Etwas vom Küssen, Rauchen und Pudern.

Plauderei von Freiherr v. Schlicht.

in: Weimarisches Sonntagsblatt, Unterhaltungs-Beilage zur
Allg. Thür. Landeszeitung Deutschland vom 14.März 1926

Das Küssen ist eine Kunst, die alle üben, die aber nur wenige verstehen, denn es kommt nicht nur darauf an, daß und wen man küßt, sondern wann, wie und wohin man küßt. Man muß es verstehen, für jeden Kuß den richtigen Augenblick und die richtige Stelle zu finden. Schon der selige Grillparzer sagte: Auf die Hände küßt die Achtung, Freundschaft auf die offene Stirn, auf die Wange Wohlgefallen, sel'ge Liebe auf den Mund, aufs geschlossene Aug' die Sehnsucht, in die hohle Hand Verlangen, Arm und Nacken die Begierde, überall sonst Raserei. Man muß den Kuß beherrschen wie die Sprache, und wie man in der Unterhaltung nicht immer dasselbe sagen darf, wenn man nicht sehr bald als dumm und langweilig dastehen will, so darf man auch nicht immer denselben Kuß geben, sonst sagt sie oder auch er vielleicht eines Tages: Mein Gott, wie küßt du langweilig. Und wenn erst jemand, einerlei ob männlichen oder weiblichen Geschlechts, findet, daß er langweilig geküßt wird, dann sucht er oder sie sich sehr bald einen anderen Partner, der das Küssen besser versteht.

Ja, ja, das Küssen, das wirklich richtige Küssen ist gar nicht so einfach, wie sich das ein harmloser Konfirmandenjüngling, selbst wenn er schon längst konfirmiert ist, zuweilen einbildet, und auch die meisten jungen Mädchen haben von dem Küssen und von dem Reiz eines wirklich richtigen Kusses gar keine Ahnung. Sie verstehen es weder, zu küssen, noch sich küssen zu lassen, denn wenn sie das täten, würden sie sofort ein für allemal ihre Zigarette an die Wand werfen, denn während früher, als ich noch jung war, ein Kuß von frischen rosigen Mädchenlippen wie süßer Marzipan schmeckte, schmeckt er jetzt wie ein kalter Zigarettenstummel und die Lippen eines jungen Mädchens sind heutzutage häufig weiter nichts wie der Eingang in einen Zigarettenladen oder in eine Räucherkammer. Mädchenlippen, die nach Tabak schmecken, wer kann an denen noch Genuß entdecken? Ein gar schrecklicher Reim, auf den gar manche holde Maid vielleicht erwidern wird: „Ja, die Herren rauchen doch aber auch und die Lippen eines Mannes schmecken doch erst recht nach Tabak,” worauf ich mir meinerseits die Gegenbemerkung erlaube: „Dafür ist der Herr aber auch männlichen Geschlechts, und das Rauchen ist eine männliche Eigenschaft, wie das Essen von Schokolade und Pralinés eine weibliche, und schließlich findet eine kußhungrige Jungfrau selbst heutzutage noch einen Mann, der nicht raucht, aber wo findet ein Herr heute noch ein nichtrauchendes junges Mädchen?” Das sind Ausnahmen, die man nicht nur mit der Laterne, sondern mit einem riesengroßen Scheinwerfer suchen muß, ohne sie zu finden.

Das weibliche Geschlecht raucht heute fast noch mehr Zigaretten als das männliche, und wie lange wird es noch dauern, dann wird die holde Weiblichkeit dieser ihrer Leidenschaft auf offener Straße mit derselben Begeisterung und Selbstverständlichkeit huldigen, wie heute schon in den öffentlichen Restaurants und den Kaffees, eingedenk des so schönen modernen Wortes: Je männlicher wir uns benehmen, desto weiblicher wirken wir, desto eher fliegen die Männer auf uns. Nicht nur Neugierde, sondern auch Einbildung, dein Name ist Weib! Und was nicht nur mich persönlich immer wieder wundert: glauben die jungen Mädchen und die jungen Frauen, die doch sonst so eitel sind, daß auf ihren Spiegel das Dichterwort paßt: Ich kann den Blick nicht von dir wenden, ich muß dich anschaun immerdar, ja, glauben die jungen Damen es denn wirklich, daß es schön aussieht, wenn sie in den öffentlichen Lokalen den Zigarettenrauch in die Lunge saugen, wenn sie auf den eingeatmeten Rauch verschiedene Stücke Kuchen packen und dann plötzlich wieder den Rauch durch den Mund oder durch die Nase in die Luft jagen, wie ein Walfisch, der aus der Meeresflut auftaucht, den Wasserstrahl? Und glauben die jungen und die verheirateten Damen denn wirklich, daß es schön aussieht, wenn sie zwischen ihren Lippen einen ganz kurzen Zigarettenstummel halten, sich mit dem zwischen den Lippen sogar unterhalten und den dann schließlich in den Aschenbecher oder auf den Fußboden, mit Erlaubnis zu sagen, ausspucken, wie das sehr, sehr oft geschieht? Ach nein, schön sieht das weiß Gott nicht aus, sogar sehr im Gegenteil, ganz abgesehen davon, daß das Rauchen für die weiblichen Lungen ja so ziemlich das Ungesündeste ist, was man sich nur denken Kann, aber was geht die jungen Mädchen ihre Gesundheit an, wenn sie nur modern sind?

Wir leben im Zeitalter der Wege zur Kraft und Schönheit. Diese Wege wandeln die jungen Mädchen und Frauen nach Maßgabe ihrer leiblichen Fähigkeiten und Geschicklichkeiten des Morgens, da mensendiecken sie drauflos, daß ihnen die Glieder in allen Gelenken knacken, und der modernen schlanken Linie bringen sie, ohne auch nur zu klagen, selbst das größte Opfer. Um schlank zu werden und zu bleiben, haben sie keine Zeit, müde zu sein, da hungern sie lachenden Mundes, tun alles, was sonst noch von ihnen verlangt wird, und die liebe Eitelkeit verlangt da sehr viel von ihnen. Morgens wird gemensendieckt und abends? Wie heißt das alte Lied: Was ich bei Tag verdient mit meiner Leier, das geht des Abends wieder in den Wind. Morgens verdienen, abends vergeuden, morgens die Lungen stählen und stärken, abends sie wieder krank machen und ruinieren, das ist der höchste Schick! Na aber damit kann es ja jeder halten wie der berühmte Pfarrer Aßmann.

Aber das Rauchen des weiblichen Geschlechts ist auch schon deshalb so wenig schön, weil auch das Rauchen, ebenso wie das Küssen, eine Kunst ist, die ebenfalls alle üben, die aber wirklich nur sehr wenige verstehen, nicht nur sehr wenige Herren, sondern erst recht sehr wenige Damen. Man könnte beinahe sagen, aus der Art, wie jemand raucht, kann man mit unfehlbarer Sicherheit auf die gesellschaftliche Bildung des Betreffenden schließen. Ein wirklicher Gentleman wird auf der Straße niemals die brennende Zigarre im Mund behalten, sondern sie nach jedem Zuge aus dem Munde herausnehmen, soweit er überhaupt auf der Straße raucht. Und neulich sah ich hier einen Herrn, ich nehme es zu seiner Ehre an, daß es ein Fremder war, der ging mit halboffenem Munde und hatte an der herunter hängenden Unterlippe den winzig kleinen Rest eines kleinen Zigarettenstummels kleben und machte dabei ein so blödsinnig dummes Gesicht, daß ich ihm am liebsten zugerufen hätte: Mensch, besieh dich nur einmal so in deinem Spiegel, dann wirst du sicher vor dir selber Ekel empfinden, ganz bestimmt wirst du dann aber jede Hoffnung aufgeben, mit der Zigarettenstummelvisage auf deinem heutigen Bummel irgendwelche Eroberung machen zu können. Aber dann unterdrückte ich den Zuruf doch, denn selbst ein Pavian ist in seinen eigenen Augen bekanntlich immer der schönste aller Adonisse.

Selbst von den Herren verstehen nur die wenigsten die Kunst zu rauchen, aber die Damen verstehen sie erst recht nicht, denn die meisten von ihnen wissen nicht einmal, wie und zwischen welchen Fingern man die Zigarette zu halten hat. Und erst recht ahnen sie nicht, daß es sich für eine Dame nicht schickt, es den Männern mit dem Kettenrauchen gleichtun zu wollen. Quod licet Jovi, non licet Bovi, was dem Jupiter erlaubt ist, schickt sich nicht für das Rind, womit natürlich nicht gesagt sein soll, daß jede kettenrauchende Mann ein Jupiter ist und daß jedes rauchend weibliche Wesen einem bovi gleicht. Aber trotzdem, auch im Genießen halte Maß, wobei ich es noch sehr bezweifeln möchte, daß für alle rauchenden weiblichen Wesen das Rauchen – meistens qualmen sie nur ohne jeden Sinn und Verstand – auch wirklich ein Genuß ist.

Aber trotzdem, jedes Zuviel ist ein Zuviel, bei dem Rauchen, bei dem Küssen — und erst recht bei dem Pudern, der Lieblingsbeschäftigung der modernen jungen Mädchen und Frauen. Wenn früher ein kleines Kind in der Wiege lag, spielte es, auch wenn es ein Mädel war, mit der Klingelbüchse, heute lernt es schon in der Wiege die schwierige Kunst, sich richtig zu pudern. Aus meiner Primanerzeit entsinne ich mich einer bildhübschen jungen Chilenin, um deren Gunst Faustkämpfe aufgeführt wurden, gegen die der Boxkampf Paolino–Diener ein harmloses Kinderspiel war, bis dann schließlich wie überall der Stärkste der Sieger blieb, der auch schon an demselben Abend die hübsche Chilenin nach allen Regeln der Kunst abküßte, das aber nur, um uns bereits am nächsten Morgen ganz entrüstet zu erklären: Das Mädel schenke ich Euch, das kann jeder von mir haben, der will, denn das habe ich gestern abend nicht nur ganz deutlich gesehen, sondern auch, pfui Teufel, ganz deutlich geschmeckt, die pudert sich. Und damit war in uns allen die Liebe zu der hübschen Chilenin erstorben, denn sich zu pudern war damals das Vorrecht jener jungen Mädchen, mit denen ein moralisch und sittlich veranlagter Jüngling sich schon deshalb nicht abgab, weil er von der Schule geschaßt wurde, wenn er es doch tat.

Das war vor etwa 40 Jahren, und heute? Wo ist das junge Mädchen, das sich nicht pudert und das nicht ganz genau darüber unterrichtet ist, daß eine Blondine nur weißen oder rosa Puder verwenden darf, während sie ihre Augen mit leichtem Blau unterlegt, und daß eine Schwarze niemals rosa verwendet, sondern nur Hautfarbe oder einen gelblichen Ton, während braune Haare am besten lila vertragen. So sich einer oder eine über diese meine fabelhaften Puderkenntnisse wundern sollte, sei ihm gleich verraten, woher ich die habe, aus der eben so vornehmen wie spottbilligen neuen Monatsschrift „Die schöne Frau”, die hierdurch kennen gelernt zu haben mir sicher sehr bald viele Damen danken werden.

Aber diese Kenntnisse, die ich mir erst heute angeeignet habe, lernt ein modernes junges Mädchen spätestens schon in der Schule, und wenn es in das heiratsfähige Alter kommt, spielt bei der Aussteuer alles, was zum Pudern gehört, sicher nicht die kleinste Rolle. Wo trifft man noch ein junges Mädchen, das nicht, ganz einerlei ob auf der Straße, im Büro oder in den öffentlichen Lokalen, alle ihre Puderutensilien bei sich trägt, und von denen nicht überall den ungeniertesten Gebrauch macht, von denen, aber erst recht von dem Lippenstift, mit dem die Lippen nicht nur gerötet, sondern so rot angestrichen werden, daß sich der Kußmund dadurch entstellt und daß ein jeder Herr von Geschmack den vorher eigentlich in eine chemische Reinigungsanstalt schicken müßte, bevor er ihn küßt. Und was würde bei diesem Reiningsprozeß nicht erst alles entfernt werden müssen! Auf dem Klebstoff des Lippenstiftes die dort von den Zigaretten zurückgebliebenen kleinen Tabaksreste, dann die Lippenstiftpomade, unter der wieder Tabak, dann wieder Spuren des Lippenstiftes und das ginge durch viele Schichten so weiter, bis die Lippen endlich im Naturzustande sichtbar würden.

Da hatte man es früher doch besser. Wenn man da küssen wollte, und wann wollte man das nicht, hatte man sein Mädel immer gleich im gebrauchsfertigen Zustande vor sich, da brauchte man nicht erst nach Wasser und Seife oder gar nach Spindler zu rufen, und ich bin froh, daß ich früher küssen durfte und geküßt habe und daß es mir da nicht so ging, wie letzthin dem dreiviertel erwachsenen Sohn eines mir befreundeten Herrn, der in meiner Gegenwart von seinem Vater eine schallende Ohrfeige erhielt, während er ihm dabei mit Donnerstimme zurief: „Daß du trotz deiner Jahre immer noch gar kein wirklicher Junge, sondern ein weiblicher Waschlappen bist, habe ich dir leider ja schon längst angemerkt — aber daß du es jetzt den Weibern nachmachst und dir als Bengel deine Lippen mit dem Lippenstift bearbeitest, da hört sich doch wirklich die Weltgeschichte auf.”

Die Maulschelle aber war, wie so manche andere, nicht verdient, denn der Junge hatte natürlich gar nicht selbst mit dem Lippenstift gearbeitet, sondern die Heißgeliebte seines Herzens lediglich auf den frischen rosigen Mund geküßt.

Und dabei hatte das Mädel natürlich abgefärbt.

Früher sang man: Nur für die Natur hegte sie Sympathie.

Und heute? Nur von Natur — findet man — keine Spur — gleich den anderen süßen Ländern — sich den ganzen Tag zu pudern, — das ist schick jetzt wie noch nie!


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© Karlheinz Everts