Das Manöverrennen.

Militärhumoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Hamburger Nachrichten”, belletristisch-literarische Beilage, vom 1.9.1901,
in: „Der geplagte Rittmeister” und
in: „In Kriegs- und Friedenzeiten”


Wie alljährlich sollte auch bei diesem Manöver das übliche Rennen, an dem sich die Offiziere der verschiedensten Waffengattungen beteiligten, abgehalten werden. Seine Excellenz, der kommandierende Herr General, war ein großer Sportsfreund. Als junger Leutnant hatte er selbst verschiedentlich auf der Rennbahn im Sattel gesessen und ließ nun keine Gelegenheit, die sich ihm bot, vorübergehen, ohne die Passion, die ihm selbst innewohnte, auch auf seine Untergebenen zu übertragen. Auch diesmal hatte er das Protektorat übernommen und einen sehr wertvollen Ehrenpreis gestiftet, den natürlich jeder gern aus der Hand des hohen Vorgesetzten entgegengenommen hätte — aber viel begehrter, wenn auch lange nicht so kostbar, war der Damenpreis, den die Damen der Stadt, in deren unmittelbarer Nähe das Rennen stattfinden sollte, gegeben hatte und den die schönste der Damen dem Sieger persönlich überreichen sollte. Mehr noch als ein anerkennendes Wort aus dem Munde des Vorgesetzten lockte ein freundliches Lächeln von den Lippen der schönen Frau, die der Sieger bei dem sich anschließenden Renn–Diner auch zu Tisch führen sollte, und so war jeder mehr als neugierig, wer als Sieger hervorgehen würde.

Auch an der Mittagstafel, an der die Herren des Husarenregiments saßen, bildete diese Frage das ausschließliche Gesprächsthema.

„Herrschaften,” sagte da ein älterer Oberleutnant, „ich bleibe bei meiner Behauptung: den Damenpreis hat der Regiments­adjutant des Infanterie­regiments, von Bolten, totensicher in der Tasche. Ich habe heute gesehen, wie er mit seiner kleinen Stute über die Bahn ging, ich sage Euch, da ist einfach nichts zu wollen, der siegt, wie er will.”

Ein Sturm der Entrüstung erhob sich und ein junger Leutnant rief: „So viel weiß ich, wenn der wirklich gewinnt, schieße ich mich tot oder nehme wenigstens meinen Abschied — die Schande, daß uns ein Infanterist den Damenpreis wegnimmt, überlebe ich als Soldat nicht. Daß ein Ulan oder ein Dragoner uns den Preis entreißt, würde ich mir zur Not noch gefallen lassen, aber ein Infanterist? Da sind wir alle nicht wert, Husaren zu sein.”

Das war ein kühnes Wort und der Tischälteste ließ die Gelegenheit denn auch nicht vorübergehen, den jungen Kameraden zu ermahnen, Schritt zu reiten und sich seine Worte etwas mehr zu überlegen, seine heilige Begeisterung entschuldige zwar vieles, aber doch nicht alles.

Der junge Leutnant machte ein sehr erstauntes Gesicht, nach seiner gewissenhaften Überzeugung hätte man ihn loben, nicht tadeln sollen. Er war noch zu jung, um zu wissen, daß es beim Militär meistens oder wenigstens sehr häufig anders kommt, als man denkt. Wenn ich nicht sagen darf, was ich will, sage ich überhaupt nichts mehr, dachte er, und um den Kameraden zu zeigen, wie beleidigt er sei, schwieg er ostentativ. Aber die anderen nahmen gar keine Notiz von ihm, die hatten nur Interesse für die eigenen Pferde und die der Kameraden, und gewissenhaft wurden die Chancen der einzelnen Reiter pro et contra erwogen.

„Doktor, warum reiten Sie eigentlich morgen nicht mit?” fragte da plötzlich der Regiments­adjutant den Assistenzarzt zweiter Güte, der sich inzwischen ausschließlich mit seiner Flasche Sekt unterhalten und kaum auf das, was die anderen sprachen, geachtet hatte.

Am liebsten hätten alle laut aufgelacht, aber der Adjutant winkte der Tischgesellschaft so energisch mit den Augen, sich ruhig zu verhalten, daß selbst die Fähnriche sich nicht verrieten.

„Was soll ich?” fragte der Doktor, sein Glas von neuem vollschenkend, „ich soll mitreiten? Der Witz ist nicht schlecht — Prosit.”

„Prosit,” erwiderte der Adjutant, dann fuhr erfort: „Sie verstehen mich ganz falsch, es ist gar kein Witz, nicht einmal ein schlechter, geschweige denn ein guter, wie Sie ihn nennen. Es ist mein bitterer Ernst.”

„Soll ich mich für alle Zeiten unsterblich lächerlich machen?” fragte der Doktor. „Nach den ersten hundert Metern liege ich ja unten.”

Das war ja nun auch die gewissenhafte Überzeugung des Adjutanten, aber trotzdem sagte er: „Warum wollen Sie denn absolut herunterfallen, dazu sind Sie doch nicht verpflichtet. und wenn schon — was schadet das? Unsere größten Herrenreiter sind schon gestürzt, ohne daß dadurch ihr Ruf gelitten hat, denken Sie nur an Heyden-Linden, an Suermondt, an Berken, und wie sie alle heißen.”

Der Doktor hatte dem Wein sehr fleißig zugesprochen, so waren seine Gedanken nicht mehr ganz klar und er vermochte es nicht einzusehen, daß das bei den anderen Herren auch etwas ganz anderes war. „Ja ja,” sagte er schließlich, „da haben Sie recht.”

„Na ja also, sehen Sie wohl,” fuhr der Adjutant fort, „und bedenken Sie noch eins: es wird einen hervorragend guten Eindruck auf Ihre Vorgesetzten, insonderheit auf Seine Excellenz, machen, wenn Sie mitreiten. Wer in die Schranken tritt, zeigt, daß er Mut hat, und je geringer die Chancen für ihn sind, Sieger zu bleiben, um so mehr ist sein Schneid anzuerkennen.”

„Ja ja,” sagte der Doktor, nachdem er langsam und nachdenklich sein Glas leergetrunken hatte, „da haben Sie auch recht.” Und nach einer kleinen Pause setzte er hinzu: „Feige bin ich mein Lebtag nicht gewesen, das hat auch noch nie einer von mir behauptet.”

„Na, dann reiten Sie doch mit, Doktor,” baten nun auch die anderen Herren, „morgen früh um neun Uhr ist Nennungsschluß, es ist also noch reichlich Zeit, und ein Pferd haben Sie ja auch.”

„Und was für eins — das richtige Medizinpferd,” sagte der Doktor ironisch.

Alle Pferde, die die Ärzte reiten, führen in der Armee den Beinamen „das Medizinpferd”, weil sie meistens so alt und mit so vielen Gebrechen behaftet sind, daß sie dringend der Medizin bedürfen. Und der Gaul, den der Assistenzarzt täglich im sausenden Schritt in dem Manövergelände tummelte, trug seinen Beinamen mit vollem Recht: er sah äußerlich verboten aus, er war auf einem Auge blind und hatte die Angewohnheit, stets mit dem Gebiß zu spielen und steckte infolgedessen fortwährend die Zunge heraus. Seine Beine waren verhältnismäßig noch gut, und wenn er wollte, sollte er einem on dit zufolge noch gehörig laufen können: aber er wollte nicht, und sein Reiter wollte erst recht nicht, und so gingen sie nur im Schritt durch dieses Leben. Und dabei waren beide glücklich und zufrieden.

„Die Startmaschine funktioniert ja vor Entsetzen gar nicht, wenn ich mit dem Gaul an dem Pfosten erscheine. Wenn ich ein anderes Pferd hätte, vielleicht — aber so?”

Aber ein anderes Pferd konnte der Doktor nicht bekommen. Bedingung war, daß die Pferde wenigstens ein halbes Jahr im Besitz der Reiter waren — wenn er also überhaupt mitritt, mußte er schon auf seinem Medizinpferd reiten.

Der Adjutant hatte sich neben den Doktor gesetzt, eine neue Flasche bestellt und trank seinem Nachbar nun Mut zu.

„Na, wie ist es denn nun, Doktor?” fragte er endlich.

„So etwas will doch in Ruhe überlegt sein,” gab der ausweichend zur Antwort. Er wußte, daß er sich blamieren würde, aber auf der anderen Seite war er doch noch so verständig, daß er merkte, wie sie anderen ihn uzten. Und das ärgerte und reizte ihn so, daß er schließlich sagte: „Na meinetwegen, ich reite mit.”

Selbst der Adjutant war in der ersten Sekunde sprachlos, darauf war er doch nicht vorbereitet gewesen. Aber schnell faßte er sich wieder und hielt seinem Nachbar die Rechte hin: „Ein Mann ein Wort?” fragte er, und als der Doktor eingeschlagen, fuhr er fort: „Bravo, das lobe ich mir. Schade, daß Sie nur um den Damenpreis mit konkurrieren können, aber für die übrigen Rennen erfüllt Ihr Pferd ja leider nicht die Bedingungen.”

Es war spät, als man endlich aufbrach, und als der Doktor am nächsten Morgen aufwachte, ging es ihm wie dem Kämmerer Spazzo, als er sich nach seinem Gesandtschaftsritt auf dem grünen Rasen wiederfand: er hatte schwer Kopfweh, und in großen Zügen leerte er die Wasserflasche, die neben seinem Bett stand, bis auf den letzten Tropfen. Als er getrunken, legte er sich nieder, um weiter zu schlafen, aber plötzlich richtete er sich in seinem Bett auf und saß starr und unbeweglich da, wie der Ritter Toggenburg. Mit großen, starren Augen und mit entstellten Zügen blickte er vor sich hin, und mit einmal sank er wie tot in die Kissen zurück: ihm war soeben eingefallen, daß er versprochen hatte, sich an dem Rennen zu beteiligen.

Fünf Minuten lang lähmte ihn der Schreck derartig, daß er nicht imstande war, sich zu rühren, dann aber sprang er mit beiden Beinen zugleich aus dem Bett und stürzte aus dem Haus hinaus, um den Regiments­adjutanten aufzusuchen.

„Der Herr Oberleutnant schläft noch,” gab ihm der Husar zur Antwort, als er sich anmelden ließ.

„So wecken Sie ihn gefälligst,” sagte der Doktor.

Aber der Husar schüttelte den Kopf: „Das habe ich einmal an einem Ruhetag gemacht, das thue ich nicht wieder, und ich rate auch dem Herrn Doktor, nicht in das Schlafzimmer zu gehen — das wäre selbst dem Herrn Oberst einmal beinahe schlecht bekommen.” Und geheimnisvoll setzte er hinzu: „In der Stube muß es nämlich immer so dunkel sein, daß der Herr Oberleutnant gar nicht erkennen kann, wer ihm gegenüber steht. Das ist nämlich, damit er hinterher auch eine Entschul­digung hat. Und den Stiefelknecht hat der Herr Leutnant immer auf einem Stuhl neben seinem Bett liegen, und der Knecht ist sogar von Gußeisen, nicht einmal von Holz.”

Die Aussicht war wenig verlockend, so zog der Doktor denn tiefbetrübt wieder von dannen, und als er nach einer Stunde wiederkam, schlief der Herr Ober immer noch, und als er nach einer zweiten Stunde wiederkam, war der Herr Ober bei dem Herrn Oberst, und als er ihn endlich zu fassen hatte, da war es zu spät.

„Ich bezahle so viel Reugelder, wie nur immer verlangt werden,” sagte der Doktor, „ich will die Hälfte meines kleinen Vermögens hingeben.”

„Geben Sie nur ruhig alles, es nützt Ihnen doch nichts,” erwiderte der Adjutant, „Sie sind angemeldet und müssen nun auch mitreiten. Was sollen die hohen Vorgesetzten, die sich sehr darauf freuen, Sie im Sattel zu sehen, denken, wenn Sie setzt plötzlich zurücktreten? Mit Recht würden die Herren glauben, daß Ihnen in der letzten Sekunde das Herz in ein gewisses Kleidungsstück, das man sich für gewöhnlich nicht ,um den Hals' zu binden pflegt, gefallen sei. Das giebt es doch nicht.”

„Ich melde mich einfach krank,” sprach der Doktor zu sich selbst, als er endlich, gebrochen an Leib und Seele, nach Haus wankte, aber dann fing er doch wieder an, sich selbst Mut zuzusprechen, und sein Bursche, der sehr stolz darauf war, daß sein Pferd sich an dem Rennen beteiligen sollte, und der einen sicheren Sieg in Aussicht stellte, redete auch tröstend auf ihn ein, und so stellte er sich pünktlich auf die angegebene Minute hoch zu Roß auf der Rennbahn ein. Dort hatte sich inzwischen ein äußerst zahlreiches Publikum eingefunden: nicht nur, daß fast sämtliche Offiziere des gesamten Armeekorps sich versammelt hatten, auch zahllose Unteroffiziere und Mannschaften waren gekommen, vor allen Dingen aber auch die Bewohner der benachbarten Stadt und der nahe gelegenen Dörfer. Auf einer allerdings sehr provisorischen Bühne befanden sich die Plätze für die Ehrengäste, für Seine Excellenz und für die Damen, und voller Ungeduld erwarteten alle den Anfang des Rennens, der sich sehr verzögerte.

Als das erste Rennen vorüber war und die Pferde, die um den Damenpreis streiten sollten, erschienen, rechnete der Doktor mit tödlicher Sicherheit darauf, daß ein schallendes Gelächter und höhnende Zurufe ihn und sein Medizinpferd begrüßen würden. Aber nichts Derartiges geschah. Zuerst war das Publikum allerdings starr, dann aber sagte es sich: wenn der schon auf dem Gaul mitreitet und wenn die Offiziere ihn schon mitreiten lassen, dann werden alle auch wissen, was sie thun. Aussehen thut der Gaul allerdings wie eine alte Kuh, aber die schönsten Pferde sind ja schon manchmal von den ältesten Ziegen geschlagen worden.

Und unberechenbar, wie das Publikum nun einmal ist, war das Medizinpferd mit einem Mal heißer Favorit. Pferdeverständige entdeckten immer neue Vorzüge an ihm, und wenn jemand dagegen Einspruch erhob, hieß es: „Laß nur gut sein, abwarten, wir werden ja sehen, wer recht behält.”

Der Doktor saß auf seinem Gaul wie Hans Huckebein, der Unglücksrabe. Ohne sich an dem Aufgalopp zu beteiligen, ließ er sich und sein Pferd von seinem Burschen, der es sich nicht nehmen ließ, Trainerdienste zu verrichten, an den Start führen. Dort wurde das Feld geordnet und bei der Erregung, die sich aller bemächtigte, bekümmerte sich mit Ausnahme des Burschen kein Mensch mehr um den Doktor. Jeder hatte genug mit sich selbst zu thun.

Und plötzlich durchfuhr den Doktor ein rettender Gedanke. „Ich hab's,” sprach er triumphierend zu sich selbst. „Ich werde hier einfach am Start halten, das kommt ja bei jedem Rennen vor, daß im letzten Augenblick einfach ein Gaul streikt, und einen Vorwurf kann mir kein Mensch daraus machen.”

Und gedacht, gethan. Als der Starter die Flagge senkte, hielt der Doktor krampfhaft seinen Gaul zurück; aber der nahm das persönlich übel, Erinnerungen aus seiner Jugendzeit wurden in ihm wach, unmutig über das Benehmen seines Reiters schüttelte er den Kopf und zum Zeichen, daß er mit seinem Gebieter absolut nicht einverstanden sei, steckte er, so lang er nur konnte, seine Zunge heraus. Und als der Bursche ihm jetzt ein paar energische Schläge versetzte, keilte der Schinder plötzlich hinten aus, stürmte dann den anderen Pferden nach, raste an den anderen vorbei und raste weiter und weiter.

Der Doktor aber saß auf dem Gaul, klammerte sich krampfhaft an dem Sattel fest, machte die Augen zu, um nichts zu sehen, und hatte nur den einen Gedanken: hoffentlich falle ich nicht herunter.

Aber er fiel doch, und zwar so energisch, daß er zu sich sagte: „So nun bist Du wenigstens tot und kannst ruhig liegen bleiben.” Aber als hilfsbereite Leute herbeieilten und ihn wieder auf die Beine brachten, konstatierte er zu seiner Verwunderung, daß er sich kein Leid gethan. Er hatte nur schwer Kopfweh, aber die hatte er am Morgen ja auch schon gehabt.

Und anstatt ihm ihre Teilnahme auszudrücken, fingen jetzt alle an, ihm zu gratulieren: „Mit zwei Pferdelängen Erster — Doktor, Sie sind ja wie der Teufel geritten — haben Sie aber ein Glück, daß Ihr Gaul erst zwanzig Meter hinter dem Ziel tot umfiel.”

Aber die Glückwünsche kamen nicht von Herzen, aus den Worten aller sprach der ärgste Neid: der Doktor hatte auf dem Medizinpferd den Damenpreis gewonnen und würde nun die schönste der Frauen zu Tisch führen. Zu sagen war es überhaupt nicht, und die Kavalleristen wagten es kaum, sich noch auf der Rennbahn sehen zu lassen.

„Wenn ich nur wüßte, wie ich das Kunststück fertig gebracht habe, Sieger zu werden?” fragte sich der Doktor immer und immer wieder, aber er fand keine Antwort auf seine Frage. Der einzige, der das Rätsel hätte lösen können, schwieg aus Furcht vor Strafe, weil er daran schuld war, daß der Gaul einen Lungenschlag bekommen hatte.

Damit sein Herr nicht herunterfiele, hatte der Bursche die Reithose und den Sattel des Doktors bis zur Bewußtlosigkeit mit Kollodium eingeschmiert — dem Medizinpferd aber, damit es ordentlich laufen sollte, während er ihm einige Schläge gab, spanischen Pfeffer unter die Rübe gestrichen.


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