Militärische Skizze.

Von Frhr. v. Schlicht.
in: „Hamburger Fremdenblatt” vom 23.Aug. 1904,
in: „Rekrutenbriefe” und
in:
„Der stumme Kerl”.


Der General sitzt mit seiner Frau auf dem großen, schönen Balkon, von dem aus man eine wunderhübsche Aussicht über die ganze Stadt und über die benachbarten Gärten genießt. Es ist ein köstlicher Sommerabend, nur ganz leise bewegt sich die Luft, aus einem entfernt­liegenden Gartenrestaurant ertönen die leisen Weisen einer Regiments­kapelle, blutrot steigt der Mond am Himmel auf und zahllose Sterne glänzen am Firmament, ein großer Frieden liegt in der Natur.

Da stöhnt der General plötzlich schwer auf: „Ja, ja, wer weiß,” murmelt er vor sich hin.

Seine Frau legt ihre Hände auf seine linke: „Vertraue nur auf Gott, Hans, es wird schon alles werden.”

Zärtlich küßt er sie: „Du bist ein gutes, liebes Weib. Ich will Dir auch den letzten Abend nicht mehr dadurch verderben, daß ich Dir etwas vorstöhne. Komm', laß uns einmal anstoßen.”

Hell klingen die Gläser an einander, dann blicken sie wieder beide schweigend vor sich hin, ein jeder mit seinen Gedanken beschäftigt. Heute ist der letzte Abend, an dem sie hier, wie seit vielen Wochen alltäglich auf dem Balkon zusammen sitzen, morgen früh um 4 Uhr geht es in das Manöver. Der vorschriftsmäßige Koffer ist bereits gepackt und steht schon unten im Hof bei den Pferden, denn um 2 Uhr nachts wird die Bagage bereits abgeholt.

„Hast Du auch wirklich nichts vergessen, Hans?” fragt ihn seine Frau. „Ist auch alles eingepackt, auch das Insektenpulver?”

„Gewiß,” versichert er, „es ist alles da.”

Er zündet sich eine neue Zigarre an und bläst den Rauch vor sich hin. Von Zeit zu Zeit leert er auf einen Zug ein Glas Moselwein, das seine Frau ihm immer wieder vollgießt. Eigentlich darf er aus Gesundheits­rücksichten nicht mehr als eine halbe Flasche trinken, aber heute widerspricht seine Frau nicht, als der ersten Halben auch noch die zweite Halbe folgt. Es ist ja der letzte Abend. Morgen früh geht es ins Feld, nicht um etwa mit dem Feind zu kämpfen, und wenn es sein muß, ehrenvoll für das Vaterland zu sterben, sondern um sich von höheren Vorgesetzten besichtigen zu lassen, und wenn es sein muß, an einer wenig rühmenswerten Kritik den militärischen Tod zu erleiden. O, diese Kritiken, der Teufel hat sie erfunden. Aber sie müssen ja sein. Wozu sind die Vorgesetzten denn da, wenn sie ihre Untergebenen nicht auf die Fehler, die diese begehen, aufmerksam machen? Je höher der Vorgesetzte ist, um so mehr hat er die Pflicht, darauf zu achten, daß die ihm unterstellten Truppen nur solchen Offizieren anvertraut werden, die die Gewähr für eine durchaus kriegsmäßige Ausbildung derselben bieten. Und befördert soll nur derjenige werden, an dem in keiner Hinsicht ein Makel ist, nur derjenige, von dem man mit Bestimmtheit annehmen kann, daß er auf längere Zeit hinaus den neuen Platz, den man ihm anvertraut, auszufüllen vermag. Früher war es anders, da drückte man oft ein, zuweilen auch beide Augen zu, und sagte sich: Lassen wir den Mann ruhig avancieren, lassen wir ihn ein Jahr in seiner neuen Stellung, dann hat er wenigstens die höhere Pension erreicht, die er nach seiner langen Dienstzeit auch redlich verdient hat.

Und jetzt? Die Zahl der verabschiedeten Offiziere wächst von Jahr zu Jahr, die Summen, die für Pensionen bezahlt werden, gehen ins Ungeheure, da heißt es denn: Sparen, sparen, sparen. Wer da zeigt, daß er nicht das Zeug zu einer höheren Karriere in sich hat, um den ist es geschehen. Weg mit ihm, so früh wie möglich, heißt es, damit er nicht anderen begabteren Offizieren im Wege steht. Man nimmt keine Rücksicht mehr auf den Einzelnen, mögen seine finanziellen Verhältnisse auch noch so traurig sein, es hilft nichts, eine Pension erdienen kann beim Militär nur derjenige, der wirklich etwas leistet; daß er sie sich „ersitzt”, wie in so manchen anderen Berufen, ist ausgeschlossen. Es ist ein täglicher Kampf um das Dasein, um die Existenz der eigenen Person, und die der Familie.

Und auch für den General handelt es sich um die Existenz. Zum letzten Mal führt er in diesem Manöver die Brigade. Gleich nach Beendigung der Herbstübung muß es sich entscheiden, ob man ihn gewogen und als zu leicht befunden hat, oder ob man ihn zum Divisions­kommandeur befördert.

Der General ist nicht reich, was er besaß, ist drauf gegangen, der Rest seines Vermögens in den letzten Jahren, wo er als Brigadekommandeur zu den Spitzen der Behörden in der Stadt zählte, wo auch er repräsentieren, Gesellschaften geben und Feste feiern mußte. Muß er jetzt gehen, dann hat er nur noch die Pension. Na, verhungern wird er mit dieser nicht, aber doch gilt es, sich gehörig einzuschränken. Es wird, es muß aber gehen, er wird nach irgend einem billigen Nest ziehen und dort den Rest seiner Tage verbringen. Und vor der Untätigkeit, zu der er dann verdammt ist, schaudert es ihm. Entsetzlicher Gedanke, weiter nichts zu tun zu haben, als nichts zu tun! Und doch, selbst das will er ertragen, denn er weiß ja, einmal kommt für jeden Soldaten die Stunde, wo er den Rock ausziehen muß, denn nur den wenigsten ist es vergönnt, in den Sielen zu sterben, aber eins läßt ihn seine Verabschiedung, wenn sie jetzt erfolgt, nie überwinden, das ist sein Ehrgeiz.

Der General ist, solange er den Rock trägt, und das sind jetzt schon viele, viele Jahre, niemals ein Streber gewesen, er hat nie zu jenen gehört, die vor den Vorgesetzten kriechen und die Untergebenen mit Füßen treten, niemals ist sein Weg über die Leichen der Kameraden gegangen, nur eins hat ihn beseelt: wirkliche Liebe zu seinem Beruf und der Ehrgeiz, es so weit wie möglich zu bringen. Als junger Kadett hat er einmal auf Befragen erwidert: „Divisions­kommandeur werde ich sicher.” Man hatte den kleinen Knirps wegen der Zuversicht, die aus seinen Worten sprach, ausgelacht. Aber es war ihm damals mit seinen Worten genau so heiliger Ernst gewesen wie jetzt. Die Division will er geführt haben, er will diesen Posten erreichen, indem er zum erstenmal aufhört, nur nach den Vorschriften der Höheren zu arbeiten, er will die Stellung erklimmen, in der es ihm nach langer, langer Dienstzeit vergönnt ist, den kleinsten, strategisch selbständigen Truppenteil nach seinen eigenen Ideen auszubilden und zu führen. Und wenn es ihm gelungen ist, dieses Ziel zu erreichen, dann will er gern freiwillig gehen, denn er weiß, zu einem kommandierenden General gehört heutzutage noch mehr, als nur ein befähigter Offizier zu sein. In langer Dienstzeit hat er es vom Fähnrich bis zum Brigade–Kommandeur gebracht, und doch ist er immer nur der Amboß gewesen, jetzt will er auch der Hammer sein: Seine ganze bisherige Laufbahn ist weiter nichts gewesen, als eine beständige Abhängigkeit von den Höheren, sein Ehrgeiz will, daß er nicht aus dem Dienst scheide, ohne auch eine selbständige Position inne gehabt zu haben.

Der Titel „Exzellenz” lockt ihn, hat er den erreicht, dann ist er am Ziel seines Strebens. Nicht, um sich nur Exzellenz nennen zu lassen, o nein, er ist frei von jeder persönlichen Eitelkeit auf Titel und Würden. Aber wird er Exzellenz, so ist damit von höchster Stelle das Zeugnis und die Anerkennung seiner Befähigung ausgesprochen. Hat man ihm für zwei oder drei Jahre ein Division anvertraut, ist er der selbständige Führer und Leiter eines selbständigen Truppenverbandes gewesen, hat er das, was er in den langen Jahren lernte, die anderen wieder lehren können, dann weiß er, daß er nicht umsonst Soldat gewesen ist, daß er nicht umsonst gearbeitet hat. Dann hat seine Arbeit einen Nutzen, sein militärisches Leben einen Zweck gehabt.

Plötzlich zuckt er zusammen.

„Was hast Du nur?” fragt ihn seine Frau.

„Nichts, nichts,” wehrt er ab, und sie wagt nicht, weiter in ihn zu dringen, sie kennt ja seine ehrgeizigen Pläne, sie weiß, was ihn jetzt beschäftigt.

Und er sinnt weiter und plötzlich wird die Angst in ihm wach: „Was dann, wenn sie Dir jetzt nach dem Manöver den Abschied geben, und Dir als Trostgrad die Exzellenz nachwürfen?”

„Nur das nicht,” fleht er im stillen, „alles will ich hinnehmen, nur das nicht, nur nicht diesen Trostgrad, mit dem man die armen, verabschiedeten Offiziere darüber hinwegzutäuschen versucht, daß sie das Ziel ihres Strebens doch nicht erreichten. Nur keinen leeren Titel, nur das nicht.”

Er weiß, viele Offiziere sind glücklich, sich Major, oder Oberst, oder General nennen zu dürfen, ohne je diese Charge in Wirklichkeit bekleidet zu haben, er hat das nie begriffen, wie man diesen nachgeworfenen Trostgrad sogar häufig noch als Auszeichnung auffassen kann. In seinen Augen ist die Beförderung beim Abschied, wenn auch nicht gerade eine Kränkung, so doch ein beständiges Aufreißen der alten Wunden. Gewiß, die Absicht der höchsten Vorgesetzten, die diesen Trostgrad bei der Verabschiedung für den Betreffenden beantragen, ist ja die denkbar beste, aber trotzdem sagt sich der General: Bin ich nicht für befähigt genug gehalten worden, eine Division zu führen und eine wirkliche Exzellenz zu sein, so will ich auch nicht, daß man mir diesen Titel bei dem Abschied verleiht. Nur dessen, was ich war, nur dessen, was ich wirklich leistete, darf ich mich rühmen, nur auf das, was ich mir selbst erkämpfte, was ich mir selbst erarbeitete, darf ich stolz sein. Nur den Titel darf ich führen, den ich mir selbst, meinem eigenen Können, verdanke. So wenigstens denke ich, und sollte man mich trotzdem mit dem Trostgrad Exzellenz verabschieden, so muß ich es ja allerdings ruhig hinnehmen, aber ich würde glauben, erröten zu müssen, wenn mich öffentlich jemand „Exzellenz” anredet, denn ich war es nicht. Hätte ich den Titel verdient, dann hätte man mir auch eine Division gegeben, aber da man es nicht tat, hat der neue Titel etwas Demütigendes an sich. Immer wieder wird er mich an das Ziel erinnern, das ich erstrebte, ohne es zu erreichen, und das Wort „Exzellenz” würde mich, so oft ich es hörte, traurig stimmen.”

Und unwillkürlich blickt er hinaus zu dem klaren Sternenhimmel und seine stummen Lippen bitten „Herr im Himmel, das wenigstens erspare mir.”

Aber sein Flehen ist umsonst, sein Geschick ist bereits besiegelt. Lange hat man nachgedacht und noch länger gezögert, aber so mansches spricht gegen seine Beförderung, und das Interesse des Dienstes muß die persönlichen Rücksichten schweigen lassen: Er wird sich zu trösten wissen, wenn er den Abschied mit dem Titel „Exzellenz” erhält, so ist über ihn entschieden.

Und immer noch sinnt der General vor sich hin, eine Viertelstunde vergeht nach der andern, seine Frau wagt ihn nicht anzusprechen.

Da schlägt es Mitternacht, die Musik ist schon lange verstummt, kein Laut ringsum, Totenstille in der Natur.

„Willst Du Dich nicht schlafen legen?” bittet ihn endlich seine Frau, „denk' daran, in drei Stunden mußt Du schon wieder aufstehen.”

„Ja, ja, ich vergaß.”

Langsam erhebt er sich von dem Stuhl, um sich zur Ruhe zu legen. Er kurzer, traumloser Schlaf, dann ruft ihn die Pflicht, und wenig später hält er hoch zu Roß vor seiner Brigade, die seinen Morgegruß mit einem „Guten Morgen, Herr General” erwidert. Mit Stolz und Liebe schweifen seine Blicke über die Truppen, die da vor ihm stehen, dann gibt er den Befehl zum Abrücken. Die Kommandos erschallen, die Trommler und Pfeifer spielen das Locken, gleich darauf setzt die Musik mit dem Preußenmarsch ein, und stolz und zuversichtlich reitet der General an der Spitze seiner beiden Regimenter seiner Verabschiedung entgegen.


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