Lu.

Von Freiherr von Schlicht
in: „Unverstandene Frauen”


Frau Lu, auf den Namen Charlotte getauft, aber nie anders als Lu genannt, sitzt in ihrem Salon und sinnt und träüumt. Mein Gott, sind es heute denn schon wirklich zehn Jahre, daß sie verheiratet ist? Wie im Rausch ist ihr die Zeit vergangen, wie in einem einzigen Liebesrausch. Ist sie jetzt wirklich schon achtundzwanzig Jahr und nicht mehr wie damals, als sie ihren Karl heiratete, erst achtzehn? Aber wenn sie auch schon den Dreißig entgegengeht, sie fühlt sich noch genau so jung wie früher, ihre Leidenschaften sprechen noch ebenso laut, ja vielleicht sogar noch viel lauter, als an jenem Tage, da sie als gänzlich unerfahrenes junges Mädchen an den Altar trat. Das heißt, so ganz unerfahren war sie denn doch nicht, sie war über „alles” aufgeklärt, und was die Freundinnen nicht wußten, das hatte ihr Vetter Ernst verraten. Er war ja eigentlich immer furchtbar frech zu ihr gewesen und ganz umsonst hatte er ihr die gewünschten Aufklärungen auch nicht gegeben. Sie mußte sich dann immer auf seinen Schoß setzen, dann hatte er sie geküßt und manchmal war er wirklich zu frech gewesen, zu unverschämt frech. Aber ernstlich böse wurde sie ihm doch nie, wenn sie ihm auch manchmal auf die Finger schlug. Die Gefühle, die er in ihr zu wecken verstand, waren so süß, so unbeschreiblich süß, und schließlich taten sie beide doch auch nichts Böses. Nein, ganz gewiß nicht, sonst wäre sie ja auch wirklich aufgeklärt gewesen, als sie in die Ehe trat. Da aber hat sie es doch erst erfahren, wie süß die Liebe ist, und seitdem sie das weiß, will sie es immer von neuem wissen. Ihre Natur verlangt danach, ihre heiße, leidenschaftliche Natur, deren Glut sie manchmal zu verzehren droht.

Nur ein wahres Glück, daß Karl ebenso denkt wie sie, daß seine Leidenschaften ebenso stark sind, wie die ihrigen. Und wie ihre Freundinnen sie um einen Mann wie Karl beneiden, wenn sie denen in stillen, verschwiegenen Stunden erzählt, wie ihr Karl sie liebt — die armen Freundinnen, die fast alle darunter leiden, daß das Liebesleben ihrer Ehe mehr oder weniger aufgehört hat.

Nein, ihr Karl liebt sie heute noch genau so wie früher, und wie sie ihn erst liebt! Sie hat es einmal irgendwo gelesen: „Zweierlei tötet die Liebe, die Gewohnheit und der Vergleich.” Mag das Wort auch sonst wahr sein, auf ihre Ehe trifft es nicht zu. Die Gewohnheit hat bei ihnen die heißen Flammen nicht zu löschen vermocht, und wenn sie ihren Karl auch noch so oft mit anderen Männern verglich, keiner erschien ihr schöner und begehrenswerter, ebenso wie auch er niemals nach einer anderen Frau verlangt hat, als nur nach ihr. Sie verstehen sich heute noch so gut wie an dem ersten Tag, an dem sie sich kennen lernten. Als sie sich zum erstenmal gegenüberstanden, als einer dem anderen in die Augen sah, da haben sie es gleich gewußt: „Wir beide passen zueinander, unsere Naturen sind die gleichen, unsere Gedanken sind dieselben, für uns gibt es auf der Welt nur das eine.”

Das haben sie sich später gestanden und das Leben hat ihnen bewiesen, daß sie sich einander nicht täuschten, sie siind wirklich füreinander geschaffen.

Frau Lu streicht sich mit der schlanken schmalen Hand über die schöne Stirn. Ist sie heute wirklich schon zehn Jahre verheiratet? Sie kann es kaum glauben und in der Erinnerung ist ihr die Zeit wie eine einzige lange Liebesnacht. Was ihr die Jahre sonst noch brachten, sie weiß es kaum, was ist auch alles andere im Vergleich zu dem höchsten Glück, das nur die Liebe gewähren kann? Die Liebe? Nein, der Sinnesrausch.

Und plötzlich denkt sie darüber nach, ob sie ihren Mann auch jemals mit dem Herzen geliebt hat, ob sie ihn auch heute noch mit dem Herzen liebt?

Wie kommt sie nur auf den Gedanken, noch dazu heute, wo ihre Sinne lauter sprechen, als sonst? Es ist doch ihr Hochzeitstag und eine neue Hochzeitsnacht steht ihnen bevor. Sie ist so wild, und auch ihr Karl soll wild werden, wenn sie ihn erst in ihren Armen hält, wenn ihre zarten Hände ihn liebkosen, wenn er ihre flammenden Küsse fuhlt.

Ob sie ihn wohl auch mit dem Herzen liebt?

Dumme Frage, natürlich liebt sie ihn von ganzem Herzen, ja, aber hat sie denn eigentlich ein Herz?

Sie verscheucht die törichten Gedanken, natürlich hat sie ein Herz, das hat doch jeder Mensch, und plötzlich fühlt sie es ganz laut und deutlich schlagen, denn sie hat gehört, daß es draußen an der Etagentür klingelt. Ob das Karl ist? Ob er schon auf dem Bureau fertig ist oder ob er sich nur früher frei gemacht hat, um zu ihr eilen zu können?

Nein, es war nur der Postbote, und das Mädchen tritt in das Zimmer und bringt ihr einen Brief. Karl ist noch nicht da, sie muß weiter auf ihn warten, aber er muß nun jeden Augenblick kommen, es ist ja schon nach sieben.

Sie hat den Brief rasch durchgelesen, dann sinnt sie weiter. Warum ist sie nicht so reich, daß ihr Mann seinen Beruf an den Nagel hängen und nur ihr leben kann? Als Assessor hat er jetzt fast den ganzen Tag auf der Regierug zu tun. Warum ist sie nicht so reich, wenigstens nicht so reich, wie sie es sich oft wünscht? Gewiß, ihr Vermögen erlaubt es ihr, sich elegant zu kleiden, ein- oder zweimal im Jahre mit ihrem Mann eine hübsche Reise zu machen, sie brauchen sich auch sonst in keiner Weise einzuschränken, aber sie können auf sein Gehalt, das mit den Jahren wächst, doch nicht verzichten. Ach, und sie hätte ihren Karl doch so gerne den ganzen Tag um sich, sie hat ihn doch so lieb, so über alles lieb.

Wo er nur bleibt? Ob das Mädchen wohl schon den Abendbrottisch gedeckt hat? Sie will ihn überraschen, so hat sie ein kleines Souper zusammengestellt, Austern und Kaviar, dann klare Suppe, Forellen, französische Hühner, hinterher Eis und dazu natürlich Champagner. Den ganzen Abend wollen sie Champagner trinken, der regt an, der prickelt in allen Gliedern, und wenn sie Champagner trinkt, dann wirbelt es ihr im Kopf. Nein, gewiß nicht, sie trinkt nie zu viel, aber es ist ihr dann doch stets, als wäre sie benebelt. Ein Sinnesrausch kommt dann über sie, und heute soll der kommen, toller als je, und dann will sie so glücklich sein, daß sie aufschreien muß vor lauter Glückseligkeit.

Sie hat sich von ihrem Platz erhoben und ist in das Eßzimmer gegangen. Der Tisch ist schon gedeckt und so hübsch, als erwarteten sie heute Gäste. Hier und da rückt sie noch einen Meißner Teller, ein schönes englisches Glas zurecht, ordnet die Blumen, die lose über das schwere Damasttuch gestreut sind, etwas anders, dann geht sie wieder in ihr Zimmer zurück, aber unterwegs bleibt sie vor dem Spiegel stehen.

Ist sie wirklich schon bald dreißig? Kein Mensch würde es ihr glauben, sie sieht aus wie ein junges Mädchen von ein- oder zweiundzwanzig Jahren, und auch in ihrer Erscheinung hat sie so gar nichts Frauenhaftes, so gar nichts „schon so lange Verheiratetes”. Sie ist etwas mehr als mittelgroß und schlank, sie hat eine Figur, wie man sie so oft auf den Bildern der Modejournale sieht und denen man im Leben doch so selten begegnet. Sie ist vollendet gewachsen, ihre Bewegungen sind voller Anmut und auch ihr Gesicht hat noch etwas völlig Mädchenhaftes. Der Teint ist zart und rosig, der Mund ist schön geschnitten, wenn er auch zuweilen einen stark sinnlichen Zug verrät, ihre Zähne sind blendend weiß, und ihre Augen — oft weiß sie selbst nicht, ob die wirklich nur hellgrau sind, denn sie schillern zuweilen in allen Farben, je nachdem die Leidenschaft über sie kommt. Aber schön und verführerisch ist der Ausdruck dieser Augen, mit den dichten langen Wimpern und den ganz dichten tiefschwarzen Augenbrauen, die im schärfsten Gegensatz zu dem hellblonden Haupthaar stehen. Sie hat sich für ihren Karl geschmückt, als ginge sie auf eine Gesellschaft, sie trägt ein hellgraues Crêpe de chine-Kleid, und in den Goldschuhen blickt das zarte Rot ihrer schlanken, schmalen Füße aus hellgrauen seidendurchbrochenen Strümpfen hervor.

Sie ist schön und begehrenswert, und sie weiß, er wird sie hute nacht begehren. Drei Tage lang hat sie seine Umarmungen entbehrt, drei Tage und drei lange Nächte. Er ist überarbeitet und nervös, da muß er sich etwas schonen, und mit seinen fünfunddreißig Jahren ist er ja auch kein junger Mensch mehr. Aber heute nacht wollen sie genießen, da wollen sie einander angehören, bis sie im Himmel sind.

Endlich kommt Karl zurück, mit einem großen Blumenstrauß in der Hand, und wenn er sie auch voller Leidenschaft küßt, wenn er sich auch bemüht, so fröhlich und heiter zu sein wie sonst, sie merkt es ihm doch an, wie abgespannt er ist.

Und das gerade heute — heute an ihrem Hochzeitstag.

Besorgt blickt sie ihn an, und er beeilt sich, sie zu beruhigen: „Ängstige dich nicht, Lu, es ist nichts, absolut nichts. Aber diese verfluchten Akten, die müssen einen ja verrückt machen. Kein Mensch anhnt, was auf der Regierung für Blödsinn zusammengeschmiert wird. Und denkt man, die eine Sache ist nun glücklich erledigt, da kommt der Herr Präsident oder gar der Herr Oberpräsident, der kraft seines Amtes die Weisheit natürlich mit Löffeln gefressen hat, und alles, was man mühselig ausgearbeitet hat, ist dann natürlich Kohl. Da kann man wieder von vorne anfangen. Halbtot habe ich mich heute nachmittag geärgert,” und in ingrimmiger Wut ballte er die Fäuste.

Sie leht ihren Kopf an seine Brust, und so groß sie auch selbst ist, sie muß doch jetzt noch zu ihm hinaufblicken, denn er ist ein auffallend großer, aber zugleich auch ein auffallend hübscher Mensch.

Frau Lu erhebt ihre Hände und streichelt seine Wangen, dann bittet sie: „Aber nicht wahr, Karl, jetzt ärgerst du dich nicht mehr, jetzt bist du doch wieder bei mir, und du weißt doch, welchen Tag wir heute zusammen feiern.”

Sie schmiegt ihre schlanken, geschmeidigen Glieder an seinen Körper, sie dreht und windet sich in süßer Verzückung, dann schlingt sie plötzlich die Arme um seinen Hals: „Ach du!”

Ihre Lippen finden sich in einem langen heißen Kuß, und als sie sich dann endlich aus der Umarmung frei machen, sagt er: „Du hast recht, Lu, ich habe mich für heute mehr als genug geärgert, jetzt wollen wir vergnügt sein. Warte nur einen Augenblick, ich will mich rasch umziehen, denn wenn du dich für mich so geschmückt hast, muß ich mir zur Feier des Tages doch wenigstens den Smoking anziehen. In fünf Minuten bin ich wieder da, und hoffentlich können wir dann auch bald essen, ich habe einen Mordshunger.”

Aber wenn er auch vergnügt sein will, so gelingt es ihm doch nicht, als sie wenig später bei Tisch sitzen, aber er ist gerührt von ihrer Aufmerksamkeit, ihm ein solches Souper vorzusetzen, er küßt ihr voller Dankbarkeit die Hand und den schönen Mund. Ach, und er ist ja auch sonst so lieb. Als wäre sie nicht seine Frau, mit der er schon lange verheiratet ist, sondern als wäre sie seine Geliebte, liebkost er unter dem Tisch ihre Füße, er tauscht einen verstohlenen Händedruck mit ihr, wenn das Mädchen im Zimmer ist, um zu servieren, seine Augen sehen sie so zärtlich und verlangend an, wie sonst, aber sie merkt es ihm trotz allem an, seine Gedanken sind immer noch bei dem Ärger und Verdruß, den er erlebte, und nur zu bald beginnt er von neuem mit ihr darüber zu sprechen.

Bis dann doch endlich der Champagner seine schlechte Laune verscheucht.

Und wie sie es sich gewünscht hat, trinken sie den ganzen Abend Champagner, auch dann noch, als sie vom Tisch aufgestanden und in sein hübsches Herrenzimmer gegangen sind. Er läßt sich in einen Klubsessel nieder, und während er seine Zigarre raucht, sitzt sie ihm in einem zweiten Ledersessel gegenüber, die Zigarette zwischen den Lippen, und ihre Sessel stehen so dicht beieinander, daß ihre Hände und ihre Füße sich fortwährend berühren.

Zwischen ihnen auf einem kleinen Tisch steht der Champagner, von dem sie von Zeit zu Zeit einen Schluck trinken, und auch heute geht er prickelnd durch ihre Glieder, macht sie toll und übermütig.

Er weiß, sie liebt es, daß sie nicht gar zu sehr die ehrbare Frau spielt, wenn sie mit ihm alleine ist. Vielleicht daß er sie nur deshalb noch so rasend liebt, weil sie es verstanden hat, fortwährend seine Geliebte zu bleiben. Nie kommt ein unanständiges Wort über ihre Lippen, vor Zoten und zweideutigen Geschichten haben sie beide denselben Widerwillen, und nie erzählt er ihr einen Witz, den sich das keuscheste junge Mädchen nicht mitanhören könnte. Aber er liebt es, wenn sie sich manchmal etwas gehen läßt, und plötzlich schlägt sie die Knie übereinander und hebt wie zufällig ihre Röcke so hoch, daß er ihre schlanken Beine und das blendend weiße Knie sehen kann.

Wie seine tiefschwarzen Augen funkeln, wie die Gier in ihm erwacht.

Da springt er auch schon auf, läßt sich vor ihr niederfallen und küßt sie auf das Knie, während seine Hände ihre schlanken, schmalen Füße streicheln.

Ein Wonneschauer durchströmt sie, sie schließt die Augen und leise knirscht sie mit den Zähnen.

Dann aber springt er wieder auf, geht zu dem Tisch und stürzt schnell ein paar Gläser Sekt herunter. Das kühlt und löscht die heiße Glut, wenn auch nur vorübergehend und für kurze Zeit.

Und der Abend vergeht mit Liebkosungen und mit der ewigen Frage: „Weißt du noch damals, heute vor zehn Jahren?”

Sie sprechen von der Hochzeit und von den vielen Telegrammen, die sie erhielten: „Und weißt du noch das eine, Lu — nur ein wahres Glück, daß Dorndorf, der die Glückwunsch-Depeschen vorlas, es gleich merkte und uns das Blatt hinüberreichte. Weißt du noch, wie der Text lautete? ,Für Sie bestimmtes großes Zimmer mit zwei Betten leider nicht rechtzeitig frei geworden, habe Ihnen großes Zimmer mit breitem zweischläfrigem Bett reserviert.' Weißt du es noch, Lu?”

Ob sie es noch weiß? Für einen Augenblick ist sie damals verlegen geworden, als er ihr das Telegramm reichte, aber auch nur für eine kurze Minute, dann hat die Vorstellung, die ganze lange Nacht mit ihm in ein und demselben Bett schlafen zu sollen, ihre Phantasie erhitzt. Ihre Hand hat die seine gepreßt, ganz dicht hat sie ihr Knie an das seine herangeschoben, ihre Füße haben sich zu heimlichem Liebesspiel gefunden — sie hat es kaum abwarten können, bis das Diner zu Ende war, bis sie endlich mit ihm auf die Hochzeitsreise gehen konnte.

Ob sie das noch weiß? Als wäre es gestern gewesen, so deutlich erinnert sie sich aller Einzelheiten, und wenn es nach ihr ginge, schliefen sie auch jetzt ständig in einem großen zweischläfrigen Bett, wie es in England und Frankreich bei arm und reich, bei hoch und niedrig allgemein üblich ist. Aber der Arzt hat es nicht erlaubt. Ganz zufällig ist in seiner Gegenwart das Gespräch einmal darauf gekommen, und da hat er sogar erklärt, es wäre besser für sie beide, wenn sie getrennte Schlafzimmer hätten, denn dieses Liebesleben, wie sie es führten, müßte sie auf die Dauer kaputt machen, das hielte kein Mensch aus.

Nur ein wahres Glück, daß Karl ihn ebenso ausgelacht hat, wie sie selbst, und wenn Karl sich damals auch nicht ganz wohl fühlte, ohne an einer bestimmten Krankheit zu leiden, er hat sich schon längst wieder erholt und ist genau so frisch und stark wie früher. Nur die dummen Nerven machen ihm manchmal zu schaffen, aber das ist bei dem vielen Bureaudienst ja auch weiter kein Wunder. Und heute hat er sich nun auch noch so ärgern müssen. Da wird sie nachher doppelt lieb zu ihm sein, alles, was sie an Zärtlichkeiten zu vergeben hat, wird sie ihm schenken. Ach, sie hat ihn doch so über alles lieb.

Der Abend vergeht, dann kommt die Nacht, eine wilde, tolle Liebesnacht. Ihr beiden jungen kräftigen Körper dehnen und strecken sich in wollüstiger Umarmung, sie können nicht genug bekommen, immer von neuem entfachen sie einander die Glut.

Und dann plötzlich ein Aufschrei aus seinem Mund, und mit beiden Händen fühlt sie sich zurückgestoßen, daß sie auf den Boden fällt.

Gott sei Dank, der weiche Teppich hat ein Unglück verhütet, sie hat sich nichts getan, schnell springt sie in die Höhe und starrt voller Entsetzen auf ihren Mann.

Der liegt totenblaß in den Kissen, die beiden Hände auf die Stirn gepreßt und ächzt und stöhnt fortwährend: „Mein Kopf, mein Kof!”

Und auf alles, was sie ihn fragt, hat er immer nur die eine Antwort: „Mein Kopf mein Kopf.”

Die Angst, die Todesangst, daß er sterben wird, überfällt sie. Händeringend und verzweifelt steht sie da, bis sie dann plötzlich forteilt, um die Mädchen zu wecken. Gewiß, auch die können ihr nicht helfen, aber sie kann nicht allein sein, vielleicht auch, daß die Mädchen doch irgendeinen Rat wissen. Sie klopft völlig kopflos an die Tür des Mädchenzimmers: „Bertha, Marie — Sie müssen sofort aufstehen, um Gottes willen, der gnädige Herr —”

Ohne zu sprechen, eilt sie wieder zu ihrem Mann. Der liegt immer noch starr und regungslos da, die Hände an die Schläfen gepreßt: „Mein Kopf mein Kopf.”

Endlich klopfen die Mädchen an und Frau Lu stürzt ihnen entgegen: „Der gnädige Herr ist ganz plötzlich krank geworden, was machen wir nur?”

„Haben gnädige Frau schon nach dem Arzt telephoniert?” fragt die eine.

Der Arzt! An den hat sie in ihrer völligen Ratlosigkeit noch gar nicht gedacht. Nur ein wahres Glück, daß sie in der Großstadt lebt, daß sie den noch in der Nacht, jeden Augenblick sofort telephonisch herbeirufen kann. Sie eilt an den Apparat und endlich hört sie die Stimme des Hausarztes: „Wer ist denn da?”

Sie nennt ihren Namen und fährt dann fort: „Seien Sie nicht böse, Herr Doktor, daß ich Sie aus dem Bett heraushole, aber mein Mann ist erkrankt, ganz plötzlich, und ich weiß nicht, was er hat. Wie tot liegt er da und stöhnt fortwährend: ,Mein Kopf, mein Kopf.' Sie müssen gleich zu uns herauskommen, Sie müssen, lieber Herr Doktor, ich flehe Sie an . Nehmen Sie sich sofort einen Wagen und kommen Sie.”

Sie hört, wie er etwas von „unerhörtem Leichtsinn” vor sich hinmurmelt, dann sagt er: „Schön, ich komme, in einer halben Stunde bin ich bei Ihnen.”

In einer halben Stunde — wie langsam die Zeit vergeht. Eins der Mädchen hat sich warm angezogen und ist hinuntergegangen, um gleich die Haustür aufschließen zu können, wenn sie den Wagen vorfahren hört. Und Frau Lu geht händeringend im Schlafzimmer auf und ab. Sie hat ihrem Mann kalte Umschläge machen wollen, aber sobald er nur das Tuch auf dem Kopf fühlte, hat er aufgeschrien, als wäre auch dieses leichte Gewicht ihm zu schwer, und sofort hat er es wieder abgerissen.

Sie weiß nicht, was sie machen soll, um seine Schmerzen zu lindern — wenn nur der Arzt erst da wäre.

In einer halben Stunde hat er da sein wollen, jetzt wartet sie schon eine Stunde — da, endlich, endlich!

Sie stürzt ihm entgegen und umklammert voll tödlichster Angst seine Hände: „Herr Doktor, helfen Sie mir — mein Mann, mein armer Mann — er muß wieder gesund werden, hören Sie, er muß.”

„Was ärztliche Kunst zu leisten vermag, gnädige Frau, soll geschehen,” beruhigt er sie, dann geht er mit ihr in das Schlafzimmer.

Sein erster Blick, der auf das verwühlte Bett fällt, das sie wieder zu ordnen in der Aufregung vergessen hat, verrät ihm, welche Liebesszenen sich hier abgespielt haben, und so wirft er ihr, bevor er den Puls ihres Mannes befühlt, einen vorwurfsvollen Blick zu, der sie ganz verlegen macht und der sie veranlaßt, sich sofort zu verteidigen: „Sie tun mir Unrecht, Herr Doktor, ganz gewiß — mein Gott, wir sind doch beide noch jung und dazu ist heute noch unser Hochzeitstag, nein, Sie tun mir wirklich Unrecht, Herr Doktor, denn gerade heute hat mein Mann in seinem Bureau so entsetzlich viel Ärger und Verdruß gehabt.”

„Gerade deshalb hätte er sich heute doppelt schonen müssen, gnädige Frau, und wenn er es nicht von selbst tat, hätten Sie ihn zur Vernunft ermahnen, hätten sich im schlimmsten Falle seinen Zärtlichkeiten entziehen müssen.”

Sie glaubt nicht recht gehört zu haben. Sie soll Karl zurückweisen, wenn er sie begehrt, das soll sie tun, deren Sinne ebenso leidenschaftlich sind wie die seinen, und wenn er als Mann sich nicht beherrschen kann, dann soll sie als Frau für sie beide vernünftig sein?

Völlig verständnislos sieht sie den Arzt an, aber der achtet nicht mehr auf sie. Er hat den Pulsschlag festgestellt und betastet nun ganz leise und vorsichtig den Kopf des Kranken, bis der plötzlich einen lauten Schrei ausstößt und sich vor Schmerzen hin und her wälzt.

Der Arzt macht ein zufriedenes Gesicht. Er hat den Sitz der Schmerzen gefunden und weiß, daß keine Lebensgefahr droht. So sagt er denn jetzt: „Sie brauchen nichts zu fürchten, gnädige Frau, Ihr Mann wird wieder gesund werden. In seinem, durch das Liebesleben überreizten Gehirn ist eine kleine Blutpartikel gesprungen und es hat ein kleiner Bluterguß in das Gehirn stattgefunden. Es hätte viel, viel schlimmer werden können, danken Sie Gott, daß es nichts anderes ist, und vor allen Dingen, gnädige Frau, lassen Sie sich das eine Warnung für die Zukunft sein. Sie wissen, ich habe Sie beide schon einmal ermahnt, vernünftig zu sein, damals haben Sie mich ausgelacht, und doch, wie recht ich hatte, beweist der heutige Tag.”

Während des Sprechens hatte er seine Brieftasche hervorgezogen und beginnt nun, die Rezepte zu schreiben.

„Und wie lange wird es dauern, bis mein Mann wieder ganz gesund ist?” fragte Frau Lu da plötzlich mit etwas stockender Stimme, denn die Worte des Arztes sind ihr doch zu Herzen gegangen.

„Das vermag ich bei dem besten Willen noch nicht zu sagen, gnädige Frau,” gibt er zur Antwort, „aber drei bis vier Wochen werden auf jeden Fall vergehen, bis die Schmerzen ganz verschwunden sind, und auch dann bedarf Ihr Mann wenigstens noch einer Ruhe von vierzehn Tagen, ehe er seiner Berufstätigkeit wieder nachgehen kann. Und während dieser ganzen Zeit muß ihm jede Aufregung ferngehalten werden. Sie verstehen mich, gnädige Frau, Sie wissen, was ich damit meine. Die geringste Aufregung hätte das Zerspringen eines neuen Blutpartikels zur Folge und dann stehe ich für nichts ein. Eine Gefahr für das Leben bestände allerdings auch dann nicht, aber es wäre möglich, daß der Verstand Ihres Mannes sich verwirrt, daß er dann nicht mehr klar zu denken vermag, und das müssen wir doch unter allen Umständen vermeiden, nicht wahr, gnädige Frau?”

Er hat ganz leise zu ihr gesprochen, so daß, ihr Mann seine Worte nicht verstehen kann, aber der hätte auch eine lautere Stimme nicht gehört. Regungslos und völlig apathisch liegt er da, nur sein Stöhnen und Jammern verrät, daß er noch lebt.

Frau Lu hat die Hände vor das Gesicht geschlagen und weint leise vor sich hin. Ihr Karl, ihr armer Karl!

Der Arzt sucht sie zu trösten und geht dann mit ihr in das Nebenzimmer, um ihr dort für die Pflege des Kranken weitere Verhaltungs­maßregeln zu geben, dann sagt er: „Ich halte es doch für besser, wenn ich gleich morgen früh eine Krankenschwester schicke, die auch des Nachts bei Ihrem Manne ist, wenigstens in den ersten Tagen. Selbstverständlich dürfen Sie jetzt nicht mit ihm in demselben Zimmer schlafen, damit muß es überhaupt ein für allemal vorbei sein. Ich will natürlich nicht sagen, daß das Liebesleben für Sie beide nun ganz aufhören soll, aber es ist da die allergrößte Vorsicht am Platz und mehr als allerhöchstens zwei- oder dreimal im Monat dürfen Sie sich ihm nicht nähern. Sie verstehen mich auch da, gnädige Frau, was ich meine? So, gnädige Frau, und nun kann Ihr Mädchen gleich mit mir zur Stadt fahren, ich setze sie bei der Apotheke ab und sobald sie zurück ist, geben Sie Ihrem Mann sofort diese Pulver nach Vorschrift. Morgen früh sehe ich mich wieder nach ihm um und wenn Sie bei Ihrem Mann wachen wollen, bis morgen die Schwester kommt, wäre es sehr gut, schon damit er auch pünktlich alle zwei Stunden seine Pulver erhält. Es wird ihm auch ein beruhigendes Gefühl sein, sich nicht allein in dem Zimmer zu wissen.”

Wenig später beginnt sie mit der Nachtwache. Sie hat sich aus dem Zimmer ihres Mannes einen großen bequemen Lehnstuhl an das Fußende seines Bettes herangerollt. Es ist derselbe Sessel, in dem sie vorhin ihrem Manne gegenüber saß, in dem sie übermütig ein Bein über das andere schlug und den Rock hochhob, um ihrem Mann zu zeigen, wie schön sie gewachsen ist, um durch den Anblick, den sie ihm bot, seine Sinne zu reizen.

Vorhin und jetzt!

Mit welcher wilden Leidenschaft hat er sie an sich gerissen, seine Küsse haben sie zu ersticken gedroht und wie regungslos liegt er nun da.

Ihr Karl, ihr armer Karl!

Aber sie hat gewiß keine Schuld daran, sie ganz gewiß nicht. Sie versteht den Doktor gar nicht, wie konnte der sie nur so vorwurfsvoll ansehen? Sie sind doch verheiratet, sie sind Mann und Frau, und wenn sie da dem Naturtrieb folgen, dem vielleicht auch häufiger folgen, als andere Eheleute, die Naturen sind nun doch einmal verschieden. Und so groß ist das Unrecht doch auch nicht, sie sind beide kräftig und gesund, nein, ihr Karl ist ja auch gar nicht infolge der gegenseitigen Umarmung erkrankt, lediglich der Ärger und der Verdruß, den er am Nachmittag hatte, ist schuld daran, einzig und allein der.

Das will sie dem Doktor morgen früh auch sagen und sie wird ihn schon davon zu überzeugen wissen, daß sie recht hat. Der wird dann auch seine Ansichten über ihr weiteres Zusammenleben ändern. Wenn es sein muß, und sie sieht selbst ein, daß es nötig ist, dann will sie ihrem Karl sechs Wochen lang jede Aufregung fernhalten, aber wenn er dann wieder gesund ist, da muß er sie wieder in seine Arme nehmen, wenn auch vielleicht nicht ganz so oft wie früher, aber nur so selten, wie der Arzt es sagt? Das halten sie ja beide nicht aus, sie sind so jung und so voller Leidenschaft und haben einander doch so lieb. Genau so lieb wie damals, als sie sich heute vor zehn Jahren heirateten.

Sie denkt von neuem zurück an die Hochzeit und an ihre Hochzeitsnacht.

Und wie hatte sie sich auf die heutige Nacht gefreut, immer von neuem wollte sie ihm beweisen, wie lieb sie ihn hat, und nun?

Wieder weint sie still vor sich hin: Ihr Karl, ihr armer Karl!

Bis sich dann zu dem Mitleid, das sie mit ihm empfindet, das Mitleid mit ihrer eigenen Person gesellt.

Sie tut sich so gräßlich leid, sie hat mit sich selbst das entsetzlichste Mitleid.

Und ist sie nicht auch viel mehr zu beklagen, als er? Karl ist krank, er wird ihre Liebkosungen nicht entbehren, sich nicht nach ihren Umarmungen sehnen, aber sie ist doch gesund. Sie hat unter seiner Erkrankung doch viel mehr zu leiden als er selbst. Wenn nur erst die sechs langen Wochen vorüber wären.

Wie endlos lange die dauern werden! Schon diese Nacht scheint kein Ende nehmen zu wollen.

Der Eintritt des Mädchens, das aus der Apotheke zurückkehrt, läßt sie ihre Gedanken unterbrechen. Sie gibt ihrem Mann das Pulver, reicht ihm einen Schluck Wasser und setzt sich dann wieder in ihren Sessel. Der Arzt hat es ihr auch verboten, mit ihrem Mann zu sprechen, das Pulver wird ihn einschläfern, und als er bald darauf anfängt, ruhiger und regelmäßiger zu atmen, als sein Stöhnen und Klagen leiser wird, da schließt auch sie die Augen. Vielleicht, daß auch sie einen Augenblick schlummern kann, sie wird schon zur rechten Zeit wieder wach werden, um ihm das Pulver geben zu können.

Sie schläft auch wirklich ein und sie träumt. Sie träumt von ihrer Hochzeitsnacht. Alle Liebkosungen und Zärtlichkeiten erlebt sie noch einmal. Sie liegt in seinen Armen, sie fühlt seine flammenden Küsse, sie umspannen und umklammern sich gegenseitig mit ihren Gliedern und dann ein Aufschrei aus ihrem Munde, ein Schrei des Schmerzes und des Entzückens, ein Laut der Wollust und des höchsten und seligsten Glückes — er hat sie zu seiner Frau, zu seiner Geliebten gemacht, sie gehört ihm ganz an. Ihr Körper preßt sich fest an den seinen, in seliger Umarmung halten sie einander umschlungen — sie sind im Himmel. In seinen Armen schläft sie endlich ein, und als sie nun plötzlich die Augen aufschlägt, muß sie sich erst darauf besinnen, wo sie ist. Ganz verwundert blickt sie um sich — ja, war das alles denn eben nur ein Traum? Weiter nichts, als ein süßer wonniger Traum?

Erst als sie ihren Mann so still und regungslos daliegen sieht, wird ihr alles wieder klar, erst da besinnt sie sich wieder auf sich selbst.

Aber ihr Körper zuckt und bebt, der Traum hat ihre Sinne entflammt, sie vermag ihre Leidenschaft kaum noch zu beherrschen, und doch muß sie es, nicht nur heute, sondern noch sechs lange Wochen.

Wird sie das können? „Ich muß, ich muß.” Ganz mechanisch spricht sie die Worte fortwährend halblaut vor sich hin, bis die Müdigkeit sie dann übermannt und bis sie von neuem einschläft.

Am frühen Morgen löst die Krankenschwester sie ab und sie selbst legt sich in einem zweiten Schlafzimmer nieder, um sich auszuruhen. Vorher aber gibt sie noch den Auftrag, sie sofort zu wecken, sobald der Arzt kommt. Und als der dann erscheint, sagt sie ihm immer von neuem: „Glauben Sie mir, Herr Doktor, das kommt alles nur von seiner Überarbeitung in seinem Beruf, er hat sich gestern zu sehr ärgern müssen, glauben Sie mir, es ist nur das.”

Aber wenn auch voller Mitleid mit der schönen jungen Frau, die ihm da gegenübersitzt und ihn flehenden Auges anschaut, schüttelt er dennoch ernst und bestimmt den Kopf: „Sie irren sich, gnädige Frau. Alles, was Sie mir da erzählen, mag mit dazu beigetragen haben, die Erkrankung herbeizuführen, es hat den Ausbruch beschleunigt, aber die wahre Ursache liegt ganz wo anders. Und früher oder später wäre es doch so gekommen, auch dann, wenn Ihr Mann keinen Verdruß gehabt hätte, selbst dann, wenn er so reich wäre, um keine Berufstätigkeit ausüben zu müssen. Ja, dann wäre das Unglück vielleicht schon längst da, denn dann hätten Sie beide sich gegenseitig noch viel mehr aufgerieben, als Sie es ohnehin schon taten, und es ist mir beinahe unerklärlich, daß Ihr Mann dieses Leben so lange ausgehalten hat. Er muß eine eiserne Konstitution haben, er wird ja auch wieder ganz gesund werden, aber wenn er es ist, dann muß ich darauf bestehen, daß meine Ratschläge befolgt werden. Tun Sie beide das nicht, nehmen Sie das alte Leben wieder auf, dann stehe ich für nichts ein und müßte auf die Ehre verzichten, weiter Ihr Hausarzt zu sein, da muß ich Sie beide Ihrem Schicksal überlassen.”

Er spricht so bestimmt und energisch, daß die Angst sie von neuem überfällt, und abermals beginnt sie zu weinen.

Er versucht sie zu trösten, so gut er es vermag, bis er dann endlich sagt: „Sie haben doch Ihren Mann lieb, gnädige Frau. Die Liebe ist selbstlos, die denkt gar nicht an sich, sondern immer nur an den anderen . Und Sie lieben Ihren Mann doch nicht nur mit den Sinnen, sondern in der Hauptsache doch mit Ihrem Herzen?”

„Gewiß, gewiß, ich liebe ihn mehr als mein Leben,” stimmte sie ihm bei.

„Na also,” gibt er zur Antwort, „da wird sich das Weitere mit der Zeit schon finden, und vor allen Dingen wird es Ihnen dann auch gar nicht schwer werden, sich in das neue Leben zu fügen.”

Sie wagt nicht, ihm zu wiedersprechen, aber als sie dann wieder alleine ist, denkt sie abermals darüber nach, ob sie ein Herz hat? Liebt sie ihren Karl eigentlich von ganzem Herzen, liebt sie ihn wirklich mehr als ihr eigenes Leben, und warum liebt sie ihn eigentlich, warum hat sie sich damals gerade in ihn verliebt? Weil ihre Sinne nach ihm verlangten, weil sie auf den ersten Blick sah, wie er sie begehrte, weil ihre Leidenschaften heiß aufloderten, wenn sie ihn sah, wenn sie nur an ihn dachte.

Aber natürlich liebt sie ihn auch von ganzem Herzen, und wenn er heute nacht gestorben wäre — sie schreit plötzlich laut auf, nein, sie würde seinen Tod nie überleben, sie hat ihn doch über alles lieb.

Wenn er nur erst wieder gesund wäre, damit sie ihm beweisen kann, wie lieb sie ihn hat.

Aber das darf sie dann ja gar nicht. Sie wird ihn nicht einmal mehr küssen dürfen wie früher, nicht einmal mehr seine Hände streicheln, sie darf ihm nicht einmal mehr zeigen, wie schön sie gewachsen ist, ihre Füße und ihre schlanken Glieder muß sie vor ihm verstecken, nur damit der Anblick nicht den Wunsch nach ihrem Besitz in ihm erweckt, und wenn das dann doch geschieht, dann muß sie ihn zurückweisen, dann muß sie in ihr Zimmer fliehen und sich vor ihm einschließen, weil sie nicht die Schuld daran tragen darf, daß er von neuem schwerkrank wird.

Aber trotzdem, wenn nur erst diese sechs Wochen vorüber wären. Sie glaubt, die Zeit wird nie vergehen, und doch ist eines Tages die Frist verstrichen.

Ihr Mann hat sich wieder zum Dienst gemeldet und der Arzt hat recht, er muß wirklich eine eiserne Konstitution haben, so völlig hat er den schweren Anfall überwunden.

Gewiß, auch jetzt hat der Arzt ihm noch die äußerste Schonung befohlen, aber trotzdem hofft Frau Lu von Tag zu Tag, daß er sie in seine Arme nimmt. Jede Nacht liegt sie erwartungsvoll in ihrem Bett, sie horcht auf jedes Geräusch, fortwährend glaubt sie seine Schritte zu hören: „Er kommt, er kommt, er muß doch auch einmal kommen!” Aber immer wieder hat sie sich getäuscht. Er läßt sie allein — ja, weiß er denn gar nicht, wie sie sich nach ihm sehnt, wie sie seine Liebe entbehrt?

Bis sie es dann eines Tages nicht mehr erträgt, bis sie ihm dann eines Abends bei dem Gutenachtsagen zuruft: „Karl, ich werde verrückt, wenn du mich auch heute nicht liebkost. Jetzt sind es acht Wochen, daß ich nach dir hungere, und ich fühle es, ich werde wahnsinnig, wenn du auch heute nicht zu mir kommst.”

Er lacht laut auf, wenn auch etwas gekünstelt und gezwungen. „So leicht wird man nicht verrückt, Lu.”

Mit heißen, begehrlichen Augen sieht sie ihn an: „Andere vielleicht nicht, aber ich.” Und sich plötzlich an seine Brust werfend, ihre beiden Arme um ihn schlingend, küßt sie ihn voller Glut: „Ach du.” Und von neuem bittet sie: „Komm, ich kann nicht mehr ohne dich leben, nicht wahr, du wirst heute kommen?”

Und wenn auch zögernd und beklommen, sagt er ja.

Da küßt sie ihn noch einmal so heiß sie nur kann, dann aber eilt sie davon, um sich zu entkleiden, um den Geliebten zu erwarten, denn das soll er ihr heute endlich einmal wieder sein.

Schon eine Viertelstunde später ist sie bereit, ihn zu empfangen. Es war eine warme Sommersnacht, sie hat die Decken zurückgeschoben, ein langes zartes, reich mit Spitzen besetztes Batisthemdchen verhüllt ihre Gestalt, nur ihre zarten Füße gucken unter dem langen Hemd wie neugierig in die Welt. Sie weiß, daß ihre Füße hübsch sind, sie weiß, daß sie auch sonst schön und verführerisch gewachsen ist, das hat ihr Vetter Ernst schon damals gesagt, als sie als junges Mädchen auf seinem Schoß saß und sich von ihm küssen ließ. Und wie oft hat ihr Karl es ihr nicht erklärt und nach langer Pause wird er es ihr heute wieder sagen.

Um sich an der eigenen Schönheit zu berauschen, zieht sie das lange Nachtgewand bis an die Knie in die Höhe und der große Spiegel da drüben wirft ihr Bild zurück: „Wie dünn ihre Fesseln sind, wie schlank der Ansatz ihrer Beine, wie schlank und doch wie schön geformt die Waden sind, wie tadellos geformt das ganze Bein ist!”

Da hört sie Tritte und rasch läßt sie das Nachthemd wieder herunterfallen.

Gleich darauf tritt ihr Mann bei ihr ein. Er trägt den Nachtanzug, aber in seinem Gesicht sieht sie einen Ausdruck, der sie erschrecken läßt. So ruhig und so gleichgültig sieht kein Liebhaber aus, der in die Arme der Geliebten eilt.

Und anstatt sie gleich in seine Arme zu nehmen, setzt er sich zu ihr auf das Bett. Er streichelt ihr Gesicht und ihre Hände, jetzt auch ihre nackten Füße, dann sitzt er aber wieder ganz ruhig neben ihr, ihre Hände in den seinen haltend.

Und wieder sieht er sie an, so ganz eigentümlich, so ganz anders als sonst. Wo ist das feurige Aufblitzen in seinen Augen geblieben, das er ihr sonst zeigte, wenn er sie so vor sich sah

Mit einemmal errät sie alles. Aber nein, das kann und darf nicht wahr sein. So schlingt sie denn plötzlich ihre Arme um ihn, zieht ihn zu sich hinab, küßt ihn voller Glut, damit ihre Leidenschaft auch die seine entflamme, sie flüstert ihm zärtliche, sinnbetörende Liebesworte ins Ohr, sie verspricht ihm den Himmel auf Erden und sie berauscht sich selbst an dem, was sie da sagt. Ihre Phantasie spiegelt ihr die Freuden vor, die sie erwarten, ihr Körper biegt und windet sich hin und her, bis sie dann plötzlich bittet: „Komm, komm.”

Mit einer raschen Bewegung hat sie das Nachthemd heruntergezogen. So zart und dünn es auch ist, es drückte sie wie eine schwere Last. In ihrer ganzen nackten Schönheit liegt sie da und breitet sehnsüchtig die Arme nach ihm aus.

Aber anstatt sie wie in früheren Tagen mit einem Aufschrei der Wollust an sich zu reißen, bittet er nur: „Laß uns vernünftig sein, Lu, es geht nun doch einmal nicht anders.”

Ihr ist, als stürze sie aus allen Himmeln. So hat sie also vorhin doch recht gehabt mit ihrer Vermutung, aber trotzdem kann sie es auch jetzt noch nicht glauben. Starr und regungslos sieht sie ihn an und als sie dann endlich sprechen will, kommen ihr gar keine Worte über die Lippen, es sind nur unartikulierte Laute, die sie von sich gibt.

Er sieht, wie sie leidet, er weiß ja, wie sie ihn liebt. Und er selbst hat sie doch auch über alles lieb, aber trotzdem, es muß sein, und so sagt er denn jetzt: „Höre mich einen Augenblick ruhig an, kleine Lu, aber vorher — komm, ziehe dir das Nachthemd wieder an und decke dich warm zu.”

Er ist ihr behilflich, sich wieder anzukleiden, er breitet die dünne seidene Decke über sie und dann beginnt er noch einmal: „Höre mich einen Augenblick ruhig an, kleine Lu.” Und dann schildert er ihr die Veränderung, die in ihm vorgegangen ist: „Ich weiß es selbst nicht, Lu, ist es die Erinnerung an die wahnsinnigen Schmerzen, die ich wochenlang ertragen mußte, sind es die Ermahnungen des Arztes, die ich auch heute noch beständig zu hören glaube, ist es die Furcht vor einer neuen schweren Erkrankung, ist es der Gedanke daran, daß ich später einmal in geistige Umnachtung falle, wenn sich die Geschichte wiederholt — ich weiß es nicht. Aber ich bin wie umgewandelt. Während früher die Sehnsucht nach dir wie ein zehrendes Feuer in mir brannte, wie ich die Tage nur verlebte, um den Abend in deinen Armen genießen zu können, wie ich keinen anderen Gedanken hatte, als nur dich — alles das ist mit einemmal verflogen und erstorben. Glaubst du, ich hätte in all den langen Nächten, die wir jetzt getrennt voneinander verbringen, nicht an dich gedacht? Aber so sehr ich mich auch gezwungen habe, die alten Wünsche nach deinem Besitz wieder in mir wach werden zu lassen, es ist mir nicht gelungen. Ich wußte, daß du auf mich wartetest, und doch konnte ich nicht zu dir kommen. Ich habe mit dem Arzt darüber gesprochen und der erklärt das für eine ganz natürliche Folge des übertriebenen Liebes­genusses, dem wir uns hingegeben haben. Er hat mich auf das ernsteste ermahnt, die Natur nicht zu zwingen, wenn sie mir freiwillig nicht mehr gehorcht. Und deshalb, kleine Lu, müssen wir verständig sein, ob wir wollen oder nicht. Glaube nicht, daß es Mangel aus Liebe zu dir ist. Im Gegenteil, jetzt ist mir eigentlich klar geworden, wie lieb ich dich habe, jetzt weiß ich erst, daß nicht nur meine Sinne nach dir verlangten, sondern daß ich dich von ganzem Herzen liebe. So, kleine Lu, das ist das, was ich dir schon lange sagen wollte, jetzt weißt du alles, und da ja auch du mich von ganzem Herzen liebst, wirst du nicht allzu traurig sein, denn ich selbst bin dir doch geblieben.”

Ihr ist, als hätte sie eben ihr Todesurteil aus seinem Munde gehört, totenblaß liegt sie da, sie hat nur den einen Gedanken: Was nun?

Sie muß allein sein, sie muß alles, was er ihr da sagte, erst in sich verarbeiten, sie muß sich über alles klar zu werden versuchen, und so bittet sie denn plötzlich mit fast tonloser Stimme: „Laß mich allein.”

Noch einmal streichelt er ihr zärtlich die Wangen, dann ist er gegangen.

Was nun?

Ein neues Leben liegt vor ihr, ja, aber ist das denn überhaupt noch ein Leben? Lohnt sich da noch zu atmen, zu essen und zu trinken, sich zu putzen und sich zu schmücken? Warum soll sie da noch leben? Nur um zu leben?

Sie wünscht sich den Tod, jetzt gleich auf der Stelle, und sie weiß doch, daß sie aller Voraussicht nach noch viele Jahre leben wird, denn sie ist eine gesunde Natur und sie ist doch noch so jung, noch keine dreißig Jahre. Und selbst, wenn sie nur vierzig werden aollte — zehn lange Jahre hin durch soll sie jede Nacht einsam verbringen, zehn lange Jahre hindurch soll sie jede Nacht entbehren, was sie früher nicht einmal zehn Tage entbehren konnte?

Sie weiß, das kann sie ganz einfach nicht, das verbietet ihr die Natur, und wenn die nicht ihr Recht bekommt, dann wird sie selbst dabei zugrunde gehen. Sie wird krank werden, und sie wäre ja nicht die erste Frau, die das nicht aushält.

Wie soll sie dies Leben ertragen, und glaubt ihr Mann denn wirklich, daß sie es ertragen kann?

Wie hat er doch zu ihr gesagt: „Du wirst nicht zu traurig sein, kleine Lu, denn ich selbst bin dir doch geblieben.”

Aber was hat sie von seinem Leben, wenn er ihr weiter nichts ist, als ein Tischgenosse bei den Mahlzeiten, ein Begleiter auf ihren Spaziergängen, ein Gesellschafter, mit dem sie plaudert, um sich die Zeit zu verkürzen? Deshalb hat sie ihn doch nicht geheiratet, gerade ihn nicht, denn von ihm wollte sie die Glut seiner heißen Leidenschaften, und die ist nun erloschen und erstorben für immer.

Und immer wieder fragt sie sich: „Was dann, wenn ich dieses neue Leben, zu dem ich jetzt verurteilt bin, ganz einfach nicht ertragen kann?”

Sie findet darauf keine Antwort, die muß Karl ihr geben, morgen wird sie ihn danach fragen, wie er sich das denkt.

Aber als sie dann mit ihm darüber spricht, hat er nur die eine Antwort: „Du wirst es eben ertragen müssen kleine Lu.”

Sie stöhnt schwer auf: „Und wenn ich es trotzdem nicht kann?”

„Man kann alles, wenn man muß,” tröstet er sie, „und dir kann es doch eigentlich gar nicht besonders schwer fallen, jetzt anders zu leben als früher. Wieviel Liebesnächte haben wir in diesen langen zehn Jahren nicht genossen? Ja, wenn du in der ganzen Zeit hättest darben müssen, wie es so viele andere Frauen in deinem Alter tun, und wenn du dann jetzt völlig entbehren müßtest, ja, dann hättest du ein Recht, zu sagen: ,Ich kann es nicht.' Aber du hast das höchste Glück im Überfluß genossen, da darfst du jetzt nicht murren und nicht klagen, sondern mußt dich in dein Schicksal fügen.”

„Ich kann es nicht — ich kann es nicht.”

Das sagt sie ihm immer wieder und auch als sie dann schlaflos in ihrem Bette liegt, wiederholt sie immer von neuem: „Ich kann es nicht — ich kann es nicht.”

Ihr Mann hat gut reden, seine Glut ist erloschen, aber in ihr brennt das Feuer. Und wenn man bei einem Brande den lodernden Flammen auch tausendmal zuruft: „Ihr müßt ersticken” — die brennen ruhig weiter, bis das Haus krachend in sich zusammenstürzt.

Und auch sie wird zugrunde gehen, sie wird sehr bald nur noch ein Schatten ihrer selbst sein, wenn sie ein Leben ohne Liebe führen soll.

Wie kann ihr Mann ihr nur sagen: „Du mußt es ganz einfach ertragen.”

Dafür gibt es nur eine einzige Erklärung, er versteht sie nicht. Er hat keine Ahnung, wie es in ihr aussieht, er kennt ihre geheimsten Gedanken und Regungen nicht, er weiß nicht, wie sie nach heißer flammender Liebe dürstet.

Er versteht sie nicht, aber wenn er sie nicht versteht, dann — sie weiß nicht, wie sie den Satz vollenden soll — sie weiß nicht, was dann ist, aber irgend etwas ist dann, das weiß sie genau.

Ihr ist sogar, als wenn dann etwas sehr Großes wäre, irgend etwas, das ihrem Leben eine ganz andere Gestalt gäbe — ihr ist, als stände sie vor einem Wendepunkt in ihrem Leben und doch kann sie sich über dieses „dann” nicht klar werden.

Im Stillen der Nacht zermartert sie sich ihr Gehirn, bis sie es dann plötzlich weiß, es wenigstens zu wissen glaubt: wenn ihr Mann sie nicht versteht, dann ist sie eine unverstandene Frau.

Einen Augenblick liegt sie regungslos da. Trotzdem es sehr lange gedauert hat, bis ihr diese Erkenntnis kam, ist sie ihr jetzt doch zu schnell, zu plötzlich und überraschend gekommen. Sie hölt den Atem an und lauscht, ob ihr auch niemand widerspricht, ob ihr nicht eine innere Stimme sagen wird: du bist gar keine unverstandene Frau, das bildest du dir nur ein, ebensoi wie alle anderen unverstandene Frauen sich das nur einreden.

Aber nein, die Stimme, auf die sie wartet, schweigt, weil sie sie selbst nicht zu Worte kommen läßt, und das gibt ihr die Gewißheit: mögen andere Frauen es sich auch nur einreden, unverstanden zu sein, sie ist wirklich eine unverstandene Frau.

Ihr ist, als wäre sie plötzlich Witwe geworden. Sie hat ihren Mann verloren, wenn er auch noch lebt, aber für sie ist er dennoch gestorben, denn er versteht sie nicht, das hat er ihr ja vorhin deutlich genug bewiesen, sonst —

Auch über dieses „sonst” ist sie sich absolut nicht klar, denn schließlich kann ihr Karl ihr ja doch nicht den Rat und die Erlaubnis geben, sich einen Freund zu nehmen und bei dem zu suchen, was sie bei ihm nicht mehr findet.

Nein, das nicht, das kann sie natürlich nicht von ihm verlangen, und sie wird ihren Mann auch niemals betrügen, denn sie ist doch eine anständige Frau und das will sie auch bleiben, das ist sie sich selbst schuldig.

Aber trotzdem, ihr Mann versteht sie nicht, denn sonst würde er nicht allen Ernstes von ihr verlangen, daß sie das Leben, das ihr nun bevorsteht, ruhig ertragen soll.

Aber trotzdem, ein neues Leben liegt vor ihr, das Leben einer unverstandenen Frau.

Wie wird sich das für sie gestalten und vor allen Dingen: was zieht sie in Zukunft an? Frau Lu müßte keine Frau sein, wenn nicht in diesem Augenblick die Toilettenfrage alle anderen Gedanken verdrängen sollte.

Wie wird sie sich fortan kleiden? Sie weiß, sie ist dafür bekannt, daß sie sich gut anzieht. Ihr steht auch alles, sie kann jede Mode mitmachen, alles scheint eigens für sie erfunden und für sie gemacht zu sein. Natürlich wird sie auch in Zukunft nicht aufhören, eine elegante Frau zu sein, im Gegenteil, jetzt wo sie im Leben nichts anderes mehr hat, als daß sie sich putzt und schmückt, jetzt wird sie es erst recht tun, aber sie hat trotzdem die Empfindung, als wenn sie sich in Zukunft etwas anders kleiden müsse, vielleicht nicht mehr so jugendlich wie bisher, vielleicht auch etwas ruhiger.

Sie wird die bunten Farben vermeiden und hauptsächlich dunkel gehen, wenn auch natürlich nicht tiefschwarz. Und auch die Hüte mit den Blumen wird sie nicht mehr aufsetzen, sondern nur noch die mit Pleureusen, sie ist ja auch schließlich kein junges Mädchen mehr, sie ist doch bald dreißig Jahr und vor allen Dingen ist es todschick, nur Pleureusen zu tragen. In der Hauptsachen wird sie Pleureusen tragen, die Farbe entspricht auch ihrer Gemütsstimmung, denn was hat sie trotz ihrer 28 Jahre nicht schon alles durchgemacht? Wieviel Leid und Kummer hat sie in den letzten Wochen nicht erfahren, bis sie endlich heute zu der Erkenntnis kam, daß sie eine unverstandene Frau ist.

Sie hat nach ihrer Meinung schrecklich gelitten, und in der Erinnerung an die Vergangenheit und aus Furcht vor der Zukunft fängt sie plötzlich an, gar bitterlich zu weinen. Ach, es ist zu hart, so jung, so schön und doch schon unverstanden zu sein! Wenn sie gewußt hätte, daß es in ihrer Ehe so schnell so kommen würde, dann hätte sie ihren Mann niemals geheiratet, und mit einemmal begreift sie überhaupt nicht mehr, warum sie gerade ihn genommen hat. An Bewerbern fehlte es ihr doch wirklich nicht, und trotz ihrer Tränen beginnt sie plötzlich an den Fingern ihre früheren Courmacher aufzuzählen. Neun fallen ihr ohne weiteres ein, nein, zehn, sogar elf, oder doch nur zehn — sie zählt nach, ob sie sich auch nicht verzählt hat, aber das ist ja schließlich einerlei, neun sind es wenigstens, nein, zehn, wenn nicht sogar elf.

Warum mußte sie gerade ihren jetzigen Mann erhören? Nur weil seine Nähe, sein Händedruck und seine Blicke ihre Sinne entflammten? Dann hätte sie doch auch Vetter Ernst heiraten können, denn in dessen Gegenwart haben ihre Sinne auch nicht geschwiegen. Allerdings, damals war sie ja noch viel jünger, aber trotzdem —

Sie weiß selbst nicht, wie sie darauf kommt, aber sie fragt sich trotzdem fortwöhrend: ob ich auch dann wohl schon heute eine unverstandene Frau wäre, wenn ich Vetter Ernst geheiratet hätte? Ob der auch schon heute so verbraucht wäre, wie Karl?

Ganz gewiß nicht, der war ja immer so stark und so kräftig, und sein Beruf als Forstassessor führte ihn ja viel in die Luft, in den schönen Wald, und auf der Jagd hatte er seinen Körper sicher noch mehr gestärkt und gestählt, anstatt im Bureaudienst ein mürber Mann zu werden.

Warum hat sie damals eigentlich nicht Vetter Ernst gehiratet? Gewiß, er hat schon damals erklärt: „Ich heirate überhaupt niemals, denn ich will nicht eine Frau besitzen, sondern so viel ich nur kann, so viele sich mir hingeben.” Aber trotzdem, wenn sie es darauf abgelegt hätte, ihn einzufangen — er war ja so verliebt in sie, ganz toll wurde er stets in ihrer Nähe, und wenn sie nicht aus Klugheit die Vernünftigere geblieben wäre, wer weiß, ob sie dann in der Hochzeitsnacht ihrem Mann mit so gutem Gewissen hätte sagen können: „Sei unbesorgt, ich habe vor dir noch nie einen anderen geliebt, oder gar geküßt.”

Sie muß fortwährend an Ernst denken, wie süß er zu küssen verstand. Und er war schon damals ein bildhübscher Mensch und in seiner kleidsamen Uniform wird er heute sicher noch viel hübscher aussehen.

Und wie frech er war, wie gottlos sündhaft frech, aber süß war er doch.

Wo er jetzt nur sein mag? Seit langen Jahren hat sie nichts von ihm gehört, das Briefeschreiben ist nicht seine Sache und sie selbst hatte ja ihren Karl, da hat sie sich gar nicht um andere Männer gekümmert.

Ob Ernst sie auch dann nicht geheiratet haben würde, wenn sie es gewollt hätte?

Da fällt ihr plötzlich ein Wort wieder ein, das er ihr vor langen, langen Jahren einmal sagte, an einem schönen warmen Frühlingsabend, an dem sie auf seinem Schoß saß. Da geschah es, daß er ihr sagte: „Ich kann dich ja leider nicht heiraten, weil ich überhaupt nicht heirate, aber eins verspreche ich dir, wenn du später in deiner Ehe nicht ganz glücklich wirst, wenn du dort nicht alles findest, was du suchst, dann komme ich zu dir, um dich zu trösten.”

Sie war ja bis zu einem gewissen Grade trotz alledem noch unerfahren. So hat sie ihn gefragt: „Und was willst du dann bei mir? Wie kannst du mir da helfen?”

Da hat er ihr Worte in das Ohr geflüstert, die sie ganz verwirrt machten, die aber ein süßes, wonniges Gefühl in ihr wach werden ließen, und sie hatte sich fortwährend gefragt: „Darf ich das wirklich mit anhören oder muß ich nicht eigentlich davonlaufen?”

Dann aber war sie doch auf seinem Schoß sitzen geblieben, er wäre ihr ja doch nachgelaufen und hätte sie schnell wieder eingefangen.

Jetzt denkt sie plötzlich wieder an die Szene zurück. Wenn Ernst nur eine Ahnung hätte, wie leer und tot alles in ihr ist, er käme sicher, um sie zu trösten.

Aber er darf es nicht erfahren, niemals, denn der wäre imstande, seine Worte von damals wahr machen zu wollen, und daß sie ihren Mann betrügt —. Sie ist doch eine anständige Frau und das will sie dann wenigstens noch bleiben, wenn sie auch keine glückliche Frau mehr ist.

Nein, Ernst darf nie etwas davon wissen, aber wo er nur sein mag? Ob sie ihm nicht doch einmal schreibt? Es ist doch eigentlich unnatürlich, daß Verwandte sich so wenig umeinander kümmern, noch dazu, wenn man sich in der Jugend so gerne gehabt hat. Seine Adresse kann sie ja leicht erfahren. Ob sie nicht doch einmal schreibt? Natürlich dürfen in dem Brief nur völlig harmlose und gleichgültige Dinge stehen, mit keiner Silbe darf sie verraten, welch schwere Zeit jetzt für sie beginnt, aber trotzdem, sie wird ihm in den nächsten Tagen einmal schreiben.

Mit diesem Vorsatz schläft sie ein und im Traum kommt Ernst zu ihr. Er hat ihren Brief erhalten und hat sie nun aufgesucht, um sie zu trösten. Wie hübsch er ist, noch viel hübscher als sie geglaubt hat, und wie stark und kräftig! Wie weich, wie voller Teilnahme seine Stimme klingt, wie liebevoll er sie mit seinen großen braunen Augen ansieht, wie zart er seine Hände auf ihre Schultern legt. Bis er dann zu ihr sagt: „Komm, Lu, setz dich wieder auf meinen Schoß, wie du es damals tatest, leg deinen Kopf an meine Schulter und weine dich einmal gründlich aus, das wird dich am schnellsten beruhigen.” Sie tut, wie er gesagt, sie weint und weint, bis die Tränen dann doch endlich versiegen. Dann fängt er an, ihr zu sagen, wie hübsch sie ist. So viel Frauen er auch immer besaß, es war nicht eine darunter, die ihr glich. Ach, er ist so lieb und gut zu ihr, sie duldet es, daß er sie küßt. Es ist ja auch weiter nichts dabei, sie ist doch seine Cousine, und sie küßt ihn wieder, warum auch nicht, er ist doch ihr Vetter. Und ihre Küsse werden heißer und wilder, er fängt auch schon wieder an, unartig und frech zu werden, aber sie weist ihn nicht zurück, sie hat es ja auch früher geduldet, da darf sie ihm gegenüber doch jetzt nicht plötzlich die keusche Jungfrau spielen, er würde sie ja auslachen. Dann hebt er sie plötzlich mit seinen starken Armen wie ein Kind in die Höhe und trägt sie durch das Zimmer, als wäre sie ein Spielzeug, und dann — und dann —

Gleich darauf wacht sie auf. Regungslos liegt sie da, sie weiß, daß alles nur ein Traum war, aber der Traum war so schön, selbst im Wachen will sie ihn noch weiter genießen, so lange es irgend geht. Wenn sie erst die Augen aufschlägt, wird es damit vorbei sein, trotz des Dunkels der Nacht, das sie umgibt.

Ach, war das schön, aber trotz alledem — nein, sie will ihm lieber doch nicht schreiben, was sollte er auch wohl denken, wenn er plötzlich nach so vielen Jahren einen Brief von ihr erhielte? Mit allen Hunden gehetzt, wie er ist, würde er sofort erraten, weshalb sie ihm schreibt, und das darf nicht sein. Sie ist doch eine anständige Frau, und wenn ihr Mann sie auch nicht versteht und sie niemals verstanden hat, sie wird ihn nie betrügen, das ist sie sich selbst schuldig.

Sie will auch gar nicht mehr an Ernst denken, aber in den stillen einsamen Nächten, die jetzt für sie kommen, denkt sie fortwährend an ihn. Sie hat ein Jugendbild von ihm herausgesucht, es neben ihr Bett auf den Nachttisch gestellt, und wenn sie sich auch noch so sehr dagegen sträubt, wenn sie sich auch tausendmal vornimmt, „Ich will nicht, ich will nicht” — sie liegt doch jede Nacht in seinen Armen.

Gewiß, sie genießt nur den Schatten des höchsten Glückes, aber sie genießt wenigstens.

Sie ist eine anständige Frau und wird es auch bleiben, aber diese Träume kann ihr niemand rauben und diese Träume sind so süß.

Und wenn sie so träumt, so ist das doch nicht ihre Schuld, sondern lediglich die ihres Mannes. In den ganzen langen Jahren der Ehe ist sie ihm niemals auch nur mit dem leisesten Gedanken untreu gewesen, und daß es jetzt anders geworden ist, daran hat er allein die Schuld, er ganz allein.

Sie träumt von Ernst bei Tag und bei Nacht und sie glaubt auch zu träumen, als ihr eines Mittags ein Besuch gemeldet wird, der seinen Namen nicht nennen will, und als dann plötzlich Ernst zu ihr in das Zimmer tritt. So sehr hat sie sich die ganze Zeit nach ihm gesehnt, daß sie sich Gewalt antun muß, um nicht laut aufzujauchzen, um ihm ihre grenzenlose Freude nicht zu verraten. Ach, sie ist ja so glücklich und doch weiß sie selbst nicht, weshalb. Er macht ihr seinen Besuch, er wird vielleicht bei ihnen essen, dann fährt er wieder fort und alles ist wieder so wie es war. Und selbst, wenn er in der Stadt bleiben sollte — nein, niemals, ihre Träume sollen und müssen nur Träume bleiben.

„Nicht wahr, Lu, das ist doch noch einmal eine Überraschung?” meinte er jetzt lustig. „ich habe dir absichtlich nicht geschrieben, denn aus der Art, in der du mich begrüßest, wollte ich sehen, ob du noch meine Lu bist, die Lu, die ich kenne, oder ob du dich zu deinem Nachteil verändert hättest und eine ehrbare deutsche Hausfrau geworden seist, für die es nichts Schöneres auf der Welt gibt, als Ordnung im Wäscheschrank und Ordnung in der Küche. Na, Gott sei Dank, du bist noch genau so wie früher.”

„Und woraus schließt du das?” fragt sie ganz verwirrt. Die Angst überfällt sie, daß sie sich vielleicht doch irgendwie verraten hat.

„Woraus ich das schließe?” fragt er. „Aus deinen Augen, Lu, aus den Blicken, mit denen du mich vorhin ansahst. Wir sind ja auch immer gute Freunde gewesen, warum sollen wir es da auch heute nicht mehr sein? Aber weißt du wohl, Lu, daß du mir immer noch keinen Kuß gegeben hast?”

Eine seltsame Unruhe befällt sie, dann meint sie ausweichend: „Das darfst du auch im Scherz nicht mehr von mir verlangen, ich bin doch eine verheiratete Frau.”

Mit dem unschuldigsten Gesicht von der Welt sieht er sie an: „Habe ich denn deshalb aufgehört, dein Vetter zu sein?”

Da hat er recht, er ist ja ihr Vetter, und wenn sie ihm den Kuß verweigert, kann er vielleicht auf den Gedanken kommen, sie fürchtete seine Küsse. Sie küßt ihn und er küßt sie, und dann küssen sie sich noch einmal.

Und dann zieht er sie plötzlich zu sich auf seinen Schoß: „Wir wollen uns einbilden, Lu, wir wären wieder Kinder wie damals. Ach, Lu, du weißt ja gar nicht, wie oft ich an die Zeit zurückdenke. In Gedanken habe ich dich so oft auf meinem Schoß gehalten, und so viele Frauen ich inzwischen auch besaß, keine glich dir an Schönheit und ich habe dich nie vergessen.”

Ihr wird heiß und kalt. Wie süß es ist, solchen Worten zu lauschen, und wie zärtlich seine Hände sie streicheln.

Dann aber macht sie sich schnell frei und springt auf: „Wir müssen vernünftig sein, Ernst, die Jugendzeit liegt hinter uns und damit alles, was damals war. Erzähle mir von anderen Dingen, vor allem, was dich hierher führt.”

„Der Wille einer hohen Staatsregierung,” gibt er zur Antwort. „Ich habe mich heute morgen dem hiesigen Forstmeister vorgestellt, ich bin vorläufig auf vier Wochen bei dem zur Dienstleistung kommandiert und werde wahrscheinlich für längere Jahre hierher versetzt werden.”

Ernst kommt hierher! Die Angst überfällt sie, die Angst vor einer Gefahr, die ihr droht. Sie ist so blaß geworden, daß er aufspringt und zu ihr tritt: „Um Gottes willen, Lu, was ist dir?”

„Nichts, nichts,” gibt sie zur Antwort. „Deine Worte haben mich nur so überrascht und erschrocken.”

„Erschrocken?” fragt er ganz verwundert. Er ist weiß Gott mit allen Hunden gehetzt, aber im ersten Augenblick versteht er sie trotzdem nicht, bis ihm dann doch plötzlich alles klar wird. Sie hat ihn ebensowenig vergessen, wie er sie, und sie liebt ihn auch heute noch, sie ist nicht glücklich in ihrer Ehe, nun fürchtet sie, daß ihre gegenseitige Liebe sie beide einander in die Arme führt.

Er hat ihre Hände ergriffen und sieht ihr heiß und leidenschaftlich in die Augen, dann fragt er mit leiser Stimme: „Hast denn auch du mich immer noch lieb, kleine Lu?”

Sie will ihm ein „Nein” entgegenrufen, das ihm für alle Zeiten jeden Gedanken an sie nehmen soll, aber sie bringt dieses „Nein” nicht über ihre Lippen. Sie fühlt den Druck seiner Hände, den Blick seiner Augen, sie atmet seine Nähe, den Duft seiner Haare, sie sieht seine männlich kräftige und schöne Gestalt und sie denkt an ihre Träume. Wie oft hat sie ihn nicht herbeigesehnt, jetzt ist er da. Nein, nein, sie wird eine anständige Frau bleiben, aber die Sinne in ihr sind erwacht. Die heiße Glut, die sie so lange hat gewaltsam niederkämpfen müssen, flammt in ihr auf, sie fühlt das Zittern und Beben, das durch ihre Glieder geht, sie fühlt das süße wonnige Gefühl, das sie durchströmt, und leise, ganz leise knirscht sie mit den Zähnen. Sie weiß, jetzt ist sie verloren, jetzt hat sie sich nicht mehr in der Gewalt, und das weiß auch er. Nur zu genau kennt er dieses Zähneknirschen von früher her — wenn es erst soweit war, dann sträubt sie sich nicht länger gegen seine Liebkosungen.

Voll wilder Leidenschaft reißt er sie plötzlich an sich und mit einem Aufschrei des höchsten Glückes schlingt sie ihre Arme um seinen Hals, sie küssen und küssen sich.

Aber dann wehrt sie ihm ab: „Nein, Ernst, nicht hier — nicht in seinem Hause — aber ich komme zu dir, so bald und so oft du willst. Ich kann ja nicht mehr leben ohne die Liebe, und du weißt ja nicht, wie ich mich nach dir gesehnt habe, seitdem mein Mann mich nicht mehr versteht. Das alles werde ich dir erzählen, damit du mich nicht für schlecht hätst, wenn du mich heute oder morgen in deine Arme nimmst. Nein, ich bin nicht schlecht, aber du weißt ja, wie heiß das Blut in meinen Adern fließt. Du ahnst ja nicht, wie meine Sinne nach dir verlangen, nicht erst seit heute. Nun aber geh, ich muß alleine sein, ich muß mich sammeln und beruhigen, damit ich mich nachher nicht verrate, wenn mein Mann nach Haus kommt. Gehe und laß mich noch heute wissen, wann ich zu dir kommen darf.”

Später ist sie allein. Ach, sie ist ja so namenlos glücklich, und ihr Glück wächst von Tag zu Tag, je öfter sie ihren Ernst sieht. Und wenn sie auch ohne seine Liebkosungen und ohne seine Zärtlichkeiten nicht mehr leben könnte — das größte Glück für sie ist doch, daß ihr Ernst sie versteht.

Und der versteht sie wirklich. Erst gestern hat er es ihr gesagt, als er sie in seinen Armen hielt und als sie ihn da ganz plötzlich und unvermittelt fragte: „Nicht wahr, mein Ernst, du verstehst mich?”

Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, hat er „ja” geantwortet. Das müßte ihr ja schon Beweis genug sein, aber sie wird ihn sicherheitshalber heute nochmals fragen, obgleich sie im voraus weiß, daß er wieder „ja” sagen wird. Und seinem „Ja” kann sie glauben, denn Ernst lügt nicht.

Nein, sie braucht Ernst gar nicht erst weiter zu fragen, sie glaubt ihm auch so, denn wenn eine Frau liebt, glaubt sie alles, und eine unverstandene Frau glaubt am allerleichtesten, denn wenn die nicht so leichtgläubig wäre, wie könnte sie da in Wahrheit glauben, unverstanden zu sein?

Das weiß nur eine Frau — wenn sie es weiß.


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© Karlheinz Everts