Manöverhunger.

Humoreske von Graf Günther Rosenhagen/Freiherr von Schlicht,
in: „Deutscher Soldatenhort”, Band 5, 1894, S. 3 und
in: „Militaria”


Es war an dem vorletzten Tag des vergangenen Manövers. Wer selbst Soldat gewesen ist oder noch ist, der weiß, was das heißt und bedeutet: „Der vorletzte Tag.” Da wird man noch 'mal ordentlich herangenommen, da gilt es zu zeigen, was man an Entbehrungen und Strapazen zu ertragen vermag; aber man erträgt es gerne und leicht, denn jeder sagt sich: „Morgen ist man wieder daheim, bei seinen Lieben und seinem Liebchen — wer eines hat.” So denkt man, aber manchmal kommt es anders.

Wir waren schon morgens um fünf Uhr aus dem Quartier abgerückt und hatten nach einem zweistündigen Marsch den Rendezvous-Platz erreicht. Wohl eine Stunde lagen wir hier und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Endlich hieß es wieder „an die Gewehre”, unser Bataillon sollte als besondere Reserve zur Verfügung des Höchstkomman­dierenden bleiben. So rückten wir denn hin und her, bis wir hinter dem linken Flügel unseren Platz erreicht hatten. Die Gewehre wurden zusammengesetzt, die Leute legten sich bei denselben nieder und wir Offiziere suchten auf dem unendlichen Kartoffelfeld vergeblich nach einem Baum oder einem Strauch, unter dem wir uns hätten hinsetzen können; denn obgleich es noch früh am Morgen war, schien die Sonnen doch schon recht warm und alle Anzeichen(1) sprachen dafür, daß wir einen recht heißen Tag bekommen würden. So begnügten wir uns denn mit einem Platz, wo die Kartoffeln nicht zu groß und hart waren, streckten die Glieder aus, legten die Hände unter den Kopf, starrten den blauen Wolken unserer Cigarren nach und bemühten uns, an gar nichts zu denken. Aber ewig qualmen kann der Mensch auch nicht; die Augen schmerzten von dem Sonnenlicht, ich deckte mir den Helm über mein Gesicht und es dauerte keine fünf Minuten, da schlief ich ein. Wie lange ich so gelegen, weiß ich nicht, ich erwachte von der Hitze, meine Kleider waren glühend und ich verbrannte mir die Finger, als ich den Helm zur Seite setzen wollte. Ich sprang empor, reckte meine auf dem Kartoffellager steif gewordenen Glieder und sah mich um. Alles schlief und schnarchte, schwere regelmäßige Atemzüge verkündeten, daß das Bataillon für Augenblicke dieser Welt entrückt sei. Ich sah nach der Uhr, der Zeiger wies auf Zwölf, unmöglich, so lagen wir hier schon seit vier Stunden. Sollte der Tag vergehen, ohne daß wir einen Schuß abgaben? Nicht denkbar. Nun, mir sollte es recht sein, vorläufig hatte ich nur eine Sorge, meine geschwächten Kräfte wieder herzustellen, d. h. zu essen und zu trinken, denn einen Hunger hatte ich, einen Hunger, wie man ihn eben nur verspürt, wenn man acht lange Stunden nichts genossen hat. Wie sollte mir das Butterbrot und die in eine nasse Serviette gewickelte Flasche Bier schön schmecken; wie wollte ich mich erquicken, ha, es sollte eine Freude sein! Ich rief meinen Burschen: „Pe—ter—sen.” Nichts rührte sich, lautlose Stille, nur unterbrochen von den schnarchenden Tönen der Schläfer. „Pe—ter—sen.” Ich rief es lauter, fast so laut, wie ich konnte. „Sind Sie krank,” fragte mich ein aus seinen süßesten Träumen geweckter Kamerad, „leiden Sie an Größenwahn, daß Sie sich einbilden, alleiniger Herr dieses endlosen Kartoffelackers zu sein? Warum schreien Sie so?” Beschämt bat ich um Entschuldigung; er hatte recht, wie konnte ich nur so egoistisch sein, das ganze Bataillon zu alarmieren, nur um meinen allerdings gewaltig starken Hunger zu stillen. Ich wandelte durch die schlafenden Reihen, hier und da einen Helm oder ein Taschentuch von dem Gesicht hebend, suchend und forschend nach meinem getreuen Knappen. Endlich, nach fast einer halben Stunde hatte ich ihn gefunden, er lag, um mir meine Arbeit zu erleichtern, auf dem Bauch; der in dem Mantel falsch angenähte Name führte mich auf die richtige Spur. Ein sanfter Fußtritt auf eine nicht näher zu bezeichnende Körperstelle erweckte ihn aus süßem Schlummer. Als er mich erkannt hatte, sprang er in die Höhe.

„Der Herr Lieutenant befehlen?”

„Gieb mir mal mein Frühstück, Knabe.”

Mit einem nicht gerade sehr sanften Fußtritt erweckte er seinen Nebenmann: „Du Hein, mak mi mal min Kokschirr open un giww mi(2) mal dat Butterbrot rut.”

Nach langer Zeit, für mich, der ich vor Hunger und Durst ungeduldig auf und ablief, nach einer Ewigkeit, waren die Riemen gelöst, der Deckel fiel herunter, der gute und getreue Nachbar streckte seine große Hand bis auf den untersten Boden — und zog sie dann leer zurück. „Minsch, da hettst du ja gar nichts drinnen, wo hettst du dat denn?”

„Denn? Ja, denn hew ich dat vergeten.”

Mit einem Schrei der Wuth war ich heran und fuhr den Sünder an: „Petersen, Mensch, wie ist so etwas nur möglich?”

Wie ein begossener Pudel stand der Arme vor mir, eine glühende Röte stieg in sein offenes, ehrliches Gesicht, ich sah ihm an, wie unangenehm ihm selbst seine Vergeßlichkeit war. So ließ ich ihn wieder los; meine Wuth schaffte mir das vergessene Frühstück doch nicht herbei. Knurrenden Magens suchte ich mein verlassenes Kartoffellager wieder auf, und während ich, um meinen Hunger zu stillen, eine Cigarre rauchte, dachte ich darüber nach, ob es wohl etwas Schlimmeres auf der ganzen weiten Welt gäbe als zu hungern und nichts zu essen zu haben.

Der Ruf des Bataillonskommandeurs: „An die Gewehre” machte meinen Gedanken ein jähes Ende. Wie der Blitz sprangen die Leute in die Höhe und eine Sekunde später stand jeder an seinem Platz. „Gewehr in die Hand. Die Herren Offiziere.” Aha, nun ging's los. Wir eilten zu dem Kommandeur. Unsere Schützenlinien gingen zum letzten Angriff vor und wir sollten hinter dem linken Flügel als Reserve folgen. Gleich darauf kamen die Kommandos: „Marschiert auf — Marsch, marsch. Das Gewehr über. Bataillon Marsch. Tambour schlagen.” und im strammsten Trittt, tambour battant rückten wir vor. Ich denke, die Welt soll untergehen, soweit das Auge reicht, nichts wie „Kantüffeln, ümmer frische Kantüffeln” und über diese endlose Fläche marschierten wir im Frontmarsch. Nun waren wir heran: „Zum Chargieren — Halt.”  „Die berittenen Herren Offizierer.” Laut kam das Kommando über die Kartoffelebene und pflanzte sich mit Blitzeseile fort. Ich ließ die Compagnie Gewehr abnehmen und rühren, da kamen die Berittenen auch schon wieder zurück: „Der Angriff ist abgeschlagen und soll noch mal gemacht werden.”  „Ei verflucht,” denke ich, „wie wird das werden!” Aber der Mensch kann alles, wenn er will. So gingen wir denn geschlossen auf unseren alten Platz zurück, machten dort Front und sahen uns für einen Augenblick die Stätte an, auf der wir so sorglos, nichts Böses ahnend, gelegen hatten. Unwillkürlich mußte ich an das alte schöne Lied denken: „Seh ich dich wieder, du mein Land Tirol.” Aber nur eine Sekunde hatten wir Zeit, uns der Freude des Wiedersehens hinzugeben, dann ging es wieder vorwärts. Diesmal gelang der Angriff, der Feind zog sich zurück und wir verfolgten ihn mit Feuer. Wieder kam das Signal: „Halt. Die berittenen Herren Offiziere.” Wo ein jeder von uns stand, legte er sich hin. Ich sah nach der Uhr, es war Drei, seit zehn Stunden waren wir unterwegs, seit zehn Stunden hatte ich nichts gegessen und getrunken, wenn wir nicht bald ins Bivouac kamen, dann — ja was dann? Dann mußten wir Halt noch a Bisseln warten. Aber nein, nun kam der Befehl zum Abrücken. Die Gewehre wurden umgehängt, wir formierten Marschkolonne und gingen über Sturzacker auf die Chaussee, um nun bald unseren Bivouacsplatz zu erreichen. Unterwegs kam mein Hauptmann zu mir geritten.

„Günther(3), Mensch, ich kann mich doch darauf verlassen, daß Ihre Futterkiste auch richtig angekommen ist? Ich habe einen Bärenhunger.”

„Na und ich erst,” dachte ich.

„Was machen wir nur, wenn Ihre Sachen noch nicht da sind?”

„Darüber brauchen der Herr Hauptmann sich gar keine Sorge zu machen, ich habe gestern alles selbst bestellt, der Fourier ist genau instruiert und holt heute Morgen alles ab. Wir brauchen die Sachen nur aufzuwärmen.”

Und es war so, wie ich gesagt hatte. Nach einer Stunde, etwa um vier Uhr, hatten wir unseren Bivouacplatz erreicht, die Wagen waren da und der Fourier trat mir mit einem großen Korb entgegen, der unser Mittagessen enthielt: „Hühnersuppe mit Huhn, für jeden von uns zwei große Beefsteaks, frische Eier, Kartoffelsalat,” ach, es war ein Anblick, der auch den bösesten Sünder gerührt hätte, mir wurde so weich um das Herz, eine einsame Thräne stieg mir in die Augen, unwillkürlich faltete ich die Hände und leise sprachen meine Lippen: „O meines Herzens Königin, du Köchin im ,roten Ochsen', die du dies alles bereitet — ich liebe dich.” Schon auf dem Marsch hatte ich mit unserem Leibkoch alles besprochen — in seinem Civilleben war er Photograph, aber als Soldat leistete er besonders in dem Braten von Beefsteaks „mit recht viel Zwiebeln mang” Hervorragendes — die beiden Burschen und einige andere Leute besaßen durch die vielen Bivouacs, die wir in diesem Jahr hinter uns hatten, die nötige Übung und es dauerte nur wenige Minuten, da war das Zelt aufgeschlagen, das Kochloch gegraben, das Feuer brannte und die Kochgeschirre hingen über der prasselnden Flamme.

Mit ganz besonderer Liebe und Sorgfalt deckte ich heute den Tisch; giebt es etwas Schöneres für einen Hungernden als Gläser und Teller zurechtzustellen für ein lecker bereitetes Mahl? Nun war alles bereit, ich wandte mich an unseren Koch: „Nun, wie lange dauert es noch?”

„Fünf Minuten, Herr Lieutenant, dann ist alles fertig.”

Ich öffnete die Weinkiste und nahm eine schöne, gelbgekapselte Rothe(4) heraus — da kam der Adjutant des Bataillons auf mich zu, das geöffnete Notizbuch in der Rechten: „Regimentsbefehl. Das dritte Bataillon schickt sofort eine Feldwache unter dem jüngsten Lieutenant aus.” Mir schwankten die Kniee, der jüngste Lieutenant war ja ich(5), aber nein, so grausam konnte das Schicksal nicht sein. Ich wandte mich an den Kameraden: „Nicht wahr, Sie scherzen?”

„Ein Adjutant scherzt nie, Sie müssen sofort abrücken.”

„Aber ich habe seit heute Morgen um fünf Unhr nichts gegessen.”

„Ja, lieber Freund, sind Sie denn nur Soldat geworden, um zu essen und zu trinken? Nun man vorwärts, in einer Viertelstunde kommt der Major zu Ihnen.”

Ich ging meinem Hauptmann die Trauermär zu verkünden, dann näherte ich mich meinen Leuten, die bei den Kochgräben beschäftigt waren: „Der erste Zug —”

Erstaunt horchten alle auf, neugierig, was ich ihnen zu verkünden hätte: „An die Gewehre.”

Die schönen Konserven rollten in den Sand und die Mannschaften eilten an ihre Plätze: „Kinder, das nützt nichts. Wir müssen auf Feldwache. Umhängen. Gewehr in die Hand. Das Gewehr über! Ohne Tritt marsch.” Nun zogen wir nach unserem Bestimmungsort. Ich sah mich nach einem geeigneten Platz für die Feldwache um und fand denselben in einer Thaleinsenkung. Ich stellte die Posten aus, instruierte, besah mir die Karte und das Gelände und kam dann zu der Feldwache zurück. Ich legte mich ins Gras, zündete mir eine Cigarre an und während ich den blauen Wolken nachschaute, dachte ich darüber nach, ob es wohl etwas Schlimmeres auf der Welt gäbe, als zu hungern, das schönste Essen zu besitzen und keine Zeit zu haben, es zu verzehren.

Die Ankunft des Majors machte meinen Gedanken ein jähes Ende, wir gingen die Postenlinie zusammen ab, d. h. er ritt und ich ging, und ärgerten uns über einige feindliche Kavallerie­patrouillen, die in nächster Nähe ganz ungeniert bei uns herumritten und sich selbst durch einige Schüsse nicht vertreiben ließen. Dann traf ich die Vorbereitungen für die Nacht, die Mäntel wurden angezogen und die wichtige Frage aufgestellt, ob wir die Zelte aufschlagen wollten oder nicht. „Jungens, mir ist es ja ganz einerlei, ich möchte nur wissen, was ihr wollt.” — „Keine Zelte,” rief man von allen Seiten, „das Wetter ist so schön und morgen früh im Dunkeln ist es so schwer, die Heringe und Stöcke wiederzufinden.”

„Gut,” sagte ich, „denn nicht, hoffentlich giebt's keinen Regen.”

„Ih, wo wird's denn regen?[sic! D.Hrsgb.]” war die erstaunte Antwort.

Ich wickelte mich in meinen Mantel und in eine Decke, die mir von der Compagnie geschickt war — über mein schönes Essen hatten sich die Kameraden hergemacht — und ich that das Klügste, was ich nach meiner Meinung thun konnte, ich schlief ein. Nach zwei Stunden weckte mich der Unteroffizier, die Posten wurden abgelöst, dann lag ich noch einen Augenblick mit offenen Augen, freute mich über den schönen Sternenhimmel und versuchte zu meiner eigenen Erbauung das Lied an den Abendstern zu pfeifen. Aber ich kam nicht weit, die Müdigkeit ließ mich jäh verstummen. Plötzlich weckte mich ein eigentümliches Gefühl an meiner Nasenspitze, schlaftrunken faßte ich hin und fühlte etwas Nasses, sollte ein Vogel etwa — unmöglich! Nun wieder etwas Nasses, das war doch sonderbar und allmählich begann es in meinem Gehirn zu dämmern und allmählich begann ich das Ungkück zu begreifen: „Es regnete!” Erst langsam und bedächtig, dann stärker, immer stärker, als wenn die Sintfluth(6) über uns hereingebrochen wäre, bald stand das Wasser um uns herum, wir konnten uns in dem Schmutz und Schlamm nicht rühren und hatten „des schönen Wetters” wegen nicht einmal die Zelte aufgeschlagen. Die Nacht vergesse ich mein Lebtag nicht. Kein Baum, nichts, unter dem wir hätten Schutz finden können, nur die blanke, ebene Erde. So ging das eine Stunde nach der anderen, bald hatten wir keinen trockenen Faden mehr am Leib und alles Hoffen und alles Wünschen war umsonst. Morgens um vier Uhr sollte ich mich wieder bei der Compagnie melden, nie aber ist mir eine kurze Nacht so lang geworden, wie diese. Im Stockfinstern trat ich, ohne vom Feind im geringsten belästigt zu sein, den Rückmarsch an, es war so finster, daß man nicht die Hand vor Augen sehen konnte. Wie sollte ich nur den Lagerplatz wieder finden? Aber da — bekannte Laute schlugen an mein Ohr und der jedem Soldaten aus jedem Bivouac wohlbekannte Ruf: „Hein, hest du min Kookschirrdeckel nich sehn,” wies mir den richtigen Weg. Gleich nach meinem Eintreffen setzte sich das Bataillon wieder in Marsch, das Gefecht begann sehr früh und zog sich nach dem kleinen Städtchen L., wo wir noch an demselben Mittag eingeschifft werden sollten. Gegen zwölf Uhr wurde „Das ganze Halt” geblasen, der Regen hatte nicht eine Minute nachgelassen, wir versuchten möglichst schnell L. zu erreichen, denn wir hofften uns dort umziehen zu können und Essen sollte, einem Gerücht zufolge, sowohl für die Mannschaften, wie für uns Offiziere bereit stehen. Im tiefen Wasser, auf schlammigen Wegen, zogen wir dahin, die Glieder müde und zerschlagen. Kein Mensch wußte, wie lange wir noch zu gehen hätten. Da kam uns ein Bauer entgegen, der mußte doch Bescheid wissen.

„Vadder, seg mol, wo wit is dat noch bit nah L.?”

„Oh, noch ne gaude Piep lang.” Nun war ich noch genau so klug wie vorher, rauchten die Leute hier im Lande große oder kleine Köpfe, rauchten sie schnell oder langsam?

„Vadder, wo lang schmökst du denn an dien Piep?”

„Ick, ick smök öberhaup nich, ick kau man blot.”

Möchte dir der Priem im Halse stecken bleiben, dachte ich, wozu hältst du mich hier erst auf; aber dort kam ein junger Bursche, der würde mir sicher Auskunft geben.

„Min Söhn, seg mal, smökst du?”

„Neeee.”

„Wat dheist du denn, kaust du?”

„Neeee.”

„Wat dheist du denn?”

„Ick häud de Käuh.”

„Wo lang brukt man noch von hier nah L.?”

„Mit oder ohne Käuh?”

„Ohne, Jung.”

„Dat weet ick nich, alleen bin ick de Weg noch nich gahn.”

„Un wo lang duert dat mit de Käuh?”

„Ja Herr, dat kümmt ganz darup an, woveel Käuh ick bi mi heww.”

Wüthend lief ich davon, ich mußte einen Dauerlauf machen, um die Compagnie wieder einzuholen und sah, auf der Anhöhe angekommen, die Kirchtürme von L. vor mir. Nach einer halben Stunde hatten wir die kleine Wiese in der Nähe des Bahnhofes erreicht. In die Stadt hinein durfte keiner, denn der kleine Ort war schon mit Truppen überfüllt — so wurde es wieder nichts , weder mit dem Umziehen, noch mit dem Essen, statt dessen durften wir noch einige Stunden im strömendsten Regen auf das Signal zum Einsteigen warten.

„Unsinn,” sagten die Freunde, die uns bei der Kaserne in Empfang nahmen, zu mir, „was wollen Sie sich erst umkleiden? Dazu haben Sie gar keine Zeit, das Essen im Hotel ist fertig, der Sekt steht auf Eis, kommen Sie nur.”

Und ich ging mit den anderen Kameraden zu dem hell erleuchteten Restaurant. Nie wieder habe ich eine so schön gedeckte Tafel und so herrliche Speisen gesehen. Begierig streckte ich die Hände aus, aber der erste Bissen blieb mir im Halse stecken, ich versuchte ihn mit einem Glase Sekt herunterzugießen, aber wie von der Tarantel gestochen, fuhr ich in die Höh'. Und während ich fünf Minuten später in einer alten Droschke nach Hause fuhr, hatte ich vollauf Zeit darüber nachzudenken, ob es wohl auf der ganzen weiten Welt etwas Schlimmeres gäbe, als wahnsinnigen Hunger und Durst zu verspüren, die schönsten Getränke und Speisen vor sich zu sehen, Zeit im Überfluß zu haben, immer zum Zulangen genötigt zu werden und doch nichts genießen zu können, weil man eine wunderschöne Mandelentzündung hat.


Fußnote:

(1) In der Fassung von „Militaria” heißt es hier: „Anzeigen”. (Zurück)

(2) In der Fassung von „Militaria” fehlt hier das Wort „mi”. (Zurück)

(3) Vielleicht ein Hinweis auf das Pseudonym „Graf Günther Rosenhagen”, unter dem Baudissin im Jahre 1894 diese Erzählung im „Deutschen Soldatenhort” veröffentlichte. (Zurück)

(4) In der Fassung von „Militaria” heißt es hier: „Röte”. (Zurück)

(5) 1890/91 stand Baudissin als jüngster Lieutenant des 3.Bataillons in der 10. Kompagnie. (Zurück)

(6) In der Fassung von „Militaria” heißt es hier: „Sündflut”. (Zurück)


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