre ohnehin starken Leidenschaften waren von ihm und durch den Verkehr mit ihm in einer Weise geweckt und aufgepeitscht worden, daß sie sich, wenn die Sinne jetzt zuweilen noch viel heißer als früher in ihr zu sprechen begannen, sich selbst kaum wieder erkannte und daß sie zuweilen vor sich selbst Angst und Schrecken empfand.

Frau Olga sann und träumte vor sich hin, und wie sie vorhin voller Ungeduld auf ihren Mann gewartet hatte, um wenigstens mit ihm, obgleich er alles andere als ein guter Tänzer war, einmal tanzen zu können, empfand sie es jetzt beinahe dankbar, daß er wie immer auf sich warten ließ, und daß sie dadurch Zeit und Muße hatte, ihren Gedanken und allem, was sie beschäftigte, nachhängen zu können.

„Wenn ich, obgleich Ihnen vorläufig noch ein ganz Fremder, um die Ehre bitten dürfte, mit Ihnen den Boston zu tanzen, Gnädige Frau?” –

Der Klang einer Stimme, die an ihr Ohr drang, ließ sie plötzlich aufblicken, schon weil sie nicht sofort wußte, ob die Worte, die sie eben vernommen, wirklich ihr galten. Aber das mußte der Fall sein, denn vor ihr stand eine große, schlanke, sehr elegante, tadellos angezogene Erscheinung, die der Tanzanzug, der nach der neuesten Mode und sicher bei einem allererstklassigen Schneider gearbeitet war, ausgezeichnet kleidete. Und daß sie einen Herrn, einen wirklichen Herrn, vor sich habe, sah sie auf den ersten Blick, da der Fremde, fast hätte sie sich im stillen gesagt, einen durch und durch aristokratischen Eindruck machte.

„Graf Sernberg”, oder so ähnlich, ganz verstand Frau Olga seinen Namen nicht, stellte er sich ihr nun mit einer leichten Verbeugung vor.

Frau Olga dankte ihm mit einem leisen Neigen ihres Kopfes, dann erhob sie sich von ihrem Platz, wenngleich ein klein wenig zögernd, denn wenn ihr Mann gerade jetzt kommen und sie mit diesem Fremden tanzen sehen sollte, würde er ihr deswegen hinterher sicher wieder eine Eifersuchtsszene machen. Aber sie hatte keinen plausiblen Vorwand, dem Grafen den Tanz abzuschlagen, und war es bei diesen Fünfuhrtees nicht allgemein Sitte und Brauch geworden, daß jeder Herr jede Dame, mit der er zu tanzen wünschte, einfach aufforderte, meistens noch dazu, ohne sich ihr überhaupt vorzustellen. Er aber, der Graf, hatte das getan und anstatt sich weiter ihren Bedenken hinzugeben, freute sie sich nun lediglich, daß ihr erster Eindruck sie nicht getäuscht habe und daß er wirklich ein geborener Aristokrat sei.

Gleich darauf tanzten sie zusammen und sie mußte sich sehr bald eingestehen, noch nie, aber wirklich auch noch nie, einen so glänzenden Partner gehabt zu haben. Gewiß, auch sie war eine besonders gute Tänzerin, sie hatte sogar schon einmal, vor zwei Jahren, noch dazu, was sie damals besonders erfreute, an dem Tag, an dem sie fünfundzwanzig Jahre wurde, gewissermaßen als Geburtstagsgeschenk in einem Badeort bei einem Tanzturnier als beste Bostontänzerin einen wertvollen Preis bekommen, aber trotzdem hatte sie nun die Empfindung, als sei ihr damaliger Partner ein blutiger Anfänger und ein ganz großer Stümper gewesen.

Frau Olga hätte keine schöne elegante Frau und überhaupt keine Frau sein müssen, wenn es ihrer Eitelkeit nicht hätte schmeicheln sollen, als sie nun bemerkte, daß die anderen Paare nach und nach mit dem Tanz aufhörten, nur um ihnen beiden zuzusehen, und daß die Musik, die den Tanz ganz besonders lang ausdehnte, ihnen zum Schluß einen Tusch spendete, während die Zuschauer sie mit lautem Händeklatschen belohnten.

Beinahe stolz wie eine Königin und doch mit einem leisen glücklichen, aber etwas verlegenen Lächeln, das ihr entzückend stand, schritt Frau Olga [im Zeitungstext hier „Gerda”] an der Seite des Grafen wieder zu ihrem Platz, aber als er sich dort mit einer kurzen höflichen Verbeugung, als habe er, ohne von ihr dazu aufgefordert zu sein, kein Recht, länger in ihrer Gesellschaft zu verweilen, verabschieden wollte, lud sie ihn mit einigen freundlichen Worten ein, bei ihr Platz zu nehmen, schon um ihn ihrem Mann, der jeden Augenblick kommen müsse, vorstellen und ihm von ihrem eben erzielten Triumph berichten zu können.

„Ein Triumph, der aber nur Ihnen allein galt, gnädige Frau,” widersprach er galant.

Ein leises Rot der Freude über das ihr gezollte Lob trat in ihre Wangen: „Sie sind sehr liebenswürdig, Herr Graf, mir den ganzen Erfolg in meine Tanzschuhe schieben zu wollen, aber wenigstens die Hälfte des Beifalls, den wir ernteten, zumal ein solcher hier sonst absolut nicht Sitte und Brauch ist, überlasse ich wahrheitsgemäß Ihnen,” bis sie nun, da sie bemerkte, daß er ihr abermals in ritterlicher Weise widersprechen wollte, schnell hinzusetzte: „Sie sind hier nur vorübergehend in der Stadt, Herr Graf? Wenigstens kann ich mich nicht erinnern, Sie hier schon einmal auf einem der Tanztees gesehen zu haben.”

„Ich bin erst vor einigen Tagen angekommen, gnädige Frau, und hier im Hotel abgestiegen.”

„Und werden Sie längere Zeit bleiben?” erkundigte sich Frau Olga in der stillen Hoffnung, vielleicht bei dem nächsten Nachmittagstee, der erst in einigen Tagen wieder stattfand, nochmals mit ihm tanzen zu können.

„Das hängt ganz von der Erledigung einer geschäftlichen Angelegenheit ab, die mich hierher rief, gnädige Frau,” gab er zur Antwort. Und galant setzte er hinzu: „Als ich hier im Hotel meine Koffer auspackte, hoffte ich, sie sehr bald wieder einpacken zu können. Nun aber, gnädige Frau, seitdem ich die Ehre und die große Freude hatte, Sie kennen zu lernne, möchte ich mir beinahe wünschen, daß es damit noch etwas Zeit hat.”

„Nur ein Glück, daß Sie sich das aber auch nur beinahe wünschen, Herr Graf,” meinte sie lachend, um ihm dadurch nicht zu verraten, daß die Schmeichelei, die er ihr gezollt, sie zwar sehr erfreut, aber doch auch etwas verlegen und unruhig gemacht habe.

Beinahe, sagt man, gnädige Frau, um in den Augen einer so schönen eleganten Frau und einer so vollendeten Dame, wie Sie es sind, Gnädigste, nicht den Anschein zu erwecken, als sei man ein Mensch, der, na, wie soll ich mich ausdrücken, sagen wir mal, als sei man ein Mensch, der, Gott weiß wie sehr von dem Wert seiner eigenen Persönlichkeit durchdrungen ist, der es darauf ablegt, sofort eine Eroberung machen zu wollen, und der es bei der ihm inne wohnenden Arroganz auch für selbstverständlich hält, daß er sofort eine macht. Und da ich es für taktlos und ungezogen gehalten hätte, bei unserer doch erst so kurzen Bekanntschaft, die mit dem heutigen Tage vielleicht auch schon wieder ihr Ende erreicht, die ganze Wahrheit zu sagen, begnügte ich mich vorhin mit dem Ausdruck „beinahe”. Vielleicht war das aus den angeführten Gründen auch schon zuviel, aber nicht wahr, gnädige Frau, den Ausdruck verzeihen Sie mir?”

Ja, den verzieh sie ihm gerne, denn das Wort hatte er nach ihrer Ansicht ruhig sagen können, zumal ihr alles, was er sonst sprach, bewies, daß er im Gegensatz zu vielen anderen Männern, die schon so oft, wenn natürlich auch vergebens, bei ihr versucht hatten, gleich eine Eroberung zu machen, nicht daran dachte, sie sofort für einen Flirt oder etwas ähnliches zu gewinnen. Allerdings war das bei ihm ja auch schon deshalb ganz ausgeschlossen, weil er voraussichtlich nur ein paar Tage in der Stadt bleiben würde und das tat nun ihr beinahe leid, denn es bot sich hier so selten Gelegenheit, eine neue nette Bekanntschaft zu machen, die zu machen sich auch verlohnte. Das aber schien bei ihm der Fall zu sein, denn ein alltäglicher Durchschnittsmensch war er ganz bestimmt nicht. Das bewies ihr die ganze Art seines Sprechens, seine tadellosen Manieren und zuletzt auch seine äußere Erscheinung. Überhaupt konnte sie sich kaum entsinnen, jemals einen Herrn kennen gelernt zu haben, der so vollständig den Eindruck des tadellosen Gentlemans machte.

Vielleicht hätte Frau Olga noch länger diesen und ähnlichen Gedanken nachgehangen und vielleicht hätte sie sich auch noch weiterhin mit ihm im stillen beschäftigt, wenn sie nicht plötzlich gefühlt hätte, wie jetzt seine Augen prüfend und forschend auf ihr ruhten, so daß sie wieder etwas verlegen und unruhig zugleich wurde und ihn fragte: „Aber warum sehen Sie mich denn nur so an?”

„Tat ich das, gnädige Frau?” entschuldigte er sich. „Dann geschah es jedenfalls ohne Absicht, soweit es nicht ganz selbstverständlich ist, daß man eine junge schöne elegante Frau, mit der zusammensitzen zu dürfen, man die Ehre hat – – Aber nein,” unterbrach er sich gleich darauf, „ich möchte Ihnen keine Komplimente machen, zumal ich zu wissen glaube, daß die bei Ihnen, gnädige Frau, auf einen sehr unfruchtbaren und undankbaren Boden fallen.” Und als sie ihm dafür mit einem Blick gedankt hatte, der ihm bewies, daß er sie richtig einschätzte, setzte er hinzu: „Nun fällt mir plötzlich auch ein, gnädige Frau, warum ich Sie so ansah, und ich will es Ihnen auch offen gestehen, selbst auf die Gefahr hin, daß Sie das etwas verrückt oder sonderbar finden.” Und nach einer kleinen Pause fuhr er fort: „Ich betreibe es nämlich als eine Art Sport, oder wie man es sonst nennen will, mir aus dem Gesicht einer schönen, eleganten Frau, die ich zum ersten Mal sehe, das Bild des Mannes, mit dem sie verheiratet ist, zu konstruieren!”

„Aber das kann man doch gar nicht, Herr Graf,” lachte Frau Olga auf.

„Doch, gnädige Frau, man kann es, aber natürlich erfordert es einige Übung,” widersprach er so bestimmt, daß sie überrascht aufblickte. Bis sie nach einer kleinen Pause weiter fragte: „Aber aus meiner Nasenspitze oder aus meiner Nase selbst können Sie sich doch kein Bild meines Mannes machen.”

„Nein, aus Ihrer Nase nicht, gnädige Frau,” stimmte er ihr bei, „wohl aber aus Ihren Augen.”

„Und in denen wollen Sie wirklich das äußere Bild meines Mannes sehen?” fragte sie ungläubig.

„Ich will es nicht nur, gnädige Frau, ich glaube sogar, daß ich es kann,” betonte er bestimmt.

„Da bin ich aber doch neugierig, Herr Graf,” neckte sie ihn.

„Und ich hoffe, Ihre Neugierde befriedigen zu können, gnädige Frau, vorausgesetzt, daß ich es darf.”

„Natürlich dürfen Sie es,” und voller Ungeduld bat sie, „nun aber sagen Sie mir schon, wie Sie in meinen Augen das Bild meines Mannes sehen?”

„Ihr Wunsch ist mir Befehl, gnädige Frau, ich muß nur darum bitten, daß Sie mich dabei ganz scharf ansehen.”

„Womöglich auch noch wie bei dem Photographieren nach dem berühmten Text ,bitte recht freundlich',” lachte sie.

„Im Gegenteil, gnädige Frau,” widersprach er, „ich bitte Sie, den Ausdruck beizubehalten, den Sie für gewöhnlich haben.” Und als sie das nun, so gut sie es im Augenblick vermochte, tat, und ihn scharf ansah, bemerkte sie, wie seine Blicke sich förmlich in die ihrigen hineinbohrten, als wolle er durch die hindurch in sie selbst hineinschauen. Dann fing er an, ganz langsam zu sprechen, während sie ihm dabei an dem Anschwellen seiner Adern auf der hohen klugen Stirn sein geistiges Arbeiten und die Anspannung seines Gehirnes anmerkte: „Ihr Mann ist ein hoher Verwaltungsbeamter — Nein, das nicht, er hat nicht studiert — aber er ist Großkaufmann oder der kaufmännische Direktor eines großen, weitverzweigten Unternehmens — er ist sehr stark beschäftigt — er hat vom Morgen bis zum Abend angestrengt zu arbeiten — er ist wenig zu Hause, sehr viel auf Reisen. Er hat, weil körperlich zu müde, wenig Interesse für Gesellschaften, Theater, Kunst und Wissenschaft — Wenn er des Abends nach Hause kommt, hat er nur den einen Wunsch, zu schlafen — Das auch deshalb, weil er körperlich nicht sehr elastisch ist — Es fehlt ihm an Zeit, irgendwelchen Sport zu treiben — Im Zusammenhang damit ist er für seine Jahre zu stark und zu untersetzt und dabei ist er noch gar nicht so alt — so Ende vierzig — seine Augen sind auch nicht die besten und ich möchte beinahe behaupten, er trägt eine Brille —”

„Aber um Gotteswillen, das ist ja unheimlich, Herr Graf,” unterbrach Frau Olga, die sich nicht mehr beherrschen konnte, ihn da plötzlich.

Anstatt gleich etwas darauf zu antworten, trocknete sich der Graf mit dem seidenen Tuch die Stirn, auf der von der angestrengten Arbeit des Gehirns kleine Schweißtropfen perlten, dann fragte er mit einem leisen Lachen: „Stimmt das, was ich sagte, wenigstens einigermaßen?”

„Es stimmt sogar bis auf die geringste Kleinigkeit,” gab Frau Olga ganz erregt zur Antwort, um gleich darauf zu wiederholen: „Es ist geradezu unheimlich, wie genau Sie meinen Mann geschildert haben. Wie brachten Sie das Kunststück, das Wunder, oder wie ich es sonst nennen soll, nur fertig? Das müssen Sie mir bitte erklären.”

So gerne er ihr anscheinend ausgewichen wäre, er mußte ihre Bitte erfüllen, da sie auf der bestand, und so sagte er denn endlich: „Also schön, gnädige Frau, wenn Sie befehlen, muß ich natürlich gehorchen, aber ganz leicht wird es mir nicht, es einzugestehen: Alles, was ich Ihnen sagte, las ich deshalb in Ihren Augen, weil in denen ganz deutlich geschrieben steht, daß Sie in Ihrer Ehe nicht glücklich sind.”

Frau Olga fühlte ganz deutlich, wie sie erblaßte, trotzdem zwang sie sich zu einem Lachen und meinte: „Wenn Sie sich da nur nicht irren, Herr Graf.”

Er aber ließ sich nicht täuschen und wiederholte: „Sie sind nicht glücklich, gnädige Frau, wenngleich ich es Ihnen natürlich vollständig nachfühle, daß Sie es mir, dem Fremden gegenüber, nicht zugeben wollen. Aber Sie sind es nicht, weil Sie einen Mann haben, der in seiner äußeren Erscheinung so gar nicht zu Ihnen paßt, der keine Zeit hat, sich Ihnen zu widmen, dessen Interessen ganz andere sind als die Ihrigen, der, wenn auch nur bildlich gesprochen, zu blind ist, um Ihre Schönheit zu sehen und zu bewundern und der sich des Abends zu müde und abgespannt fühlt, um Ihnen die Zärtlichkeiten und die Beweise seiner Liebe geben zu können, ohne die auf die Dauer keine Frau glücklich und zufrieden sein kann, am allerwenigsten eine so leidenschaftliche und temperamentvolle Frau wie Sie, gnädige Frau.”

„Und woher wissen Sie, daß ich, gerade ich das bin?” Wenn Sie sich da nur nicht irren, wollte sie ihm abermals zurufen, um nicht zugeben zu müssen, wie recht er auch diesmal mit seinen Worten habe. Aber sie sah es voraus, daß er ihr doch nicht glauben würde, und ihre Leidenschaften waren schließlich auch ein Thema, über das sie mit ihm nicht streiten und debattieren konnte, zumal ihr Wderspruch alles andere als ehrlich gewesen wäre, denn sie selbst wußte ja am besten, wie glühend heiß die Begierden zuweilen in ihr brannten.

„So, gnädige Frau, und nun möchte ich um Erlaubnis bitten, diesen Shimmy mit Ihnen tanzen zu dürfen,” weckte seine Stimme sie da aus ihren Gedanken, und sie war ihm dankbar dafür, daß er es tat. Was hatte es auch für einen Zweck, weiter darüber nachzudenken, daß sie in ihrer noch dazu kinderlosen Ehe alles andere als glücklich war und daß auch sie die Wahrheit des Wortes erfahren hatte, das Balsac in seinem Buche über die Ehe schreibt: Das Schicksal mancher Ehe entscheidet sich schon in der ersten Nacht, denn wenn da zwei Naturen zusammen kommen, die in gewisser Hinsicht nicht zueinander passen, ist das Unglück schon fertig. Und schon in der Hochzeitsnacht hatte sie einsehen müssen, daß die Natur ihres Mannes, der ja auch so viel älter war als sie, in keiner Weise zu der ihrigen paßte.

Nein, nicht denken, nur nicht denken, wenigstens nicht hier, wo die Klänge der ausgezeichneten Kapelle zum Tanz lockten.

Wieder sahen die anderen Paare ihnen zu, wieder ernteten sie lauten Beifall, wieder schritt Frau Olga, als die Musik verstummt war, stolz wie eine Königin, und doch verlegen an seiner Seite zu ihrem Tisch zurück, dann meinte sie: „Das war schön, ach, so tanzen zu können, ist ein Genuß, aber trotzdem, Herr Graf, fordern Sie mich bitte nicht mehr auf, ich möchte bei den anderen Paaren nicht den Anschein erwecken, als legte ich es auf den Beifall an, als wollte ich mit Ihnen zusammen bewundert werden.”

„Ganz wie Sie befehlen, gnädige Frau, und da ich nun nicht mehr die Ehre haben darf, Ihr Partner zu sein – –”

Aber Frau Olga hielt ihn zurück, als er sich nun verabschieden wollte: „Nein, Herr Graf, so war das natürlich nicht gemeint, und keinesfalls dürfen Sie gehen, ehe ich Sie nicht meinem Manne vorgestellt habe, der nun wirklich jeden Augenblick kommen muß.” Und halb lachend, halb ärgerlich setzte sie hinzu: „Unpünktliche Männer sind etwas Gräßliches!”

„Und unpünktliche Frauen?” neckte er sie.

„Das ist etwas ganz anderes,” verteidigte Frau Olga sich. „Ich habe einmal irgendwo das Wort gelesen: Eine schöne, elegante Frau darf nie pünktlich sein, sonst verliert sie jeden Reiz, jeden Charme, jede Anmut.”

„Da müssen Sie, gnädige Frau, aber sehr unpünktlich sein,” meinte er galant, „sonst hätten Sie trotz Ihrer Jugend ganz bestimmt nicht mehr so viel Reiz, Charme und Anmut, wie Sie sie besitzen – Ich wiederhole, trotz Ihrer Jugend.”

Frau Olga überhörte absichtlich die Schmeichelei, die er ihr zollte, so sehr sie sich auch über sie freute, und widersprach lediglich: „Bitte sehr, Herr Graf, ich bin die Pünktlichkeit selbst.”

„Na, na, gnädige Frau,” meinte er lustig, „darauf möchte ich es bei einem Rendezvous mit Ihnen doch lieber nicht ankommen lassen. Das heißt, gnädige Frau,” verbesserte er sich schnell, „wenn ich eben sagte Rendezvous, dann haben Sie mich hoffentlich nicht mißverstanden und daraus nicht etwa den Sie beleidigenden Schluß gezogen, ich könnte Sie, selbst wenn ich noch längere Zeit hier bleiben sollte, jemals um ein solches bitten.”

Nein, das hatte Sie ganz gewiß nicht getan, der Gedanke war ihr nicht einen Augenblick gekommen, aber sie wurde jetzt bei seinen Worten, oder geschah es unter dem Blick, den er bewundernd und huldigend auf ihr ruhen ließ, doch ein klein wenig verlegen und unruhig. Trotzdem meinte sie anscheinend ganz unbefangen: „Ich habe Sie ganz richtig verstanden, Herr Graf, und Ihre Worte genau so aufgefaßt, wie sie gemeint waren. Deshalb kann ich Ihnen auch, ohne daß Sie mich mißverstehen, ruhig zur Antwort geben, es tut mir beinahe leid, daß ich Ihnen nicht beweisen kann, wie pünktlich ich stets bei einem Rendezvous bin.”

„Das tut mir natürlich erst recht leid, gnädige Frau,” ging er auf ihren Plauderton ein, bis er nun plötzlich und unvermittelt fragte: „Was meinen Sie, gnädige Frau, wenn Sie mir Gelegenheit gäben, mich davon zu überzeugen, ob Sie wirklich so pünktlich sind?” Und als sie ihn verwundert ansah, fuhr er fort: „Sicher haben Sie morgen vormittag irgend eine Verabredung, sei es bei Ihrer Schneiderin, bei der Putzmacherin oder sonst irgendwo, und ebenso sicher haben Sie der heute bereits telephonisch mitgeteilt, daß Sie morgen um die und die Zeit zu ihr kommen würden?”

„Das habe ich allerdings getan,” stimmte sie ihm bei, „meine Schneiderin erwartet mich morgen präzise einhalb elf Uhr.”

„Und darf ich wissen, wo die wohnt, gnädige Frau?”

Frau Olga nannte ihm Straße und Hausnummer, um gleich darauf lachend zu fragen: „Wollen Sie etwa auch bei der arbeiten lassen?”

„Nein, das nicht,” widersprach er lustig, „denn die Zeit, daß wir Männer uns nach Frauenart kleiden, wird wohl erst kommen, wenn die Damen es sich wieder abgewöhnt haben, uns Männern in ihrer Kleidung Konkurrenz zu machen. Nein, arbeiten lassen will ich dort nichts, wohl aber will ich mich dort heimlich, und zwar so heimlich, daß Sie mich gar nicht sehen, auf die Lauer legen und feststellen, ob Sie wirklich pünktlich sind.”

„Und wenn ich es bin,” erkundigte sie sich.

„Dann werde ich Ihnen in Gedanken ein wundervolles Denkmal errichten, gnädige Frau, in das ich die Worte hineinmeißeln lassen werde: „Der einzigen pünktlichen Frau Deutschlands.” Zu Füßen dieses Denkmals aber lege ich einen Blumenstrauß nieder, und wenn Sie dann bei Ihrer Schneiderin fertig sind, wieder auf die Straße treten und dort den Strauß liegen sehen, dann erweisen Sie mir bitte die Ehre, ihn aufzuheben und ihn in Ihrem Heim in eine Vase zu stellen. Aber erst muß ich natürlich wissen, welches Ihre Lieblingsblumen sind.”

„Das ist mein Geheimnis, das ich Ihnen selbstverständlich nicht verrate, schon damit Sie mir nicht etwa wirklich die Blumen kaufen, die außerdem doch längst zertreten wären, wenn Sie die für mich an den Sockel des gar nicht vorhandenen Denkmals niederlegten.”

Aber er achtete gar nicht auf ihre Worte, die er überhaupt nicht zu hören schien, sondern sah sie nur abermals mit seinen auffallend schönen blauen Augen eine ganze Weile forschend und prüfend an, bis jetzt ein leises zufriedenes Lächeln seinen Mund umspielte, und bis er ihr zurief: „Also Tulpen, nur Tulpen — stimmt's, gnädige Frau?”

„Natürlich stimmt es,” gab sie ganz verwirrt zur Antwort, „aber auch das ist ja geradezu unheimlich.”

„Und doch geht auch das mit ganz natürlichen Dingen zu,” lachte er. „Man muß nur ein ganz klein wenig Gedanken lesen können oder etwas hypnotische Macht besitzen, etwa wie ein Zauberkünstler, bei dem ein Zuschauer aus einem Spiel Karten eine Karte zieht, aber unfehlbar nur die, die er ziehen soll. Und als ich Sie vorhin ansah, gnädige Frau, habe ich Sie im stillen gefragt, lieben Sie die Rosen, den Flieder, die Veilchen, und als ich zuletzt die richtige Blume in Gedanken nannt, da zuckten Sie, ohne daß Sie es selbst wohl gemerkt haben, ganz leise zusammen, und da wußte ich Bescheid.”

„Heinrich, mir graut vor dir,” versuchte sie mit dem Gretchenwort ihre Unruhe lachend zu verbergen, denn wenn das so weiter ging, war er imstande, ihr noch zu verraten, daß und mit wem sie ihrem Mann untreu war.

Und es mußte ihr gelungen sein, ihre Unruhe zu verbergen, denn seinerseits lachend rief er ihr zu: „Sehen Sie wohl, gnädige Frau, es geht alles sehr einfach zu, und wenn es nicht so arrogant wäre, möchte ich sagen, Sie haben schon etwas, nein, eine ganze Menge bei mir gelernt, denn ich heiße tatsächlich Heinrich.”

„Das ist aber wirklich ein komischer Zufall,” meinte sie belustigt, während sie plötzlich ein klein wenig verlegen wurde, weil ihr einfiel, daß sie ihn da nicht nur mit seinem Vornamen, sondern auch mit dem vertraulichen „Du” angesprochen habe.

Aber ihm selbst mochte das Du schon deshalb weiter gar nicht aufgefallen sein, weil sie ja lediglich ein Wort aus dem Faust zitierte. Er knüpfte lediglich an ihren Ausdruck Zufall an und erzählte lustig in amüsanter Weise ein paar kleine Anekdoten, in denen der Zufall eine große, wenn oft auch nur eine sehr komische Rolle gespielt habe, und als er dabei auch von einem ehemaligen Kameraden sprach, fragte sie ihn: „Sie waren früher Offizier?”

„Mit Leib und Seele, gnädige Frau. Ich stand gerade vor dem Offiziersexamen, als der Ausbruch des Krieges uns alle überraschte. Ich habe den Feldzug vom ersten bis zum letztehn Tage mitgemacht, sonderbarerweise ohne auch nur ein einziges Mal verwundet zu werden, obgleich ich jederzeit alle nur denkbaren Beweise dafür erbringen kann, daß ich mich ganz bestimmt nicht in der Etappe herumgedrückt habe, sondern beständig in der vordersten Front war. Und wenn ich heute nicht mehr Offizier bin, gnädige Frau, wenn ich nicht unserer Reichswehr angehöre, so ist daran lediglich eine ganz kleine Lungengeschichte schuld, die ich mir draußen geholt habe. Ob ich wollte oder nicht, ich mußte umsatteln. Leicht ist es mir gerade nicht geworden, einen anderen Beruf zu ergreifen, oder richtiger gesagt, viele neue Berufe, denn ich bin manches gewesen, bis ich das wurde, was ich jetzt bin.”

Es hätte Frau Olga interessiert, was er denn jetzt sei, aber da er es nicht selbst sagte, mochte sie ihn auch nicht danach fragen, um nicht neugierig und indiskret zu erscheinen. Und jetzt entdeckte sie auch endlich ihren Mann, der auf sie beide zukam. Aber sie sah nicht nur ihn, sie bemerkte auch gleich die tiefe Falte des Unmutes, die sich auf seiner Stirn zusammengezogen hatte, so daß sie sich halb erschrocken, halb mißgestimmt sagte, da ist er also schon wiedermal eifersüchtig und dieses Mal doch wirklich ohne allen Grund. Und im stillen setzte sie hinzu: Ehemänner sind zuweilen weiß Gott eine gräßliche Erfindung, sie gönnen uns nicht das kleinste harmlose Vergnügen, und wenn man sich, wie ich es heute tat, einmal nett und lustig unterhielt und eine kleine Abwechslung hatte, schon wird einem hinterher durch eine Eifersuchtsszene alles wieder gründlich verdorben.

Mit einem kurzen Wort machte Frau Olga auf ihren Mann aufmerksam, der in seiner äußeren Erscheinung wirklich vollständig dem Bilde gleich, das der Graf vorhin von ihm entworfen hatte, so daß sie beide jetzt einen kurzen, schnellen Blick miteinander tauschten. Dann stand Frau Olgas Mann, der Direktor Weidmann vor ihnen, um sich zunächst bei seiner Frau wegen seines späten Kommens, an dem eine wichtige Besprechung die Schuld trage, zu entschuldigen, bis er mit einer Stimme, aus der nicht nur Erstaunen, sondern, wie sie es deutlich hörte, auch Eifersucht herausklang, sagte: „Du bist nicht allein, Olga?”

„Herr Graf v. Sernberg hat mir in der liebenswürdigsten Weise Gesellschaft geleistet,” stellte Frau Olga die beiden Herren einander vor, „und nicht nur das,” fuhr sie fort, „der Herr Graf hat zweimal mit mir getanzt, und wir haben dabei unerhörte Triumphe gefeiert.”

In lustiger Weise, aber doch nicht ohne Stolz, erzählte Frau Olga von ihren gemeinsamen Erfolgen. Und war es die Freude über die Anerkennung, die sie bei dem Tanz gefunden und die auch seiner Eitelkeit schmeicheln mochte, war es der Name und die vornehme, ritterliche Art des Fremden, kurz und gut, Frau Olga sah mit Freuden, daß die Falte des Unmutes und der Eifersucht auf der Stirn ihres Mannes schneller dahinschwand, als sie es zu hoffen gewagt hatte. Ja, ihr Gatte ging sogar so weit, daß er den Grafen, als der sich nun wirklich verabschieden wollte, um ihr Zusammensein nicht zu stören, bat, den Abend mit ihnen zusammen verleben zu wollen, wenn er sonst nichts Besonderes vorhabe, um sich dadurch bei ihm dafür bedanken zu können, daß er sich seiner Frau in so liebenswürdiger Weise angenommen habe.

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Frau Olga war die Geliebte des Grafen geworden, der sich, wie sie es wußte, nur ihr zuliebe hier immer noch in der Stadt aufhielt. Er blieb, weil er sich, wie er es ihr immer wieder sagte und wie sie es ihm auch deutlich genug anmerkte, nicht nur mit seinen Sinnen, sondern in erster Linie mit seinem Herzen in sie verliebt hatte, und weil er sie ebenso leidenschaftlich liebte, wie sie ihn. Ja, auch sie liebte ihn, denn anders war es doch gar nicht zu erklären, daß sie sich ihm so schnell hingab, und daß sie das tat, hatte sich aus ihrem häufigen Zusammensein, das ihr eigener Mann seltsamerweise mehr zu fördern als zu verhindern schien, ganz von selbst ergeben. Auf so natürliche Art war alles gekommen, daß keiner von ihnen beiden der Verführer oder der Verführte war. Ebenso wenig wie der Graf es darauf ablegte, sie zu gewinnen, ebenso wenig dachte sie daran, an ihm eine Eroberung zu machen. Und so vollständig galten alle ihre Gedanken nur dem Grafen, daß sie darüber ganz den Dr. Langholz vergaß und daß sie, wenn sie zuweilen doch an ihn dachte, es kaum noch begreifen konnte, daß sie dem jemals ihre Gunst habe schenken können. Ja, sie gestand sich sogar ein, daß sie selbst dann nicht mehr zu ihm gegangen wäre, wenn er sie nicht gebeten hätte, so lange ihre Besuche einzustellen, bis er sie wieder rufen würde, da der Tod seiner über alles geliebten Mutter ihn derartig aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht habe, daß er auch heute, nach Wochen, kaum imstande sei, seine Berufspflichten zu erfüllen, obgleich gerade er als Arzt den Tod eines Menschen doch eigentlich als etwas ganz Selbstverständliches und Natürliches hinnehmen müsse.

Frau Olga liebte, wie sie es noch nie zuvor getan, und sie war so glücklich, wie sie es noch nie gewesen. Aber trotz alledem wäre sie es noch mehr gewesen, wenn sie dem Grafen, ihrem Geliebten, nicht deutlich angemerkt hätte, daß ihn etwas bedrückte, und daß er nicht annähernd so froh und glücklich war, wie sie selbst. Lag das daran, daß er ihr einmal erzählte, sie wäre die erste verheiratete Frau, die er ganz gegen seine sonstigen Grundsätze zur Freundin habe, und machte er sich nun deswegen Vorwürfe und Gewissensbisse oder litt er darunter, daß sie ihm, ohne daß er sie danach gefragt, lediglich weil sie ihm Wahrheit schuldig zu sein glaubte, ihre früheren Beziehungen zu dem Dokor gestanden hatte und quälte ihn nun noch nachträglich die Eifersucht, obgleich er zu der doch gar keine Veranlassung hatte, denn damals kannten sie einander ja noch gar nicht? Oder hing es mit irgendwelchen Sorgen und Unannehmlichkeien seines Berufes, über den er sich aber selbst ihr gegenüber nie aussprach, zusammen, daß er, wenn sie einander in wilder, stürmischer Umarmung angehört hatten, beinahe in dumpfer Verzweiflung und mit immer neuen Selbstanklagen vor sich hin starrte und es kaum beachtete, wenn sie sich zärtlich an ihn schmiegte und mit ihren zarten Händen leise sein Haar streichelte, um seine Gedanken zu verscheuchen? Oder hing das, was ihn bedrückte, endlich damit zusammen, daß die Trennungsstunde für sie beide immer näher heranrückte? Wie oft hatte er nicht schon abreisen wollen, wie oft ihr nicht schon erklärt, seine Geschäfte wären hier erledigt und er müsse nach Berlin zurück, wo er seinen Wohnsitz habe und wo Wichtiges auf ihn warte, zumal er fest entschlossen sei, seinen jetzigen Beruf aufzugeben und sich nach einer neuen Tätigkeit umzusehen. Wie oft hatte die Trennungsstunde nicht unmittelbar bevor gestanden, aber immer wieder war er ihren Bitten, bleib noch und wenn es auch nur ein paar Tage sind, bleib noch, unterlegen, schon weil sie ihm ja deutlich anmerkte, wie furchtbar schwer es auch ihm wurde, von ihr Abschied zu nehmen.

Aber morgen früh wollte und mußte er nun wirklich reisen. Er hatte ihr gestern auf das bestimmteste erklärt, daß ein weiterer Aufschub der Trennung für ihn eine absolute Unmöglichkeit sei, und wenn auch mit vielen Tränen hatte sie ihm fest versprochen, sich in das Unabänderliche zu fügen und nicht nochmals den Versuch zu machen, ihn zurückzuhalten.

Zum letzten Mal wollten und würden sie nun heute zusammen sein und sie hatten sich gestern gegenseitig gelobt, keine Abschiedsstimmung aufkommen zu lassen, sondern die letzten Stunden, die ihnen gehörten, in vollen Zügen auszukosten. Frau Olgas Mann war geschäftlich verreist, so war sie an keine Zeit gebunden und sie eilte zu dem Geliebten, nicht um mit ihm die Abschiedsstunde, sondern das Abschiedsfest zu feiern. Und es sollte bei auserlesenen Speisen und Getränken, bei heiterer, fröhlicher Unterhaltung, bei Küssen und Liebkosungen ein wirkliches Fest werden. Deshalb hatte sie sich auch so hübsch und so verführerisch wie nur möglich für ihn gekleidet, aber als sie mit ihm in dem verschwiegenen Liebesnest zusammentraf, das er für sie beide längst ausfindig gemacht hatte, da sah sie es seinem Gesicht auf den ersten Blick an, der heutige Abend würde alles andere als lustig werden, wenn es ihr nicht gelingen sollte, die Falten von seiner Stirn und die Verzweiflung, die aus seinen Zügen sprach, fortzuküssen. Aber als sie nun gleich damit beginnen wollte, wehrte er ab: „Bitte Olga, laß das, wenigstens jetzt.” Und als sie ihn verständnislos ansah, setzte er hinzu: „Wie schon so oft in der Zeit, in der wir uns kennen, Olga, bin ich auch heute wieder mit mir zu Rate gegangen, ob ich dir nicht wenigstens heute, an unserem letzten Abend, endlich die Wahrheit sagen müsse. Und da bin ich zu der Erkenntnis gekommen, ich muß es, denn ich habe dich von der ersten Minute an, in der ich mich dir vorstellte, so viel belogen, daß ich, nachdem ich dich kennen gelernt und dich lieb gewonnen habe, nicht auch noch mit einer Lüge für immer von dir Abschied nehmen will.”

Es war irgend etwas in dem traurigen Blick seiner Augen und in dem Klang seiner Stimme, das sie erschrecken und erschauern ließ und ohne daß sie sich das Warum zu erklären vermochte, wurde plötzlich die Angst in ihr wach, die Angst vor dem, was er ihr bisher verschwieg und was sie jetzt erfahren würde. Ihre Knie begannen zu zittern, so daß sie beinahe kraftlos in einen Sessel fiel und sie brachte kaum die Worte heraus, als sie nun mit stockender Stimme fragte: „Du, gerade du hättest mich von der ersten Minute an belogen? Wie soll ich das verstehen? Und wenn du es wirklich tatest, was ich in diesem Augenblick noch nicht zu glauben vermag, warum tatest du es?”

„Weil ich es mußte, Olga, weil es mit meinem, beinahe hätte ich gesagt, mit meinem zuweilen sehr traurigen Beruf zusammenhängt,” gab es tonlos zur Antwort.

„Ja, aber was hast du denn nur für einen Beruf?” forschte sie voller Angst und Bange. „Du bist mir bisher immer ausgewichen, wenn ich dich fragte.”

„Das wirst du verstehen, wenn ich dir jetzt Antwort darauf gebe,” und während er ihr beinahe totenblaß gegenüberstand, sagte er nun: „Ich bin Gesellschafts-Detektiv.”

Mit einem gellenden Schrei tödlicher Angst fuhr Frau Olga in die Höhe, um gleich darauf wieder in ihren Stuhl zurückzufallen, während alle ihre Glieder vor Entsetzen zitterten und bebten. Er war Detektiv, er hatte sie sicher auf Veranlassung ihres ja beinahe schon krankhaft eifersüchtigen Mannes beobachten und womöglich in Erfahrung bringen sollen, ob etwas Wahres daran sei, wenn er vermutete, daß sie und der Dokor Langholz — — und er, ihr Heinrich, dem sie ihre Liebe geschenkt, der sie aber seinerseits natürlich gar nicht wiederliebte, sondern der alle seine Empfindungen nur für sie heuchelte, um ihr Vertrauen zu gewinnen, hatte er ihr nicht selbst eben gestanden, daß er sie beständig belogen — er wußte um ihr Geheimnis, das sie ihm nach Frauenart blindlings anvertraute und das, was er von ihr wußte, würde er nun ihrem Mann, der ihn für seine Dienste, die er ihm geleistet, bezahlte, berichten müssen, wie es seine Pflicht war. Aber nein, schöpfte sie gleich darauf eine leise Hoffnung, das würde er nicht tun, weil er es nicht konnte, denn dann mußte er zugeben, daß er sich auch selbst schuldig gemacht habe — bis sie nun plötzlich die Angst befiel, wer konnte wissen, ob er da nicht mit ihrem Mann unter einer Decke steckte, ob der ihm in seiner blinden Eifersucht nicht erklärte, mir ist jeder Beweis, den Sie mir dafür erbringen, daß meine Frau mich betrügt, gleich recht, verstehen Sie wohl, jeder Beweis, ich will nur endlich Gewißheit haben. Und hatte ihr Mann, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit das Zusammensein zwischen ihnen beiden nicht in jeder Weise gefördert?

Er mußte ihr ansehen, was in ihr vorging, denn er trat jetzt auf sie zu und haschte nach ihrer Hand. Aber sie stieß ihn zurück: „Lassen Sie mich, rühren Sie mich nicht an, Herr Graf.”

„Auch da habe ich Sie belogen, Frau Olga,” kam es über seine Lippen, „ich bin kein Graf, ich heiße ganz einfach Heinrich Graf. In den Adelstand erhebe ich mich nur zuweilen selbst, wenn es die Ausführung meines Berufes mit sich bringt, wenn es sich für mich darum handelt, in unauffälliger Weise in den ersten Gesellschaftskreisen Eingang zu finden und man glaubt mir den Adel um so leichter, da meine äußere Erscheinung und die Tatsache, daß ich lange Jahre Offizier war —”

„Also das sind Sie doch wenigstens gewesen?” lachte Frau Olga höhnisch auf.

„Ja, Frau Olga,” bestätigte er mit fester Stimme, „und die vielen und die hohen Orden, die ich erhielt, habe ich mir vor dem Feinde ehrlich verdient; es ist nicht einer darunter, der bei einem allgemeinen Ordenssegen auf mich herabgefallen wäre.”

„Auch das ist wenigstens etwas,” meinte Frau Olga spöttisch, aber es klang doch nicht mehr ganz so scharf wie vorhin.

„Ich danke Ihnen, Frau Olga, daß Sie mich nicht wenigstens ganz verachten,” rief er ihr zu, „aber nun lassen Sie mich Ihnen bitte meine ganze Beichte ablegen.”

Aber so groß ihre Neugierde auch war, viel, viel größer war doch die Angst, die nun wieder in ihr wach wurde, und deshalb fragte sie jetzt schreckensbleich: „Weiß mein Mann schon, was ich Ihnen in einem schwachen Agenblick anvertraute, daß der Doktor und ich und weiß er, daß auch wir beide —”

„Er weiß es noch nicht, Frau Olga, und er wird es, wenigstens von mir, auch niemals erfahren,” gab er mit einer Stimme zur Antwort, die keinen Zweifel an der Wahrheit seiner Versicherung aufkommen ließ.

Wie vorhin der Schrecken und das Entsetzen, so lähmte sie jetzt für einen Augenblick die schrankenlose Freude. Ihr Mann wußte noch nichts und würde auch nie etwas erfahren, sie war gerettet.

Mit einem Jubelschrei wollte sie, als sie die erste Freude überwunden, emporspringen, um ihm mit flammenden Küssen zu danken, aber sein Blick bannte sie auf ihren Stuhl.

„Ich habe eine schwere Schuld auf mich geladen, Frau Olga,” sprach er jetzt zu ihr. „Ich habe meine Pflicht auf das schwerste verletzt. Ich habe nicht als Beamter oder wie ich das sonst nennen soll, sondern in erster Linie als Mensch gehandelt. Anstatt mich lediglich meines Auftrages zu entledigen, habe ich mich in Sie, Frau Olga, mit allen Fasern meines Herzens verliebt und es ist nur eine kleine Entschuldigung für mich, daß mir das bei meiner Berufstätigkeit zum ersten Male passierte, zum ersten, aber auch zum letzten Male, denn wie ich es Ihnen schon sagte, gebe ich meinen Beruf trotz der Erfolge, die ich in dem erzielt und trotz des Namens, den ich mir da machte, jetzt wieder auf, denn wie schwer und wie erniedrigend der zuweilen für einen anständigen Menschen ist und sein kann, das habe ich noch nie so deutlich empfunden, wie an jenem ersten Nachmittag im Hotel, als ich mich Ihnen näherte und als ich da auch Ihnen das Märchen erzählte, ich hätte mir lediglich aus Ihren Augen das Bild Ihres Mannes konstruiert und als auch Sie mir das ebenso glaubten wie später die Geschichte, daß ich Ihre Lieblingsblume erraten hätte. In Wahrheit hatte ich am Morgen des Tages Ihrem Gatten, der mich hierher gerufen, lange in seinem Büro gegenüber gesessen, den über Sie, Frau Olga, gründlich ausgefragt, und es war zwischen Ihrem Gatten und mir genau die Zeit verabredet worden, in der er sich als anscheinend eifersüchtiger Dritter zu uns gesellen solle. Es war alles ein abgekartetes Spiel, denn ebenso wie im Film geht bei einem Detektiv alles mit rechten Dingen zu. Sie, Frau Olga, verstehen jetzt hoffentlich alles. Ich selbst aber verstehe auch heute noch nicht und werde es wohl auch nie verstehen, daß ich so pflichtwidrig handeln und mich in Sie verlieben konnte. Mit welchen Gefühlen ich in der letzten Zeit Ihrem Manne gegenübergesessen habe, der mir schon meines Berufes wegen ein unbegrenztes Vertrauen entgegenbrachte, das zu schildern bin ich nicht imstande. In Grund und Boden habe ich mich jedesmal geschämt und doch, wenn ich Sie so jung, so verführerisch schön wie jetzt vor mir sehe — —” mitten im Satz hielt er inne und ging mit erregten Schritten im Zimmer auf und ab, bis er nun vor ihr stehenbleibend bat: „Sagen Sie mir eins, Frau Olga, können Sie mir verzeihen, daß ich mich dazu hergab, auch Sie beobachten und hinter Ihr Geheimnis kommen zu wollen, daß ich auch Ihnen gegenüber mit Lug und Trug vorging? Können Sie mir verzeihen, oder wenn auch das nicht, glauben Sie, daß die Verachtung, die Sie in diesem Augenblick sicher für mich empfinden und ja auch empfinden müssen, sich legen wird, so daß Sie meiner doch wieder mit Achtung gedenken?” Und ehe sie ihm noch hätte antworten können, fuhr er schnell fort: „Lassen Sie mich Ihnen noch eins sagen, Frau Olga. Ihr Mann findet morgen bei seiner Rückkehr einen Brief in seinem Büro von mir vor, in dem ich ihm, wie ich es schon wiederholt mündlich tat, nochmals auf das bestimmteste erkläre, auf Grund meiner sorgfältigen Beobachtungen zu der felsenfesten Überzeugung gekommen zu sein, daß er nicht den allerleisesten Grund und die allerleiseste Veranlassung habe, auch nur eine Sekunde an Ihrer Treue zu zweifeln. Gleichzeitig mache ich ihn nochmals mit aller Bestimmtheit darauf aufmerksam, ich hätte den Eindruck gewonnen, als fühlten Sie sich von ihm vernachlässigt und ich gebe ihm den sehr ernsten Rat, Ihnen in Zukunft mehr als bisher seine Liebe nicht nur durch Geschenke, sondern auch auf andere Art zu beweisen. Und um noch einen anderen sehr heiklen Punkt zu erwähnen, Frau Olga, und damit Sie mir nicht etwa deswegen später jemals einen Vorwurf machen, ich lehne in diesem Briefe nochmals, wie ich es Ihrem Gatten gegenüber auch schon mündlich tat, jedes Honorar ab und bitte ihn, den früher mit mir vereinbarten Betrag einem wohltätigen Zwecke zu überweisen.” Und mit ganz leiser Stimme, während sich seine Wangen dunkelrot färbten, setzte er hinzu: „Ganz konnte ich ihm das Geld ja nicht schenken, das hätte seinen Argwohn erwecken können. Und nun, Frau Olga,” schloß er, „möchte ich Sie noch einmal fragen: Glauben Sie, daß Sie mich jemals wieder achten können?”

„Das tue ich jetzt schon,” kam es leise über ihre Lippen, „denn ich habe Sie doch geliebt, und ich liebe Sie auch heute noch.”

Da eilte er auf sie zu und bedeckte ihre Hände mit flammenden Küssen, aber als sie ihm nun auch ihre Lippen bieten wollte, schüttelte er den Kopf: „Bitte nicht, liebe Frau Olga, lassen Sie meine große Schuld, an der ich ohnehin genug zu tragen habe, heute nicht noch größer werden. Lassen Sie uns Abschied feiern wie zwei gute Freunde, die sehr, sehr gern zusammen gewesen sind, lassen Sie uns heute von allem sprechen, aber nicht von unserer Liebe. Und lassen Sie mich, bevor wir zu Tisch gehen und zusammen mit dem Sekt anstoßen, noch eine Bitte an Sie richten, die vielleicht gerade aus meinem Munde komisch und seltsam klingt, die aber trotzdem sehr ernsthaft gemeint ist, durch die ich hoffentlich Gutes stiften und durch die ich mein Gewissen wenigstens etwas entlasten kann. Bleiben Sie Ihrem Mann fortan treu, liebe Frau Olga, um Ihret-, aber auch um seinetwillen, er verdient es, denn er liebt Sie über alles und hat schwer, sehr schwer darunter gelitten, daß er glaubte, Grund zur Eifersucht haben zu müssen. Wie schwer es mir gefallen ist, ihn von dem Gegenteil zu überzeugen, brauche ich Ihnen, liebe Frau Olga, wohl nicht erst zu sagen. Aber es ist mir gelungen, ich habe ihn wieder glücklich gemacht und wie glücklich er ist, wird er Ihnen morgen beweisen, wenn er von der Reise zurückkehrt. Das Nähere möchte ich Ihnen nicht verraten, um Ihnen die freudige Überraschung, von der er mir sprach, nicht zu rauben. Ihr Mann ist wieder glücklich, er glaubt felsenfest an Ihre Treue und er wird auch nie wieder an ihr zweifeln, dafür verbürge ich mich. Und nun versprechen Sie mir, liebe Frau Olga, daß Sie alles, aber auch alles tun wollen, was Sie nur können, damit Ihr Mann auch glücklich bleibt.”

Und mit einem festen und herzlichen Händedruck versprach sie es.

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© Karlheinz Everts