Der Lügenmajor.

Humoreske von Freiherrn v. Schlicht.

in: „Kölnische Zeitung” vom 13.April 1902,
in: „General-Anzeiger für Hamburg-Altona” vom 8.5.1902,
in: „Der Lügenmajor”
und in: Meiers Hose”.


Der neue Major hatte die Führung des in der kleinen Stadt selbständig garnisonirenden Infanterie-Bataillons übernommen. Herr von Oster war von vollständig anderer Art als sein Vorgänger. Der alte Major war mehr als stramm gewesen, hatte mit seinen Officieren, zur Wahrung der Autorität, nur wenig verkehrt und vor allen Dingen nie mehr gesprochen als unbedingt nötig war; dieses Wenige aber kurz, klar und bestimmt. Major von Oster dagegen drückte im Dienst zuweilen ein Auge zu, suchte, als Junggeselle, den Verkehr mit seinen Officieren und redete dann wie verschiedene Bücher. Bei den Zusammenkünften im Casino, in der Kneipe oder, wenn er, wie es häufig geschah, Gäste bei sich sah, führte er, wie ihm als dem Aeltesten das ja auch zukam, das große Wort. Er erzählte dann nicht nur, sondern er log dann auch — er log, daß die ältesten Oberförster Waisenknaben im Vergleich mit ihm waren, und so führte er im Officiercorps sehr bald den Beinamen „der Lügenmajor”. Natürlich erfuhr er das, aber er nahm es durchaus nicht übel, wenngleich er behauptete, diesen Namen nicht zu verdienen.

Wenn der Herr Major sich nur darauf beschränkt hätte, erdichtete Kriegs- und Jagderlebnisse zum Besten zu geben und bei allen Schilderungen wahnsinnig zu übertreiben, so hätte das weiter ja keine bösen Folgen gehabt. Bald aber machte es sich auch im Dienst bemerkbar, daß man sich auf das, was er sagte, nicht unbedingt verlassen konnte. Er teilte einem Officier mit, er wolle sich am nächsten Vormittag seine Instruction anhören, und erschien nicht; er stellte für einen bestimmten Tag einen Alarm in Aussicht und alarmirte dann nicht; er that das dann aber nicht etwa aus Faulheit, sondern lediglich, weil es ihm ein großes Vergnügen bereitete, seine Offciere anzuführen, zu sehen, wie seine Officiere auf das, was er ihnen im Scherz androhte, hineinfielen. Einmal hatte er die Herren seines Bataillons zu einem Bierabend ins Casino geladen. Meine Herren! sagte er, trinken Sie aber nicht zu viel, denn heute Nacht alarmire ich! Natürlich glaubte ihm das kein Mensch, es wurde brav drauf los gezecht; aber mit einem Mal schien es, als wenn alle einen Starrkrampf bekommen hätten: unbeweglich, mit dem Bierglas in der Hand, saßen sie da, denn draußen ertönte wirklich das Alarmsignal. Eine lange Nachtübung bildete den Beschluß des Bierabends.

Es herrschten bald arge Zustände, und daß es nicht ewig so weitergehen könne, sahen alle ein, nur nicht der Herr Major; der lebte sorglos in den Tag hinein, um so mehr, als er sehr reich war, am Dienst nicht mehr allzu viel Vergnügen fand und sich mit dem Gedanken trug, über kurz oder lang seinen Abschied einzureichen. Natürlich drang der Ruf des Herrn Majors bald über die engen Grenzen seiner kleinen Garnison hinaus, und „der Lügenmajor” war nach kurzer Zeit im ganzen Armeecorps unter allen Officieren eine bekannte Persönlichkeit.

Da geschah es, daß Se. Excellenz der Herr Divisons­commandeur die ihm unterstellten Truppen zu einer großen Gefechtsübung mobil machte; an einem bestimmten Tage genau zur befohlenen Zeit trafen die Truppen aus den verschiedensten Garnisonen teils zu Fuß, teils mit der Eisenbahn auf dem bezeichneten Platze ein. Mit den Herren seines Stabes hielt der Herr Divisons­commandeur hoch zu Roß auf einer Anhöhe, und um ihn herum hatten sich die sämtlichen Officiere der Division versammelt.

Meine Herren! begann Se. Excellenz, nachdem alle zur Stelle gemeldet waren, ich gebe zunächst meiner Freude Ausdruck, Sie alle so wohl und munter vor mir zu sehen; und nunmehr, meine Herren, fuhr Excellenz nach einer kleinen Pause mit erhobener Stimme fort, nunmehr, meine Herren, gebe ich die General- und Specialidee für die heutige Gefechtsübung aus. Die Karten heraus, meine Herren!

Und aufmerksam lauschten alle der Schilderung der allgemeinen und der besonderen Kreigslage.

Meine Herren, Sie dürften jetzt über alles unterrichtet sein. Für die in dem Befehl aber vorgesehenen Zwischenfälle möchte ich mir noch ein Bataillon Infanterie zurückbehalten, um dieses später nach meinem Ermessen in das Gefecht eingreifen lassen zu können. Und zwar bestimme ich hierfür das Bataillon von Oster; ich wähle absichtlich dieses Bataillon, weil ich noch keine Gelegenheit gehabt habe, die Leistungen des neu zu uns versetzten Herrn kennen zu lernen. Und nun, meine Herren, es ist jetzt zehn Minuten vor Neun. genau neun Uhr bitte ich antreten zu lassen, Herr General.

Mit dem Glockenschlag neun Uhr setzte sich die Division gegen den durch Flaggen markirten bösen Feind in Bewegung; zuerst die Cavallerie, dann die aus Infanterie und Artillerie bestehende Avantgarde und schließlich in einem weiten Abstand das Gros.

Sie, Herr Major von Oster, bleiben hier und erwarten weitere Befehle, rief Excellenz noch einmal, dann ritt auch er davon.

Mit freudestrahlendem Gesicht sah der Herr Major die ganze Division verschwinden. Herrschaften, haben wir ein Glück, sagte er zu seinen Officieren, die sich neben ihm auf die Erde gelagert hatten. Ich möchte nur wissen, warum man uns überhaupt hat hierher kommen lassen. Was Specialaufträge bedeuten, wissen wir ja alle, da macht man an einer Stelle, an der das Gefecht stockt, einen energischen Vorstoß mit Marsch, Marsch, Hurrah und fertig ist die Laube. Der ganze Zimmt dauert, wenn wir erst an Ort und Stelle sind, höchstens zehn Minuten und deshalb haben wir nun die schönen häuslichen Penaten verlassen müssen. Na, das ist ja nicht meine Sache, die Hauptsache ist, daß die Kerls nachher ordentlich Hurrah rufen. Was das Wort wirkt, weiß ich aus dem letzten Feldzug. Ich war mit der Compagnie, die ich damals als blutjunger Leutnant führte, zur Bagage abcommandirt gewesen und sollte mich nun wieder an mein Regiment heranschlängeln. Da schlängele sich aber mal einer so im Feindesland, das ist leichter gesagt, als gethan. Na, ich schlängle also los, besonders wohl war mir nicht zu Mut, denn ich war noch sehr jung und trug doch schließlich die Verantwortung für die zweihundert Mann, die unter meinem Befehl standen. Das Schlimmste aber war, daß wir gar keine Patronen hatten, nicht eine einzige.

Aber Herr Major, wagte einer der Herren einzuwenden.

Doch der Major ließ sich nicht beirren. Nicht eine Patrone, sage ich Ihnen, meine Herren, das war ja gerade das Schlimme. So kam denn auch, was kommen mußte: plötzlich sehe ich, wie eine Schwadron, natürlich eine feindliche, sich anschickt, uns zu attackiren. Ich ließ Carré formiren und das Seitengewehr aufpflanzen, denn daran, daß wir einfach umgeritten werden würden, zweifelte ich nicht einen Augenblick. Wenn schon, denn schon, Kinder, sagte ich, denn laßt uns wenigstens mit einem Hurrah sterben. Meine Herren, ein solches Hurrah habe ich nie gehört, das linke Trommelfell ist mir geplatzt, die Kerls brüllten wie wild und was war die Folge? Die Escadron mochte glauben, daß wir zum Angriff übergehen wollten, die Reiter bekamen es mit der Angst, die Pferde wurden unruhig und brachen aus. Und was soll ich Ihnen noch viel sagen, meine Herren: daß ich heute hier gesund unter Ihnen sitze, verdanke ich lediglich dem Hurrah! Also halten Sie darauf, meine Herren, daß die Kerls nachher den Schnabel aufmachen. Denn darum wird es sich, wie gesagt, auch dieses Mal handeln.

Aber während der Vorgesetzte immer Recht behält, ist dies bei den Untergebenen nicht immer der Fall. Diese alte Weisheit mußte auch der Herr Major von neuem erfahren. Nach einigen Stunden kam ein Adjutant Seiner Excellenz und als der Herr Major seinen Auftrag in Empfang genommen hatte, sah er ein, daß es dieses Mal mit dem Hurrah allein doch nicht gethan war: er sollte zur Umfassung des linken Flügels vorgehen, dort eine Stellung einnehmen, von der aus er den Rückzug des Gegners abschneiden könne und die über den Abach führende Brücke, gleich nachdem er sie passirt haben würde, für den Feind, natürlich nur markirt, zerstören.

Gleich darauf trat das Bataillon an. Der Herr Major war angesichts des schwierigen Auftrags ziemlich erregt und ritt bald neben diesem, bald neben jenem Hauptmann, um zu hören, wie die die Sachlage beurteilten, und bei seinem ewigen Herumreiten hörte er, wie ein Leutnant zu dem andern sagte: Der Major lügt weiß Gott denn doch zu toll, sein Zug durch Feindesland ohne Patronen, die Abwehr der feindliche Cavallerie lediglich durch Hurrahgebrüll, na, mir solls recht sein, ich begreife nur nicht, wie der Major annehmen kann, daß ihm auf der ganzen weiten Welt auch nur ein einziger Mensch nur ein einziges Wort glaubt.

Der Kamerad stimmte ihm bei und mit sehr gemischten Gefühlen vernahm der Herr Major das weitere Gespräch der beiden. Am liebsten wäre er ihnen grob geworden, aber das ging nicht so ohne weiteres, erstens weil sie mit dem, was sie sagten, nicht so ganz unrecht hatten, dann aber auch, weil er den Verdacht nicht aufkommen lassen durfte, etwa gelauscht zu haben. So that er das Klügste, was er thun konnte, er ritt weiter, als hätte er nichts gehört, aber er dachte doch über die Worte der beiden jungen Leutnants nach und er kam zu der Selbsterkenntnis, daß er es mit den Lügen etwas arg getrieben habe, ein Wunder wäre es wirklich nicht, wenn ihm kein Mensch mehr etwas glaubte.

Herr Major, gleich sind wir an der Brücke. Der Adjutant, der vorausgeritten war, um sich im Gelände zu orientiren, kam zurück, um seinem „Brotherrn” zu benachrichtigen, und nun setzte auch dieser sein edles Roß in Trab. Er ritt weit nach vorn und als die Spitze des Bataillons die Brücke erreichte, hielt dort Se. Excellenz der Divisions­commandeur. Sehr angenehm war das dem Herrn Major nun grade nicht, aber das ließ sich nun leider einmal nicht ändern. Das Vorgehen des Bataillons und das Passiren des Défilés schien den Beifall des hohen Herrn zu finden — wenigstens äußerte er zu seiner Begleitung kein Wort, und das ist zwar nicht immer, aber doch in den meisten Fällen ein gutes Zeichen.

Jetzt hatte der letzte Mann die Brücke überschritten und der Herr Major schickte sich grade an, wieder an die Tête des Bataillons zu reiten, als Excellenz ihn zu sich heranrief.

Herr Major, Sie scheinen einen Teil Ihres Auftrages ganz vergessen zu haben. Sie sollen diese Brücke, natürlich nur markirt, zerstören, damit der Gegner sie bei seinem Rückzug oder wenn er ausweichen will, nicht benutzen kann.

Verzeihung, Excellenz, das hätte ich allerdings beinahe vergessen, ich wollte es aber sofort nachholen, und mit Stentorstimme rief er nach seinem Adjutanten, der aber kam nicht.

Was wollen Sie denn von dem? erkundigte sich der Divisions­commandeur.

Leutnant von Bothen soll auf einen Zettel schreiben: „Diese Brücke ist zerstört und nicht zu benutzen!”, und dann diesen Zettel an sichtbarer Stelle an dem Brückengeländer befestigen, damit der Gegner nachher nicht die Ausrede hat, von der Zerstörung der Brücke nichts gewußt zu haben.

Sehr einverstanden, lobte Se. Excellenz. Sie erreichen so den Zweck mit den einfachsten Mitteln. Ganz Ihrer Ansicht. Aber ich sehe nicht ein, wozu Sie da Ihren Adjutanten berufen, eine Meldekarte und eine Bleifeder werden Sie doch wohl selbst bei sich haben?

Zu Befehl, Eure Excellenz, das schon.

Na also, Herr Major, warum schreiben Sie die wenigen Worte denn nicht selbst?

Der Herr Major senkte den Blick etwas verlegen zu Boden, in der Erinnerung an die Unterhaltung seiner beiden Leutnants. Herr Gott, was sage ich nur? dahcte er, ich kann doch Excellenz nicht verraten, daß kein Mensch glauben wird, was ich auf den Zettel schreibe.

Herr, schreiben Sie gefälligst! befahl Se. Excellenz in scharfem Ton.

Da durchfuhr den Major plötzlich ein rettender Gedanke. Mit jugendlicher Elasticität schwang er sich aus dem Sattel, schrieb einige Worte auf die Meldekarte und ritt dann Sr. Excellenz nach.

Eine halbe Stunde später traf der markirte Feind bei der Brücke ein. Weithin sichtbar leuchtete am Brückengeländer die mit einem Bindfaden befestigte Meldekarte mit der Aufschrift: „Auf besondern Befehl Sr. Excellenz ist diese Brücke nicht zerstört. von Oster, Major und Bataillons­commandeur.” Darunter aber hatte der Herr Major mit zioemlich verstellter Handschrift geschrieben: „Oster, ich kenne dich, auf den Leim falle ich nicht hinein. von X., Officiers-Patrouille.” Und der Officier, der jetzt mit einem Teil des markirten Feindes an der Brücke stand, schrieb seinerseits auf die Karte: „Ich auch nicht!” und er zog davon, um einen andern Uebergang zu finden.

Bei der Kritik aber erntete der Herr Major das größte Lob, weil es ihm gelungen sei, auf die denkbar einfachste Weise dem Gegner klar zu machen, daß die Brücke zerstört sei.


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