Kurzes Glück.

Novelle von Frhr. v. Schlicht
in: „Novellen-Bibliothek”, Samlung ausgewählter Erzählungen
(aus der „Illustrierten Zeitung”, Leipzig), 23.Band


„Hast du mich wirklich lieb? So lieb wie keine andere? Ich kann das Glück noch nicht fassen.”

Er beugte sich hinab zu der kleinen, zierlichen Gestalt, die sich fest an ihn schmiegte und aus ihren großen, rehbraunen Augen, die feucht schimmerten, glückselig zu ihm, der sie um mehr als Haupteslänge überragte, hinaufblickte. Zärtlich küßte er die Lippen, die sie ihm, Liebe heischend, darbot, und mit seiner Rechten zärtlich ihr glänzend braunes Haar, das sich auf der Stirn in zierlichen Locken kräuselte, streichend, sprach er dann mit gütiger Stimme, während ein Schein des reinsten, seligen Glücks seine männlich schönen Züge verklärte und die innigste Liebe aus seinen treuen, blauen Augen sprach:

„Ob ich dich liebe? Habe ich es dir nicht schon gesagt? Habe ich dich nicht gebeten, mir anzugehören als mein Weib? Würde ich das gethan haben, wenn ich dich nicht liebte?”

Wieder fanden sich ihre Lippen zu einem langen Kuß.

„Glaubst du es nun?” fragte er fröhlich lachend.

Statt jeder Antwort schmiegte sie sich von neuem an ihn, und während ein jähes Roth ihre Wangen färbte, bat sie mit leiser Stimme: „Eins möchte ich noch wissen, sag', wann merktest du zuerst, daß du mir gut seiest, daß du mich liebtest?”

Er löste ihre Arme, die sie um seinen Hals geschlungen hatte, und führte die Geliebte zu einem Sessel, der in der Mittes des mit wohlthuender Eleganz eingerichteten Zimmers stand. Goldig schien die im Untergehen begriffene Wintersonne durch die Fenster, und ihre Strahlen ließen das Antlitz der jungen Braut in rosigem Schimmer erglänzen.

Er kniete vor ihr nieder und ergriff ihre beiden schlanken Hände.

„Wann ich zuerst merkte, daß ich dir gut sei? Ach, das ist schon lange, lange her, fast sieben Jahre — sieben Jahre habe ich um dich geworben, wie Jakob um Rahel.”

Ungläubig lächelnd schüttelte sie den Kopf: „Sieben Jahre? Da warst du ja noch ein Kind?”

„Genau wie du,” erwiderte er fröhlich, „Primaner war ich und so stolz auf meine rote Mütze, wie nur einer sein konnte. Sauer genug hatte ich sie verdient, der Ordinarius der Obersecunda war mir nicht wohl gesinnt, einmal hatte er mich schon sitzen lassen, nun wollte er mich auch zum zweiten mal zurückbehalten. Er wollte, ich aber wollte nicht; es war ein heißes Ringen, aus dem ich als Sieger hervorging. Ich kam hierher, um die Eltern zu besuchen, meine Ferien bei ihnen zu verbringen, mich in meiner neuen Würde als Primaner vorzustellen. Und in diesen Ferien sah ich dich zum ersten mal — ich weiß es noch wie heute. Mit meiner Schwester war ich ausgegangen, um sie bei einigen Besorgungen, die sie zu machen hatte, zu begleiten. Die Packete, die ich als galanter Ritter zu tragen bekam, mehrten sich erschreckend. Sind wir noch nicht bald fertig? fragte ich, selbst ein Hercules kann nicht ewig den Atlas tragen.

„Gleich, gleich,” erklärte sie, „ich muß nur noch bei einer Freundin vorsprechen, mit der ich das Seminar zusammen besuche.”

Ich stand vor der Thür und wartete mit der Geduld eines treuen Hundes.

Stunden vergingen nach meiner Zeitrechnung, bis endlich die Hausthür geöffnet wurde.

Ob der junge Herr nicht hineinkommen möchten, fragte der jugendliche Diener, der, wie ich später erfuhr, in euerem Hause wegen des Vornamens Julius nie anders als Caesar genannt wurde.

Ich überschritt zum ersten mal die gastliche Schwelle eueres Hauses.

„Die jungen Damen sind im Garten,” belehrte mich Julius.

Ueber die mit Fliesen ausgelegte große Diele führte mich mein Cicerone nach dem hinter dem Hause gelegenen Garten.

In einer von wildem Wein umrankten Laube saß ein zierliches junges Mädchen von etwa sechzehn Jahren. Das dichte braune Haar, das hinten in einen Knoten zusammengefaßt war, fiel in natürlichen Locken vorn auf die Stirn. Zwei große rehbraune Augen sahen mich lustig lachend an, ein Lächeln umspielte auch den kleinen Mund, aus dem zwei Reihen blendend weißer Zähne hervorleuchteten.

Ein roth und weiß gestreiftes Kleid mit einem Spitzenkragen umschloß die liebliche Gestalt, die kleinen schlanken Hände spielten einen Marsch auf der Tischplatte, und unter dem Tisch schlugen zwei reizende kleine Füße in zierlichen Goldkäferschuhen dazu den Takt.

Ich sah dich an, du Glück meines Lebens, und in meinem jugendlichen Herzen fühlte ich etwas, das ich mir nicht zu erklären, nicht zu deuten vermochte. Heiß und kalt druchrieselte es mich; ich sah dich an, und doch sah ich nichts; es flimmerte mir vor den Augen, ich war wie geblendet.

Es war im October, und die Herbstsonne schien ebenso wie jetzt auf dich hernieder, und die Strahlen der Sonne fielen hell und klar auf dein liebliches Gesicht.

Und ich stand und sah dich an, und ich wünschte, daß ich dich anschauen könnte, immerfort.

Nicht einmal die Mütze nahm ich von meinem Kopf — ich hätte es auch wegen der vielen Packete kaum vermocht; ich setzte mich endlich auf deine Aufforderung hin zu euch an den Tisch.

Ich hörte deine Stimme und verstand doch nicht, was du zu mir sprachst. Wie ein Träumender ging ich dann nach Haus. Nie vorher in meinem Leben war ich so traurig und doch so glücklich gewesen.

Sieh, seit dem Tage liebe ich dich.”

Sie lachte glücklich auf: „Auch ich erinnere mich des Tages sehr genau. Ich sehe dich noch vor mir stehen, stumm und unbeholfen und, wie ich meinte, so verlegen. — Und hast du seit jener Stunde nie aufgehört, mich zu lieben?”

„Nie!” Das klang so treu und wahr, daß sie ihn zärtlich auf die Stirn küßte.

„Du lieber, guter Mensch!”

„Ich weiß nicht, ob ich ein guter Mensch bin,” gab er zurück, „wenn ich es aber bin, bin ich es durch dich. Nie ist dein Bild aus meiner Erinnerung geschwunden. Um dich heirathen zu können, wurde aus einem keineswegs übertrieben fleißigen Schüler der wahre Büffelochse, denn daß ich dich heirathen wollte, gelobte ich mir in der schlaflosen Nacht, die dem Tage unserer Bekanntschaft folgte, in jener Nacht, da dein Bild mich nicht verließ.

Dann sahen wir uns öfter, bei uns und bei euch. So oft ich in den Ferien heimkehrte, war mein erster Weg zu deinem Elternhaus.

Es wurde anders, als ich das Abiturienten­examen gemacht hatte und als Fähnrich in die Armee eintrat. Da war es mit dem vielen Reisen vorbei, ich freute mich, wenn ich einmal im Jahr auf kurze Zeit heimkehren konnte.

Auf der Kriegsschule, wohin ich bald kam, wollten die Kameraden mich, wie sie stets sagten, öffentlich ausstellen, weil ich keine Liebe fühlte; ein Fähnrich ohne Liebe aber ist wie ein Wald ohne Bäume.

Ich ließ mich necken und dachte an dich. Du warst meine Schüler-, Fähnrichs- und Lieutenantsliebe.”

„Und hast du wirklich nie einer anderen Dame den Hof gemacht?”

„Den Hof gemacht? Mit dem Munde ja, mit dem Herzen nein, mein Herz war alle Zeit bei dir, und deshalb glaubte ich vor Freude sterben zu sollen, als ich durch eine wunderbare Fügung des Zufalls eines schönen Tages hierher versetzt wurde, in diese Stadt, wo du, wo meine Eltern lebten.

Mit meiner Schwester hatte ich viel über dich correspondirt; aus ihren Briefen erfuhr ich, wie du auf allen Festen die Königin warst, wie alle dich umringten.

Immer fürchtete ich, die Nachricht deiner Verlobung zu erhalten.”

„Und wenn ich mich nun verlobt hätte, was dann?” fragte sie neckend.

„Dann hätte ich mich auf die Eisenbahn gesetzt, mit oder ohne Urlaub,” gab er zur Antwort, „und hätte deinen Verlobten aufgefordert, sich mit mir zu schießen —”

„Und wenn ich ihn nun geliebt hätte?”

„Dann — ja was dann — aber das ist ja alles Unsinn, du liebtest ja auch mich, wie ich dich; ich sah und fühlt es an dem Tage, da ich euch meinen Antrittsbesuch machte. Deine Eltern waren ebenso wie heute nicht zu Hause. Du selbst öffnetest mir die Thür, und du führtest mich in den Garten, in dieselbe Laube, in der wir uns zuerst gesehen. Nichts hatte sich dort verändert, nur wir selbst waren andere geworden, wenn auch nur äußerlich.

Als ich dich verließ, war ich verliebter denn je, und wiederum sprach ich zu mir: „Die heirathest du und keine andere!”

Und nun habe ich dich gewonnen und halte dich fest für immer!”

„Ja, jetzt bin ich dein, ganz dein,” gab sie zurück, „aber weißt du wohl, daß ich oft an dir, an deiner Liebe gezweifelt habe? Du machtest mir die Cour wie nur einer; wenn ich den Ballsaal betrat, fühlte ich instinctiv, daß du deine Augen auf mich richtetest, daß du jede meiner Bewegungen beobachtetest, daß du Acht darauf gabst, mit wem ich tanzte, wem ich bei dem Cotillon eine Schleife oder einen Orden brachte. Es war dein Vorrecht, mich zu Tisch zu führen, immer warst du liebenswürdig und freundlich, aber nie verriethest du mit einem Wort, daß ich dir mehr war als irgendein anderes der jungen Mädchen.”

„Durfte ich das denn?” fragte er. „Ich bin nicht reich, das weißt du, die du mein Elterhaus kennst — bei euch aber herrscht Luxus und Ueberfluß. Wäre ich Kaufmann, so hätte ich zu mir gesagt: erst verdiene was, dann denke ans Heirathen. Verdienen können wir Offiziere nichts; selbst wenn unsere Nahrung jahraus jahrein aus Commißbrot und Wasser bestände, könnten wir keine Schätze sammeln. So sagte ich zu mir: erst leiste was. Ich habe es redlich versucht, ich habe gearbeitet, und die drei Jahre, die ich auf der Kriegsakademie zugebracht habe, sind, glaube ich, nicht vergeblich gewesen. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, es dir heute noch nicht zu sagen, du solltest damit überrascht werden; ich freute mich auf dein Gesicht, wenn du es in der Zeitung lesen würdest —”

Ihre Neugier war erweckt. „Was ist es?” bat sie. „Ach, sage es mir, habe nicht am ersten Tag ein Geheimniß vor mir! Wie kann ich da glücklich sein, wenn du mir etwas verschweigst?”

Lustig sprang er empor und schloß die Geliebte in die Arme: „Ach, du kleine Weisheit, aus welchem Ehestandsbuch hast du deine Weisheit geholt? Ihr Frauen seid doch alle gleich! Wenn du es denn wissen willst — und du bist ja schließlich die Nächste dazu, wie Fritz Reuter sagt — so höre und staune: Ich bin zum 1.Januar in den Generalstab, in die kriegsgeschichtliche Abtheilung, einberufen worden, zunächst nur auf ein Jahr, aber aus diesem einen werden stets drei, wenn man sich nicht gar zu dumm anstellt. Die ersten drei Jahre werden wir also in Berlin unsere Hütte bauen; hoffentlich ist es dir nicht unangenehm?”

Sie flog empor, weinend und lachend zugleich: „Das ist nicht wahr — es kann nicht wahr sein! Es ist zu viel des Glücks! — O, wie ich stolz auf dich bin! Wie werden deine, wie werden meine Eltern sich freuen — ach, wie hab' ich dich lieb!”

„Wirklich? Das sieht ja gar nicht danach aus!” Ein fröhliches Lachen erklang hinter ihnen. Erschrocken ließen sie sich los. Der Hausherr war, von ihnen unbemerkt, ins Zimmer getreten; der weiche Teppich hatte seine Schritte gedämpft.

Der junge Offizier ergriff seinen Helm, den er auf den Tisch gestellt hatte, und nahm eine stramme Haltung an.

„Herr Geheimrath,” begann er, „an meiner Galauniform werden Sie schon erkannt haben, daß ein besonderer Zweck mich heute in Ihr Haus führt. Ich kam hierher, um mit Ihnen, mit Ihrer sehr verehrten Frau Gemahlin zu sprechen — Sie beide waren ausgegangen, nur Ihr Fräulein Tochter war zu Hause. Ihr ließ ich mich melden. Wem das Herz voll ist, dem läuft der Mund über, lehrt ein altes Wort, und so sagte ich denn Ihrem Fräulein Tochter, was ich den Eltern zuerst hätte sagen sollen, daß ich sie liebe, seit langer, langer Zeit, und da ich Sie, Herr Geheimrath, nicht persönlich fragen konnte, weil Sie ja ausgegangen waren, und weil die Sache, wenigstens doch für mich, sehr wichtig und eilig war, fragte ich Ihr Fräulein Tochter, ob sie wohl glaube, daß Sie, Herr Geheimrath, nichts dagegen einzuwenden haben würden, wenn ich die Absicht hätte, Ihr Fräulein Tochter zum Altar zu führen. Und Anna meinte, Sie wären ein viel zu guter Vater, um dem Glück Ihres einzigen Kindes im Wege zu stehen.”

„So? Meinte sie das?” fragte der alte Geheimrath, sich mit der Rechten durch den weißen Bart fahrend, während ein glückliches Lächeln den Mund umspielte. Dann gab er dem jungen Offizier die Hand: „Ich hab's gewußt, Herr von Sternberg, daß Sie kommen würden, um sich mein Kind zu holen, und ich will Ihnen offen und ehrlich gestehen: ich habe schon lange auf Sie gewartet. Nicht meinetwegen, aber dort des Kindes wegen. Immer blasser und kleiner wurde ihr Gesicht, und wenn sie abends zurückkam aus den Gesellschaften, still und traurig, nicht wie früher heiter und ausgelassen, uns noch viele Stunden erzählend, wie schön es gewesen — da wußte ich, daß Anna wieder einmal vergebens auf das Wort von Ihnen gewartet hatte, und meine Zuneigung zu Ihnen fing an, sich in Zorn und Groll zu verwandeln, denn ich wußte ja, daß Sie sie liebten, und ich verstand nicht, warum Sie nicht sprachen. Ihr Herr Vater, den ich in der Stadt traf, hat mir von Ihrer Einberufung erzählt, sagte mir auch, daß Sie bei uns seien und um unser Kind werben. Schnell kehrte ich heim, und ich freue mich, Sie noch anzutreffen, denn noch einmal wiederhole ich es: Wir haben Sie lange, lange erwartet. Seien Sie mir herzlich willkommen! Nun aber legen Sie die Zeichen Ihrer Würde ab, und seien Sie ein Mensch unter Menschen. In einer Viertelstunde gehen wir zu Tisch; daß Sie bei uns bleiben, ist ja selbstverständlich. Anna, zukünftige kleine Hausfrau, begib dich in den Keller und suche selbst den Wein aus, mit dem wir euere Gesundheit trinken sollen; beeile dich, denn ich höre die gute Mutter kommen. Na, die wird aber Augen machen, wenn sie das Glück erfährt, ah, da kommt sie schon. Na, Mutter, um dich mit deinem Lieblingsnamen zu nennen, was sagst du nun?”

Er weidete sich an dem Staunen der Ueberraschten, und auch seine Augen wurden feucht, als er die Thränen seiner Frau fließen sah.

„Nun aber ist's genug der Rührung,” rief er endlich; „jetzt zu Tisch! Anna, hast du daran gedacht, für Sternberg ein Gedeck auflegen zu lassen?”

Sie wollte davon eilen, um das Versäumte nachzuholen, aber Sternberg hielt sie zurück: „Sei nicht böse,” bat er, „daß ich heute Abend nicht bleibe, nicht bei euch bleiben kann, wir haben heute Abend Liebesmahl im Casino; das ist Dienst wie jeder andere. Ich muß dabei sein, um so mehr, als das Fest zum Theil mich betrifft, dann aber werden auch zwei Kameraden »fortgegessen«, die versetzt worden sind. Es ist schon fünf Uhr, um sechs fängt das Essen an —”

„Haben Sie also noch eine gute halbe Stunde Zeit,” beruhigte ihn der Geheimrath, „ich lasse anspannen und garantire Ihnen dafür, daß Sie mit dem Glockenschlag sechs Uhr im Casino sind, selbst, wenn Sie sich vorher noch umziehen wollen. Und nun noch einmal: zu Tisch! Was soll der Sect von uns denken, wenn er nicht getrunken wird?”

Im raschen Trabe flog das Gespann des Geheimraths durch die Straßen der Stadt. Sternberg zog, als er bei einer hellleuchtenden Laterne vorüberfuhr, die Uhr; es war schon nach halb sieben. Immer und immer wieder hatte er gesagt, daß er aufbrechen müsse, immer aber hatte er noch einen Augenblick zugegeben, bis die alte Sylteruhr in der Eßstube die sechste Stunde geschlagen hatte. Wie im Fluge war die eine Stunde vergangen bei fröhlichen, aber auch bei ernsten Gesprächen. Mit Mühe und Noth nur hatte er sich endlich freigemacht. „Ich lasse dich nur los, wenn du mir schwörst, daß du morgen früh mit dem Glockenschlag acht Uhr hier zum Kaffee eintrittst.”

Er hatte geschworen, zu kommen, wenn —

Aber ein Wenn hatte man nicht gelten lassen; so hatte er denn zugesagt, unter allen Umständen zum Kaffee zu erscheinen.

Vielerlei gab es noch zu besprechen. Mit Rücksicht auf seine Versetzung nach Berlin sollte die Hochzeit so bald wie möglich stattfinden, damit er nicht erst gezwungen wäre, in der Residenz ein Junggesellenleben zu führen. Am nächsten Mittag wollte er zum Commandeur gehen, um diesem dienstlich seine Verlobung zu melden und gleichzeitig mit ihm wegen des einzureichenden Consenses Rücksprache zu nehmen.

Der Wagen hielt vor seiner Wohnung; er sprang schnell die Treppen hinauf, um den Waffenrock mit dem Ueberrock zu vertauschen, warf einen flüchtigen Blick in das auf seinem Schreibtisch liegende Dienstbuch, um nachzusehen, was er morgen zu thun habe, und freute sich, als er die beiden Worte „Kein Dienst” las.

„Der Häuptling hätte auch wenig Glück gehabt, wenn er mir für morgen früh Instruction oder sonst eine geistreiche Beschäftigung angesetzt hätte,” sagte er fröhlich lachend vor sich hin; „morgen ist Minnedienst, übermorgen ist Minnedienst, und alle nächsten Tage ist ebenfalls Minnedienst.”

„Etwas mit der Post gekommen?” fragte er den Burschen.

„Nein, Herr Lieutenant.”

„Na, denn los! Meine Handschuhe! Hier, Knabe, hast du einen Thaler, trink auf mein Wohl, denn ich habe mich heute verlobt. Mensch, wo sind meine Haarbürsten? Die müssen noch im Waffenrock stecken. — Schnell! Da schlägt es wahrhaftig schon sieben!”

Mit raschen Schritten eilte er zum Wagen zurück, und kurze Zeit darauf hielt das Coupé vor dem hellerleuchteten Casino, das sich im rechten Flügel der großen Kaserne befand.

Als er den Corridor durchschritt, tönten ihm schon von weitem die Klänge der Regimentsmusik und lautes Sprechen und Lachen entgegen.

Er legte in der Garderobe Mantel und Mütze ab und betrat dann den Saal, in dem die Ordonnanzen schon Butter und Käse servirten.

Man schien auf ihn gewartet zu haben, denn kaum hatte man ihn erblickt, als aus einer Ecke des Saales ein lautes: „Eins, zwei, drei!” und dann ein langgedehntes „Ah — ah!”erfolgte.

Jäh brach die Musik ab, um gleich darauf mit einem Tusch einzufallen.

Einen Augenblick stand Sternberg verwundert ob dieser kameradschaftlichen Huldigung, mit der die Freunde ihm zu seiner Einberufung in den Generalstab ihren Glückwunsch und ihre Bewunderung aussprechen wollten. Sie freuten sich mit ihm über die ihm zutheil gewordene Auszeichnung, eingedenk des Wortes, daß das, was einem Kameraden geschieht, damit zugleich dem ganzen Offiziercorps widerfährt.

Dankend, winkte Sternberg mit der Hand seinen Kameraden zu, dann ging er zum Commandeur, der in der Mitte der hufeisenförmig gedeckten, mit reichem Silberschmuck und duftigen Blumen geschmückten Tafel saß.

Es war nur ein kurzer Weg, den Sternberg zurückzulegen hatte, und doch dauerte es lange, bis er zum Obersten gelangte, der lächelnd zusah, wie sich dem Eingetretenen eine Hand nach der andern entgegenstreckte, wie sie ihm alle gratulirten und die Rechte schüttelten.

„Prosit, Sternberg!”   „Sternberg, hierher!”   „Hier ist Platz!” tönte es von allen Seiten, sodaß der Gefeierte ein glückliches Lächeln nicht unterdrücken konnte, als er zum Commandeur sprach: „Ich bitte sehr um Verzeihung, Herr Oberst, daß ich nicht pünktlich erscheine, es war mir bei dem besten Willen nicht möglich, eher zu komen.”

„Kann mir's denken, mein Lieber,” pflichtete dieser ihm bei. „Vater und Mutter wollen an solchen Ehrentagen ihr Kind auch bei sich sehen; ich glaubte nicht, daß Sie sich schon so früh losmachen könnten. Nun aber holen Sie das Versäumte nach; an Ursache, fröhlich zu sein, fehlt es Ihnen ja heute nicht.”

Sternberg wurde von den Kameraden umringt und saß nun im fröhlichen Kreise, das Glas immer wieder leerend, das die Freunde ihm füllten.

Eine Sectflasche nach der andern erschien auf dem Tisch, auch noch, nachdem der Kaffee servirt und die Cigarren angezündet worden waren. Bald lagerte ein dichter blauer Rauch in dem großen Gemach, die Unterhaltung wurde immer lauter und lärmender, die Witze immer freier und gewagter, die Stimmung immer gehobener.

Und plötzlich bereute Sternberg, das Casino noch aufgesucht zu haben. Er war wohl der einzige, bei dem der Wein noch nicht seine Wirkungen zeigte. Die lärmenden Freundschafts­bezeugungen der Kameraden, die ihn theils umarmten, theils immer und immer wieder ihrer Anhänglichkeit versicherten, wirkten abstoßend auf ihn. Er war zu nüchtern, um die Stimmung der Kameraden verstehen zu können.

Inzwischen war die Musik, deren starke Tonwellen fast betäubend durch den Saal erklangen, zu immer leichteren Weisen übergegangen — Wagner hatte Strauß und Suppé weichen müssen, und nun verlangten einige junge Offiziere die „Englische Miß”. Ihr Wunsch wurde erfüllt und die Tafelrunde sang das allen wohlbekannte Lied mit.

Zwei Fähnriche hatten einander umfaßt und tanzten; bald folgten junge Offiziere ihrem Beispiel. Ein älterer Premier hatte den Kapellmeister gebeten, ihm den Taktstock zu überlassen; an der großen Trommel und an dem Triangel wirkten schon längst Offiziere, und ein Hauptmann, der in seiner Jugend einmal Flötenstunde gehabt hatte, versuchte die Töne, die er der Piccoloflöte entrang, der Melodie der „Englischen Miß” anzupassen.

Die Sache kann heute wieder gut werden, dachte Sternberg, es ist jetzt kaum neun Uhr; vor drei Uhr geht ja doch niemand nach Haus. Was dieser Abend wohl noch alles zeitigt?

Da fühlte er plötzlich eine Hand auf seiner Schulter, und, sich umwendend, sah er in das von reichlichem Weingenuß erhitzte Gesicht des langen Brachwitz.

„Nun, Sternberg, wie fühlen Sie sich denn so als Moltke II.? Gestatten Sie mir, daß auch ich Ihnen meinen besten Glückwunsch darbringe.”

Brachwitz war ein im Regiment wenig beliebter Kamerad. In ärmlichen Verhältnissen groß geworden, sah er mit Neid und Misgunst auf alle, die es besser hatten als er. Er war ein sogenannter Streber, ein Augendiener in des Wortes schlimmster und häßlichster Bedeutung, der an keinem Menschen ein gutes Haar ließ, dabei aber gegen jedermann von der größten Liebenswürdigkeit und Höflichkeit war. Zugleich mit Sternberg hatte er vor nunmehr vier Jahren das Kriegsakademie–Examen „versucht”; er war aber nicht zur Akademie einberufen worden und hatte seit dieser Zeit einen glühenden Haß auf seinen Kameraden geworfen, dem er zu schaden versuchte, wo immer er nur konnte.

Sternberg schüttelte die Hand, die sich ihm entgegenstreckte, und in der glücklichen Stimmung, in der er sich befand, sagte er: „Das freut mich, Brachwitz, daß auch Sie mir gratuliren. Ich habe Ihnen doch Unrecht gethan mit der Annahme, Sie misgönnten mir meinen Erfolg.”

„Aber da denke ich ja gar nicht daran,” erwiderte dieser lachend, „im Gegentheil, ich meine es ja so gut mit Ihnen, so gut” — und zärtlich schmiegte er seine Arme um den Hals des Kameraden.

Sternberg schauderte zusammen bei der Berührung. Er gedachte der Geliebten, die wenige Stunden vorher liebeselig an seinem Halse gehangen hatte.

Er suchte sich aus der Umarmung zu befreien. — „Schon gut — ich glaub' es Ihnen ja auch so. Sie rauben mir ja die Luft! So, nun setzen Sie sich hierher — hier ist noch Sect in der Flasche; ich trete Ihnen meinen Theil ab.”

„Sie sind ja sehr liebenswürdig,” höhnte Brachwitz, „was Sie stehen lassen, bieten Sie mir an! Ich soll mich begnügen mit den Brosamen, die von des reichen Herrn Tische fallen! Freilich, Sie sind ja nun »Generalstäbler«, und ich bin ja nur eine einfache Hurrahcanaille!”

Brachwitz war dafür bekannt, daß er, so oft er etwas im Kopf hatte, zank- und streitsüchtig wurde, und fast kein Liebesmahl verging, an dem er nicht mit irgendeinem Kameraden zusammenstieß.

Dem wollte Sternberg entgehen.

„Seien Sie doch nicht kindisch,” sagte er. „Wer wird denn eine harmlose Bemerkung so auslegen! Wenn es Ihnen lieber ist, können wir ja eine neue Flasche bestellen,” und er winkte eine Ordonnanz herbei.

„Lassen Sie es gut sein,” wehrte Brachwitz ab, „ich trinke nicht mehr — wenigstens nicht auf Ihre Kosten — ich kann allein bezahlen, was ich verzehre — ja wohl, das kann ich!”

Sternberg gab den Kameraden, mit denen er zusammen am Tisch saß, ein Zeichen: „Wollen wir nicht ins Billardzimmer gehen? Da ist es kühler, diese Temperatur hier bringt mich um.”

„Und dieser Brachwitz ärgert mich,” fuhr dieser auf. „Glauben Sie, daß ich Ihre Zeichensprache nicht gesehen habe? Halten Sie mich für blind? Warum sagen Sie es nicht offen und ehrlich, wenn Sie mich los sein wollen — was? Ist das eine Art und Weise unter Kameraden? Für was halten Sie mich eigentlich?”

Sternberg hatte sich erhoben: „Sie sind einmal wieder betrunken, lieber Freund, Sie sollten sich schlafen legen.”

In höchster Wuth trat Brachwitz ihm entgegen! „Was bin ich? Betrunken? Wer sind Sie eigentlich, daß Sie mir so etwas zu sagen wagen? Betrunken? He — he — ich und betrunken, das wird immer schöner!”

Die Kameraden suchten dazwischenzutreten, aber Brachwitz schob sie zur Seite und stand Sternberg, der auch nicht einen Augenblick seine Ruhe verlor, ganz nahe gegenüber: „Sie, sagen Sie mal, wie kommen Sie eigentlich dazu, mir hier Vorschriften zu machen? Glauben Sie, weil Sie nun General­stabs­streifen bekommen, ich ließe mir was von Ihnen sagen? Von solchem grünen Jungen?”

Jeder Blutstropfen war aus Sternberg's Gesicht gewichen, dennoch blieb er ruhig: „Morgen sprechen wir weiter miteinander.”

Abermals wollte Sternberg vorübergehen, aber wieder trat Brachwitz ihm in den Weg.

„Wollen Sie mir Abbitte leisten? Ja oder nein?”

„Sie um Vezeihung bitten?” sagte Sternberg lächelnd, „ich wüßte wirklich nicht wofür?”

Und da geschah etwas so gräßliches, so unerhörtes, daß keiner es zu begreifen vermochte.

Brachwitz hatte die Hand erhoben, und ehe jemand daran gedacht hatte, ihn zurückzuhalten, war sie schallend auf Sternberg's Wange gefallen. Dieser war zurückgetaumelt, sein Gesicht war todtenblaß, dunkelroth hoben sich die Spuren des Schlages ab.

Ein jähes Entsetzen lähmte alle — der Rausch war verflogen, selbst Brachwitz hatte seine Besinnung wieder erlangt, seine Wuth war verflogen, als er sah, was er angerichtet hatte; der Schrecken über das, was er gethan, überfiel ihn, er stierte auf Sternberg wie ein Mörder auf sein Opfer, das todt zu seinen Füßen liegt.

„Selbsrverständlich stehe ich Ihnen jede Minute zur Verfügung — ich gehe jetzt nach Hause; Ihre Zeugen werden mich dort antreffen.”

Brachwitz war gegangen, und allmählich kamen die andern zum klaren Bewußtsein dessen, was geschehen war.

Die Kameraden umringten Sternberg, der noch immer wie geistesabwesend vor sich hinsah und das Unbegreifliche noch immer nicht zu fassen vermochte. Mit Windeseile hatten alle von dem Vorfall Kenntniß erhalten; aus den übrigen Zimmern kamen die Freunde herbeigeeilt, um genaueres zu erfahren. Der Rausch war verflogen, die Musik war auf einen Wink des Adjutanten verstummt, das Lachen und Scherzen hatte aufgehört; es herrschte eine fast unheimliche Stille.

„Sternberg, wollen Sie die Angelegenheit in meine Hände legen? Ich verspreche Ihnen, daß ich sie zu einem guten Ende führen will.”

Sternberg sah auf und reichte Herrn von Marschall, den er besonders hochschätzte, und dessen treue Freundschaft er zu wiederholten malen zu erproben Gelegenheit gehabt hatte, die Hand.

„Ich danke Ihnen, Lieber; bitte, arrangiren Sie das Weitere. Auch ich werde mich nach Hause begeben; ich erwarte Sie dann dort.”

„Soll nicht einer der Kameraden Sie begleiten?” fragte Marschall. Sternberg lehnte aber dankend ab. Er reichte den Freunden die Hand, die diese theilnehmend mit Worten des Trostes drückten. Die Ordonnanz abwehrend, die ihm behülflich sein wollte, ergriff er Mütze und Mantel und verabschiedete sich.

Den Blick zu Boden gesenkt, legte er den Weg nach seiner Wohnung zurück. Noch immer glaubte er den Schlag zu verspüren — die Wange brannte vor Scham und Zorn — er kam sich vor wie ein Entehrter, der nicht das Recht hatte, sein Haupt stolz und hoch zu tragen.

Der Bursche, der, seinen Herrn nicht so früh zurückerwartend, es sich in dessen Wohnzimmer gemüthlich gemacht hatte, war nicht wenig erschrocken, als er die Schritte seines Lieutenants plötzlich auf dem Corridor vernahm.

Nun gibt's ein heiliges Donnerwetter, dachte er; aber kein Wort des Tadels kam über die Lippen des Vorgesetzten.

„Es ist gut, daß Sie noch wach sind, Georg; Sie müssen auch vorläufig noch aufbleiben. Die Hausthür soll noch nicht geschlossen werden; ich erwarte Besuch, der mich unter allen Umständen antreffen muß. Sie können gehen, ich werde Sie rufen, wenn ich Sie brauche.”

Nun war er allein, mit großen Schritten ging er in seinem Zimmer auf und ab.

Seine Gedanken schweiften in einem Kreislauf von seiner Braut zu dem Vorfall im Casino; er dachte nur an das, was sich im Verlaufe weniger Stunden abgespielt hatte, nicht an das, was nun folgen würde, folgen mußte.

„Du warst so glücklich, so grenzenlos glücklich heute Mittag!” sprach er zu sich selbst, „du glaubtest die Welt erobern zu können, glaubtest, daß dir jetzt nie etwas wieder Kummer und Schmerz bereiten könne — und nun läßt du dich zu Boden schmettern durch die That eines Trunkenen, glaubst, du könntest nie wieder froh werden, hältst dein Leben für vernichtet!”

Und plötzlich kam ihm der Gedanke: Was dann, wenn dein Leben nun wirklich vernichtet, wenn es am Ende ist?

Nein, nein, schrie es in ihm auf, ich will nicht sterben, nicht jetzt, wo das Leben vor mir liegt im rosigsten Schein, wo ich errungen habe, wonach ich jahrelang gestrebt, wo ich den Lohn ernten soll für meine Arbeit! Nein, nein, das kann der Himmel nicht wollen, meinetwegen nicht, Anna's wegen nicht! Was würde aus ihr werden, wenn ich nun plötzlich fort müßte aus dieser Welt — um eines Buben willen!

Gleich darauf aber tröstete er sich: „Aber dahin wird es nicht kommen; Marschall wird dafür sorgen, daß mir Genugthuung wird, glänzende Genugthuung, ohne daß es zum Duell kommt; er wird nicht zugeben, daß ich mich mit einem Menschen schieße, der durch seine That sich des Standes, dem er anzugehören die Ehre hat, unwürdig gemacht hat.” Er gedachte der Worte, die in den Allerhöchsten Bestimmungen über die Ehrengerichte enthalten sind: „Einen Offizier, welcher im Stande ist, die Ehre eines Kameraden in frevelhafter Weise zu verletzen, werde ich nicht in meinem Heere dulden.”

Und frevelhaft hatte Brachwitz gehandelt. Die Ehre, das köstlichste Gut eines jeden Offiziers, das rein und fleckenlos zu erhalten sein ganzes Streben sein muß, hatte er vernichtet — seine Ehre und die seines Kameraden.

„Marschall wird ihn nicht mehr für satisfactionsfähig erklären,” sprach Sternberg zu sich selbst, „ er wird ihm sagen, daß ein anständiger Mensch sich nicht mit ihm schlagen darf — ja, gewiß, das wird er.” —

Eine Stunde nach der andern verrann, und noch immer ging Sternberg ruhelos auf und ab. Wo Marschall nur blieb?

Endlich, endlich, für den Wartenden nach einer Ewigkeit, hörte er den Klang der elektrischen Glocke. Der Diener öffnete.

„Herr Lieutenant zu Hause?” fragte eine Stimme. und gleich darauf trat Marschall ins Zimmer.

„Nun?”

Marschall sah sich um, ob die Thür auch hinter ihm geschlossen, ob der Diener nicht etwa im Zimmer sei, dann sagte er:

„Morgen früh beim Kugelfang hinter dem Scheibenstand — fünf Schritt Barriere — Kugelwechsel bis zur Kampfunfähigkeit.”

Also doch — Sternberg's Herz hörte für eine Secunde auf zu schlagen, eine Schwäche befiel ihn, aber gleich hatte er sich wieder gefaßt.

„Und um welche Zeit ist das Rendezvous?”

„Um acht Uhr — früher ist es jetzt nicht hell genug — die Stunde ist Ihnen doch recht?”

Um acht Uhr — zu derselben Zeit, da seine Braut ihn erwartete!

„Selbstverständlich — und Brachwitz — was sagte der?”

Marschall hatte sich auf das Sofa gesetzt und eine Cigarre angezündet, die Sternberg ihm anbot.

„Brachwitz? Feig war er natürlich, wie das bei einer solchen Natur nicht anders zu erwarten ist. Oeffentliche Abbitte, das war das einzige, wozu er sich anfangs bereit erklärte. Ich habe ihm aber die Augen geöffnet und ihm auseinandergesetzt, daß man wohl ein beleidigendes Wort zurücknehmen könne, eine thätliche Beleidigung aber nur durch Blut gesühnt würde. Lange zauderte er, da sagte ich zu ihm: »Brachwitz, als Offizier sind Sie doch fertig, da haben Sie ausgespielt; sichern Sie sich wenigstens einen ehrenvollen Abgang.« Da willigte er endlich ein und versprach mir hoch und heilig, auch bei dem morgigen officiellen Sühneversuch nicht zurückzuziehen. Seine Secundanten gibt er mir morgen früh rechtzeitig bekannt. Da es Kameraden sind, glaubte ich ihm in Ihrem Namen versichern zu dürfen, daß es Ihnen gleich sei, wen er wähle. Ihnen wird außer mir noch der kleine Baron zur Seite stehen; ich hoffe, Sie billigen meine Abmachung.”

Sternberg reichte dem Freund die Hand. „Ich danke Ihnen herzlich. Wollen Sie mich morgen früh rechtzeitig abholen?”

„Selbstverständlich; um halb acht Uhr fahre ich mit dem Stabsarzt, der benachrichtigt ist, hier vor; der kleine Baron reitet hinaus. Wenn Sie für mich noch irgendwelche Befehle haben, verfügen Sie über mich.”

Sternberg lehnte dankend ab: „Ich wüßte wirklich nicht, womit ich Sie noch weiter belästigen sollte. Nun aber wollen wir uns beide schlafen legen; es war ein ereignißreicher Tag — hoffentlich nicht der letzte in meinem Leben.”

„Wo denken Sie hin?” sagte Marschall lachend. „Sie haben ja den ersten Schuß. Geben Sie dem Burschen einen ordentlichen Denkzettel, er hat es wahrlich verdient um Sie, um uns alle. Und wenn ich Ihnen einen guten Rath geben darf, schreiben Sie keine Abschiedsbriefe an die Ihrigen; das bringt Unglück, glauben Sie mir, ich spreche aus Erfahrung; es ist leider nicht das erste Duell, bei dem ich secundire. Ziehen Sie sich die Decke über die Ohren und schlafen Sie den Schlaf des Gerechten, dann haben Sie eine viel sicherere Hand, als wenn Sie die ganze Nacht hindurch am Schreibtisch sitzen. Und nun gute Nacht — auf Wiedersehen morgen früh.”

Sternberg rief den Diener herbei, der dem Gast leuchtete, und entkleidete sich dann.

Vielleicht bringt mir Marschall's Rathschlag Glück, dachte er, ich will handeln nach seinen Worten; vielleicht schlafe ich wirklich einen Augenblick.

Wohl eine halbe Stunde lag er in Gedanken noch wach, dann erbarmte der Schlummer sich seiner.

Der Diener hatte Mühe, ihn zu wecken. Kaum hatte Sternberg Toilette gemacht, als Marschall ins Zimmer trat, um ihn zum Rendezvous abzuholen.

Es schlug gerade acht Uhr, als sie am Platz eintrafen.

Nun wird Anna schon am Fenster stehen und die Straße hinuntersehen, ob du immer noch nicht kommst, dachte er unwillkürlich, dann aber wurden seine Gedanken abgelenkt.

Er begrüßte die der Vorschrift gemäß anwesenden Mitglieder des Ehrenraths, machte seinem Gegner eine stumme, aber höfliche Verbeugung und sah dann zu, wie die Secundanten die Distanz abschritten und die Waffen auslosten.

Die üblichen Formalitäten wurden schnell erledigt, dann ergriffen die Duellanten, nachdem sie die Oberkleider abgelegt, die Waffen und traten auf die von den Secundanten bezeichneten Plätze.

Sternberg war ein vorzüglicher Schütze, und jetzt, wo er die Pistole in der Hand hatte, fühlte er sich so ruhig und sicher, wie nur denkbar.

Auf das Zeichen der Secundanten avancirte Sternberg, dann machte er halt, erhob die Waffe, zielte und drückte los.

Der Schuß saß, die Kugel hatte das rechte Schultergelenk des Gegners zertrümmert, es quoll Blut hervor, Brachwitz taumelte zurück, und der erhobene Arm sank schlaff nieder.

Die Secundanten wollten hinzuspringen, um ihn zu stützen, aber er rief ihnen ein kurzes „Streifschuß” zu, und Sternberg erschrak vor der Wuth und dem Ingrimm, der aus des Gegners Zügen sprach. Mit der gesunden Linken hob er den verwundeten rechten Arm — eine eiserne Energie ließ die rechte Hand die Waffe ruhig und fest halten.

Die Secunden, die Brachwitz zielte, deuchten Sternberg eine Ewigkeit.

Drücken Sie los, wollte er ihm zurufen, da fühlte er einen brennenden Schmerz in seinem Herzen. Die Sinne schwanden ihm — leblos fiel er vornüber zur Erde.

Der Schuß war verhallt, der Pulverrauch hatte sich verzogen — ein blühendes Menschenleben war vernichtet.


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© Karlheinz Everts