Die Kravatte

Von Freiherr von Schlicht.
in: „Treulose Frauen”


Herr von Aberg hatte in seinem Klub den Ruf, der am besten angezogene Herr zu sein, er kaufte seine Anzüge in London, seine Stiefel in Paris und seine Wäsche bezog er aus Wien. Er gab für seine Garderobe sehr viel Geld aus, nur in einem einzigen Punkte stand er nach Ansicht seiner Freunde nicht ganz auf der Höhe: er trug keine Selbstbinder, sondern stets fertige Kravatten. Allerdings waren dieselben aus Paris und so untadelhaft gearbeitet, dass sie den Selbstbindern auf ein Haar glichen, aber es waren doch immer fertige Kravatten, und so etwas trägt man doch eigentlich nicht — wenn Herr von Aberg es dennoch that, so hatte dies lediglich seinen Grund darin, dass er von einer beinahe lächerlichen Ungeschicklichkeit war. Trotzdem er es unzählige Male versucht hatte, bekam er den Kniff, die Kravatte zu binden, nicht heraus, die Schleife sass absolut nicht, und lieber ging er mit einer gut sitzenden fertigen Kravatte, als mit einer schlecht sitzenden Schleife, die er sich selbst gebunden hatte.

Er ärgerte sich selbst darüber und hatte schon alles mögliche gethan, um hinter das Geheimniszu kommen, er hatte sogar einmal vier Wochen lang eine bildhübsche Verkäuferin aus dem ersten Herren–Konfektionsgeschäft engagiert, die ihm des Abend nach dem Ladenschluss in einer eigens zu diesem Zweck gemieteten Wohnung in dem Binden der Kravatte Unterricht geben sollte — aber er hatte bei diesem Kursus nur gelernt, wie man eine Kravatte bei dem Ausziehen löst, nicht, wie man sie bei dem Anziehen bindet. Er sah das Vergebliche seiner Bemühungen ein und entliess die kleine Konfektioneuse wieder, nachdem er ihre reichlich fliessenden Thränen durch einige hundert Mark zu stillen verstanden hatte — der Abschied wurde auch ihm nicht ganz leicht, aber es musste sein, da das Verhältnis, das er mit ihr unterhielt, durch einen Zufall bekannt geworden war.

Und so etwas liebte er nicht: schon nicht mit Rücksicht auf seine Frau. Er vertrat den Grundsatz: die Treue ist ein leerer Wahn, man kann thun, was man will, aber man darf sie(1) nie so weit kommen lassen, dass irgendwie darüber gesprochen wird.

Herr von Aberg führte ein sehr beneidenswertes Dasein: er war früher Kavallerie–Offizier gewesen, hatte aber schon als Oberleutnant nach einem Duell mit seinem Rittmeister seinen Abschied genommen und sich sehr bald darauf verheiratet. Er lebte in der denkbar glücklichsten Ehe und warum auch nicht? Seine Frau war eine selten schöne Erscheinung, sie war heiter und liebenswürdig und war in der Wahl ihres Vaters sehr vorsichtig gewesen: sie verfügte über eine jährliche Rente von ungefähr hunderttausend Mark und das setzte ihn in den Stand, ganz seinen Neigungen und Passionen zu leben: er hielt sich sehr schöne Pferde, er reiste sehr viel und genoss das Leben mit vollen Zügen.

Er war seiner Frau nicht nur sehr zugethan, sondern er liebte sie wirklich, aber das hinderte ihn nicht, auch noch andere zu lieben. Er war kein Roué, aber er war ein Lebemann, der bei den Frauen ein unerhörtes Glück hatte(2). Er liess sich lieben und liebte wieder und es kam fast nie vor, dass er sich abends schlafen legte, ohne wenigstens eine schöne Frau oder ein schönes junges Mädchen in seinen Armen gehalten und ihr seine Liebe gestanden zu haben. Passierte es ihm aber dennoch, dass die Nacht kam, ohne ihm einen Erfolg gebracht zu haben, dann stöhnte er traurig: Diem perdidi, ich habe einen Tag umsonst gelebt. Dann war er sehr betrübt und nahm sich vor, am nächsten Tag das Versäumte nachzuholen.

Herr von Aberg war ein schöner Mann, aber mehr noch als seinem Aeusseren verdankte er seine Erfolge bei den Damen seiner unglaublichen Frechheit: er nahm jede Festung im Sturm und nichts war nach seiner Ansicht thörichter, als sich erst lange mit der Einleitung aufzuhalten. Er ging gleich auf das Ganze und seine Erfolge bewiesen, dass seine Taktik richtig war. Sein Herz sprach nur in den allerseltensten Fällen mit, er glaubte zuweilen selbst, gar keins zu besitzen — aber jetzt, da er den Brief las, den er vor wenigen Minuten erhalten, hörte und fühlte er es doch rasch und schnell schlagen.

„Geliebter,” lauteten die wenigen Zeilen, die er immer von neuem an seine Lippen führte, „endlich, endlich bin ich wieder da — ich sehne mich nach Dir, und erwarte mit Ungeduld den Augenblick, da Du bei mir bist. Komm, bitte, wie immer um fünf Uhr und lass nicht vergebens warten

Deine Dich über alles liebende

Lola.”

„Endlich, endlich,” jubelte es in ihm auf und er beschwor die Erinnerung an die herrlichen Stunden wieder herauf, die er mit der Geliebten verlebt hatte. Er sah sie im Geiste vor sich, er glaubte ihre heissen, leidenschaftlichen Küsse zu fühlen, in seinen Ohren klang ihr helles, heiteres Lachen, das sie oftmals anstimmte, wenn er, trotz der leisen Schläge, die sie ihm auf die Finger gab, mit geschickten Händen die Schleifen ihres seidenen Schlafrocks löste und den Rock zu Boden streifte. Er sah ihren herrlichen Körper vor sich und er sah sie erröten unter seinen leidenschaftlichen Küssen, mit denen er ihren Hals und ihren Busen bedeckte. Er sah ihre rosigen Füsse zwischen den hohen durchbrochenen, seidenen Strümpfen hervorschimmern und das kokette blauseidene Strumpfband mit der goldenen Schnalle über ihrem Knie leuchten.

Die Sehnsucht, die Begierde, das herrliche Weib in seinen Armen zu halten, erwachte in ihm und ungeduldig sah er nach der Uhr. Er wusste, es war noch früh, kaum 12 Uhr vormittags, trotzdem blickte er auf die Zeiger, als hoffe er, dass sie ihm zu Liebe schneller vorrücken sollten.

Auf einem Ball hatte er die schöne Frau kennen gelernt. „Wer ist das Götterweib?” hatte er einen Bekannten gefragt.

„Meine Frau,” hatte da hinter ihm eine Stimme gesagt. Für den zehnten Bruchteil einer Sekunde war er etwas verlegen gewesen, dann hatte er sich schnell gefasst, eine artige Entschuldigung ausgesprochen und sich dann durch den Gatten vorstellen lassen.

„Und wenn die Welt untergehen soll, die muss Dir angehören,” hatte er gedacht, dann hatte er sofort den Angriff unternommen und war mit einer Frechheit vorgegangen, vor der er fast selbst erschrak.

„Du darfst Dich nicht wundern, wenn die schöne Frau sich soweit vergisst, Dir hier im offenen Ballsaal eine Ohrfeige zu geben,” dachte er.

Aber sie schlug ihn nicht, sie lachte ihr glockenreines Lachen, das ihn noch mehr für sie begeisterte.

„Wann sind Sie morgen allein zu Haus, gnädige Frau?” hatte er sie zum Abschied gefragt.

„Für Sie gar nicht,” hatte sie lachend erwidert.

Er hatte sich stumm verbeugt, aber am nächsten Nachmittag um fünf Uhr, eine Viertelstunde nachdem ihr Mann, der, wie er erfahren hatte, nachmittags von fünf bis sieben in seinem Bureau war, das Hasu verlassen hatte, ihr seinen Besuch gemacht.

Sie hatte ihn angenommen, lediglich, wie sie sagte, um ihm die Thür zu weisen, aber als er sie nach einer guten Stunde verliess, da war er der glückseligste Mensch auf der ganzen Erde

Die schöne Frau dagegen war trotz der Liebe, die sie für ihn empfand, tief unglücklich — es war das erste Mal, dass sie ihrem Gatten untreu gewesen war.

„Ich schwöre es Dir, es ist das erste Mal,” hatte sie immer und immer wieder versichert und, während er ihre Thränen küsste, die ihr die Wangen herabliefen, sagte er: „Ich glaub's, mein Lieb, ich glaub's.”

Geglaubt hatte er es natürlich trotzdem nicht.

Und schliesslich, was lag auch daran, ob sie die Wahrheit sprach oder nicht? Die Hauptsache war für ihn, dass dieses erste Mal, nicht zugleich auch das letzte Mal blieb.

Und sie sahen sich wieder, täglich.

„Der Mann muss ein entsetzlicher Troddel sein, dass er nichts merkt,” dachte er, „aber auch das geht mich ja schliesslich nichts an. Lola muss ja in dieser Hinsicht wissen, was sie thut und ihrer Dienstboten sehr sicher sein, sonst würde sie wohl nicht so energisch darauf bestehen, dass unsere Zusammenkünfte stets in ihrer eigenen Wohnung stattfinden.”

Er sah wieder nach der Uhr: Stunden mussten nach seiner Meinung verstrichen sein und doch war der Zeiger kaum zehn Minuten vorgerückt.

Wochenlang war Lola verreist gewesen. Die Gesundheit ihres Mannes hatte einen längeren Aufenthalt im Süden erforderlich gemacht und sie hatte ihn begleiten müssen.

Er hatte sie auf den Knieen beschworen, ihn allein reisen zu lassen, sie hatte versucht, seinen Wunsch zu erfüllen, sie hatte angegeben, selbst leidend und kränklich und den Anstrengungen der Reise nicht gewachsen zu sein, aber der Gatte hatte auf ihre Begleitung bestanden und mit den Worten: „Zu dulden ist des Weibes Loos auf Erden,” hatte sie sich schliesslich zu trösten versucht und sich in das Unvermeidliche gefügt.

„Schwöre es mir, dass Du mir treu bleiben willst,” hatte er zum Abschied zu ihr gesagt, „schwöre mir, dass Du selbst Deinem Manne nicht die geringste Zärtlichkeit erlauben willst, dass Du nicht duldest, dass er Dich berührt. Ich würde Dich und ihn ermorden, wenn ich wüsste, dass er in Deinen Armen die Liebkosungen geniesst, auf die ich jetzt wochenlang verzichten muss. Schwöre mir, dass Du mir treu bleibst.”

Und mit hoch erhobener Rechten hatte sie den verlangten Schwur geleistet.

Und nun war sie wieder zurückgekehrt — wie oft hatte er sich nach ihr gesehnt, jedesmal, wenn er in den langen Wochen des Alleinseins ihr die Treue brach, hatte er ihrer gedacht, und jedesmal war er zu der Ueberzeugung gekommen, dass Lola doch die Schönste von allen sei.

Wenige Stunden nur noch, dann würde er sie wiedersehen und sie würde ihn in ihre Arme nehmen mit einer Leidenschaft und mit einer Glut, die durch die lange Trennung zu hell brennenden Flammen angefacht sein musste. Er kannte ihr leidenschaftliches Temperament.

Unruhig, in ungeduldiger Erwartung der kommenden Stunden, ging er mit grossen, erregten Schritten in seinem Zmmer auf und ab, als sich plötzlich die Thür öffnete und seine Frau hereintrat. Er hielt in seiner Wanderung inne und küsste ihr galant die Stirn, die sie ihm darbot.

„Kalt,” dachte er, „eisig — Gott, wie küsst Lola.”

Er schob seiner Frau einen Sessel hin und nahm dann ihr gegenüber Platz. „Was giebt's?" fragte er, „oder treibt Dich nur die Sehnsucht nach mir hierher?”

„Wahrscheinlich,” sagte sie halb lachend, halb ärgerlich, „ich sehe Dich ja fast gar nicht mehr. Des Morgens sitzt Du in Deinem Zimmer und erledigst Deine Korrespondenz, gleich nach dem Frühstück fährst oder gehst Du aus, um erst zum Diner wieder nach Haus zu kommen und abends gehst Du meistens noch wieder in den Klub — ich habe mich chon manchmal gefragt, wozu wir eigentlich miteinander verheiratet sind.”

Er sah sie verwundert an, sein schuldbeladenes Gewissen liess ihn in den Worten, die vielleicht ganz harmlos gemeint waren, eine Anklage erblicken und er beeilte sich, sich zu verteidigen: „ich verstehe Dic nicht, Alice,” sagte er, „ich weiss gernicht, was Du mit Deinen Worten sagen willst. Ich lebe nicht einen Atom anders, als ich es vor Beginn unserer Ehe gethan habe. Ich mache mir selbst das Kompliment, der beste und aufmerksamste Ehemann zu sein — nie hörst Du aus meinem Mund ein unfreundliches Wort, nie lasse ich es an der genügenden Rücksicht Dir gegenüber fehlen, ich gebe Dir in keiner Weise auch nur den geringsten Anlass zu einem Tadel und da sagst Du, Du wüsstest nicht, wozu wir eigentlich mit einander verheiratet wären. Nimm es mir nicht übel, Alice, aber das finde ich stark, das ist beinahe beleidigend, oder hast Du vielleicht irgend einen Grund, heute besonders unzufrieden mit mir zu sein?”

„Nein, nein,” sagte sie, „das nicht, aber ich bin ärgerlich, weil ich im Voraus ganz genau weiss, dass Du mir die Bitte, die mich zu Dir führt, abschlagen wirst.”

„Aber, Alice,” sagte er vorwurfsvoll, „wie kannst Du nur so etwas behaupten, Du weisst doch ganz genau, dass ich Dir jede Bitte erfülle.”

„Jawohl,” erwiderte sie, „wenn es sich um Dinge handelt, die Du für Geld kaufen kannst, dann bist Du der beste und liebevollste aller Ehemänner, aber wenn es sich darum handelt, ein persönliches Opfer zu bringen, dann — ja, dann bist auch Du nicht besser als die anderen. Dann strikst Du und erklärst kategorisch: alles kannst Du von mir verlangen, alles, nur dies nicht, und Du denkst dann nicht daran, dass alles andere mir dann gar nichts nützen kann. Und heute habe ich eine grosse, grosse Bitte auf dem Herzen.”

Sie sah ihn mit flehenden Augen an, um ihn von vornherein milder zu stimmen und sie erreichte ihren Zweck.

Er küsste ihr zärtlich die Hand und fuhr ihr liebkosend mit der Hand über das dichte, blonde Haar: „Sprich,” bat er, „und was es auch immer sei — ich erfülle Dir Deinen Wunsch!”

„Wirklich,” jubelte sie auf, „wirklich? Unter allen Umständen?” Zur rechten Zeit fiel ihm noch ein, dass die Vorsicht der Weisheit bester Teil sei und so sagte er: „Natürlich nur dann, wenn ich es kann — aber wenn ich es kann, dann thue ich es, mein Wort darauf. Also, was giebt's?”

Sie zögerte noch einen Augenblick, dann sagte sie: „Ich habe heute morgen einen Brief von meiner Schwester erhalten, sie befindet sich auf der Durchreise und fährt heute abend um elf Uhr schon wieder weiter. Sie macht Station, um uns zu begrüßen und um heute mit uns in die Oper zu gehen und um die „Meistersinger” zu hören — Du weisst ja, für diese Oper lässt sie ihr Leben. Nun fängt das Theater aber schon um ein halb sieben Uhr an und da wollte ich Dich bitten, ob wir nicht heute ausnahmsweise einmal um fünf Uhr zu Mittag essen könnten!”

Er srang in die Höhe und ging erregt auf und ab: „Unmöglich,” sagte er, „ganz unmöglich — fordere von mir, was Du willst, alles, alles, aber nur das nicht — ich kann nicht, ich schwöre es Dir, ich kann nicht. Ich habe eine Verabredung, die ich unter allen Umständen inne halten muss, ich habe mich mit einem Herrn verabredet, der mich punkt fünf Uhr im Klub erwartet, ich muiss da sein, ich muss.”

„Aber kannst Du den Herrn denn nicht eher treffen?” fragte sie, „Du kannst ihm doch abschreiben oder den Diener schicken und ihn bitten lassen, eine Stunde eher zu kommen — länger als eine Stunde wirst Du doch nicht zu thun haben. Worum handelt es sich denn?”

Ja, wenn er das nur selbst gewusst hätte — ihm fiel im Augenblick gar nichts ein. Er dachte nur daran, dass es ihm jedesmal Mühe kostete, sich bei Lola nach anderthalb Stunden frei zu machen, die liess ihn nicht los aus ihren Armen und wenn er nicht der Verständigere von ihnen beiden gewesen wäre, so hätte der stets kurz nach sieben Uhr zurückkehrende Gatte sie schon lange ertappt. So knüpfte er denn an die Bemerkung seiner Frau an, dass die Unterredung doch nicht länger als eine Stunde dauern würde und sagte: „Du irrst, Alice, ich habe sehr, sehr viel zu thun, so schnell kann ich unmöglich fertig werden, wir müssen wenigstens anderthalb Stunden angestrengt arbeiten, sehr angestrengt, es handelt sich nämlich um,” Herr Gott, um was denn nur? stöhnte er in seinem Innern, und plötzlich kam ihm ein rettender Gedanke: „Du weisst,” sagte er, „aber vielleicht weisst Du es auch noch nicht, das ist ja auch ganz Nebensache — es ist traurig genug, dass so etwas überhaupt vorkommen kann. Na, kurz und gut, gestern abend ist es im Klub, als gespielt wurde, zu einer Differenz gekommen, die heute nachmittag erledigt werden muss. Entweder wird eine Basis geschaffen, auf der eine Versöhnung möglich ist, oder aber es kommt morgen früh zu einem Duell. — Der eine der beiden Herren, dessen Name ja nichts zur Sache thut, hat mich gebeten, seine Interessen zu vertreten und Du wirst einsehen, dass ich doch bei der Unterredung nicht fehlen und die Sache auch nicht über's Knie brechen kann — es steht viel auf dem Spiel, vielleicht das Leben eines Menschen.”

„Denn wenn ich Lola heute mittag nicht mehr sehe, sterbe ich vor Ungeduld,” sagte er sich selbst.

Seine Frau schwieg einen Augenblick. Deutlich war auf ihrem Gesicht die Enttäuschung zu lesen, dann aber entgegnete sie: „Wenn alles so ist, wie Du sagst, dann sehe ich ja ein, dass Du fort musst.”

Er sah im Geiste Lola vor sich, wie sie ihn erwartete: „Ja, ja, ich muss fort,” wiederholte er.

„Dann will ich Dich auch nicht länger belästigen,” fuhr sie fort, „aber unangenehm ist mir die Sache sehr, meine Schwester wird sehr enttäuscht sein.”

Er dachte einen Augenblick nach, dann sagte er: „Alice, ich hab's — die Sache ist ja grausam einfach. Du holst Deine Schwester von der Bahn ab, Ihr fahrt hierher, diniert um fünf Uhr und kurz nach ein halb sieben Uhr, spätestens um sieben bin ich bei Euch in der Oper.”

„Das wolltest Du wirklich thun?” fragte sie freudestrahlend, „obgleich gerade die „Meistersinger” die Oper ist, die Du nicht anhören kannst, weil Du behauptest, sie nicht zu verstehen? Willst Du wirklich mit uns ins Theater gehen? Das ist zu nett von Dir!”

Er zog sie an sich und küsste sie auf den Mund: „Habe ich Dich denn nicht lieb?” fragte er, „thue ich nicht alles, was ich kann, um Dir eine Freude zu machen? Warum soll ich nicht ins Theater kommen? Verlass Dich darauf, spätestens um sieben Uhr bin ich dort, und da die Oper um zehn Uhr zu Ende ist, können wir nach der Vorstellung noch zusammen zur Nacht essen.”

Sie reichte ihm dankend die Hand. „So viel Entgegenkommen hätte ich nicht erwartet.”

„Aber, Alice, ich bitte Dich,” sagte er, „es ist doch ganz selbstverständlich, dass ich Deine Schwester begrüsse und mich ihr widme, so viel meine Zeit es mir irgend erlaubt.”

Seine Frau verliess ihn, um der Dienerschaft die nötigen Befehle zu geben und voller Ungeduld zählte er die Stunden und die Minuten, bis er endlich, endlich seine Lola umarmen könne.

Und endlich, endlich schlug es fünf Uhr und mit dem Glockenschlag trat er in das Zimmer, in dem Lola ihn bereits mit fieberhafter Ungeduld erwartete.

„Endlich — endlich!”

Sie schlang die Arme um seinen Hals und weinte an seiner Brust vor Freude und Glückseligkeit. Dann setzte er sich auf das breite Chaiselongue und zog sie auf seinen Schoss: er küsste ihre grossen, dunklen Augen, das tiefschwarze Haar und den feingeschnittenen Mund und die verführerischen Lippen.

„Wie schön Du bist, Lola.”

Sie lächelte glückselig und schmiegte sich noch dichter an ihn und ihre Nähe, ihr heisser Atem entflammte seine Begierde fast bis zur Raserei.

„Weisst Du wohl, dass wir heute viel, viel Zeit haben, um uns zu sagen, dass wir uns lieben?” flüsterte sie ihm ins Ohr, „mein Mann hat ein geschäftliches Telegramm erhalten, das ihn veranlasste, sofort abzureisen. Wir sind ganz sicher und ungestört, vor morgen mittag kann er nicht zurück sein.”

Sie machte sich aus seinen Armen frei und erhob sich.

„Lola, ich bitte, ich beschwöre Dich — wohin willst Du?”

Sie winkte ihm mit lächelndem Mund und leuchtenden Augen, ihr zu folgen und gleich darauf schloss sich hinter ihnen die Thür des Schlafzimmers, das er heute zum ersten Mal betrat.

„Lola, ich liebe Dich und Du bist schön wie die Sonne im Aufgang.”

Tausendmal flüsterte er ihr diese Worte in das Ohr und sie schmiegte sich an ihn in seliger Lust.

Wie im Fluge gingen die Stunden dahin und erschrocken fuhr er in die Höhe, als die Uhr plötzlich neun schlug.

„Um Gottes Willen, Lola, ich muss fort,” rief er, „es ist die höchste Zeit, ich habe im Klub eine wichtige Verabredung mit einem Herrn — es handelt sich um ein Duell, bei dem ich als Sekundant fungieren soll — ich bitte Dich, lass mich gehen. Morgen, mein Lieb, sehen wir uns wieder.” —

„Auf Wiedersehen — morgen.”

Sie breitete die Arme aus und von neuem küsste sie ihn mit heissen verzehrenden Küssen.

Es war fast ein halb zehn Uhr, als er sich erhob. In aller Eile kleidete er sich an, dann stürzte er davon. Glücklicherweise traf er sofort eine Droschke und eine kleine Viertelstunde später nahm er im Hintergrunde der Prosceniumsloge Platz.

Als der Vorhang gefallen war, begrüsste er seine Damen und entschuldigte sich bei ihnen: „Seid nicht böse,” sagte er, „aber ich konnte mich nicht eher frei machen — Ihr ahnt nicht, was ich alles zu thun hatte — na, Gott sei Dank, nun ist aber auch alles erledigt.”

„Zur Zufriedenheit?” fragte ihn seine Frau, „oder kommt es zu einem Duell?”

„Nein,” sagte er, „Gottlob nicht — beide Parteien erklärten sich, als ich fort ging, für befriedigt. Aber nun wollen wir uns hier nicht länger aufhalten, ich habe den Wagen unten schon gesehen, lasst uns schnell wieder heimfahren und zur Nacht essen, ich habe einen furchtbaren Hunger.”

Aber seine Frau widersprach: „Ich möchte nach Haus, ich fühle mich nicht wohl.” —

Vergebens suchten ihr Mann und ihre Schwester sie umzustimmen, sie bestand auf ihrem Vorhaben und es blieb nichts weiter übrig, als ihren Wunsch zu erfüllen.

„Bitte, Klara,” sagte sie zu ihrer Schwester, als sie die Villa erreicht hatten, „veranlasse bitte, dass sofort der Tisch gedeckt wird und entschuldige mich eine Minute, ich möchte Fritz gern eine Minute unter vier Augen sprechen — ich komme sofort.” —

Und ihren Mann auffordernd, ihr zu folgen, schritt sie ihm voran in sein Wohnzimmer.

„Aber, was hast Du denn nur, Alice?” fragte er, sie gross ansehend, als sie sich nun gegenüberstanden, „was fehlt Dir denn nur? Trotzdem Du Dich zusammen nimmst, merke ich Dir eine Unruhe und Erregtheit an, die mir bei Dir ganz fremd ist.”

Sie ballte zornig das seidene Taschentuch zusammen, das sie in ihren Händen hielt, dann fragte sie: „Wie kommt es, dass Deine Kleider so entsetzlich nach Peau d'Espagne riechen? Du musst in einem Zimmer gewesen sein, dessen ganze Luft mit diesem Parfüm geschwängert war! Wo bist Du heut nachmittag gewesen?”

Er musste seine ganze Energie zusammen nehmen, um ihrem forschenden Blick gegenüber ruhig und gleichgiltig zu bleiben.

„Wo ich gewesen bin?” fragte er so harmlos wie nur möglich, „ich sagte es Dir schon: im Klub und wenn ich es sage, wirst Du es mir hoffentlich glauben, denn ich habe Dir noch nie Gelegenheit gegeben, auch nur den leisesten Zweifel in meine Worte zu setzen. Und was die Thatsache betrifft, dass meine Kleider nach Parfüm riechen, so habe ich schon selbst im Klub meinen Unwillen darüber geäussert, dass ein Herr, besonders wenn er zu einer so wichtigen Konferenz kommt, sich wie eine Dame parfümiert.”

Das letztere war insofern richtig, als er Lola gegenüber seine Verwunderung darüber ausgesprochen hatte, dass sie mit dem Parfüm solche Verschwendung treibe.

Er hatte ruhig und gemessen gesprochen, mit einem leichten Tadel in seinen Worten und er war überzeugt, dass er seiner Frau jeglichen Zweifel an seiner Ehrenhaftigkeit genommen hätte.

Umso grösser war daher sein Erstaunen, als sie jetzt nur mit einem leisen, spöttischen Lächeln antwortete:

„Es ist eigentlich schade, dass Du nicht Jurist geworden bist,” sagte sie schliesslich: „wenn Du die Sachen der anderen ebenso gut geführt hättest, wie jetzt Deine eigene Verteidigung, so würdest Du Dir sehr bald einen grossen Namen gemacht haben. Dass ich von dem, was Du mir eben sagtest, auch nur ein einziges Wort glauben soll, verlangst Du wohl selbst nicht.”

Er bekam es mit der Angst; seine Frau fing an, ihm fürchterlich zu werden.

Man nimmt ja nichts so übel, als wenn die Lüge, die man zu seiner eigenen Rechtfertigung spricht, nicht geglaubt wird, und so wurde er denn auch jetzt wirklich zornig.

„Ich muss es mir auf das Ernsthafteste verbitten, dass Du mir nicht glaubst und mich dadurch indirekt der Lüge beschuldigst, ich verstehe Deinen Argwohn nicht und weiss nicht, was Du mit Deinen Worten bezweckst. Ich wiederhole Dir: ich war im Klub.”

„Ohne Kravatte?” fragte sie da spöttisch lächelnd.

Er fühlte, dass er erbleichte und blitzschnell fuhr er mit der Hand nach dem Kragen — wahrhaftig, die Kravatte fehlte, er musste sie auf dem Nachttisch in Lolas Schlafzimmer liegen gelassen haben — bei der Eile, in der er sich anzog, hatte er es unterlassen, wie sonst einen Blick in den Spiegel zu werfen. Hoffentlich fand Lola die Kravatte, bevor ihr Mann sie entdeckte. Das kam davon, warum trug er keinen Selbstbinder, der bei den Klappkragen, wie er sie trug, gleichzeitig mit dem Kragen abgenommen und wieder angelegt wird — da wäre es ganz unmöglich gewesen, die Kravatte zu vergessen.

Er hätte sich wegen seiner grenzenlosen Dummheit am liebsten eine schallende Ohrfeige gegeben — er war so konsterniert, dass er unbeweglich dastand.

„Dein Erschrecken sagt mir mehr als viele Worte,” erklang da die Stimme seiner Frau, „leugne es auch jetzt noch, wenn Du kannst — Du bist mir vorhin untreu gewesen — Du hast Dich entkleidet und bei dem Anziehen Deine Kravatte vergessen. Im Klub warst Du nicht, ich fuhr dort vor, um ein Telegramm, das für Dich angekomen ist, abzugeben und erhielt von dem Portier die Antwort, Du wärest nicht dort.”

„Der Kerl ist ein Esel,” brauste ihr Gatte auf.

„Weil er die Wahrheit sagte?” fragte seine Frau ironisch, dann fuhr sie fort: „Lügen haben kurze Beine, das alte Wort bleibt immer wahr. Versuche nicht länger zu leugnen, es hat keinen Zweck. Du weist, ich bin nicht neugierig, aber wissen möchte ich doch, mit welcher Dirne —”

Seine Wangen färbten sich dunkelrot vor zorniger Erregung: „Ich bitte Dich, Dir Deine Worte zu überlegen,” rief er, in seinem Zorn die Klugheit vergessend, „Lola ist keine Dirne, sie ist eine Dame und —”

Die grenzenlose Dummheit, die er begangen, wurde ihm erst klar, als seine Frau jetzt, laut aufschluchzend, auf einen Sessel nieder sank.

„Du giebst es also selbst zu,” rief sie leidenschaftlich, „Du schämst Dich nicht, Dein Unrecht offen einzugestehen, Du wagst es, mir gegenüber Deine Geliebte noch zu verteidigen, das ist mehr als stark, dafür fehlen mir überhaupt alle Worte.”

„Mir auch,” dachte er, „aber man sieht von neuem, wie schwer man seiner Frau etwas recht machen kann — giebt man die Untreue nicht zu, dann heisst es: leugne nicht weiter, es hilft Dir doch nichts, und hat man dann in einer Anwandlung von fast idiotenhafter Dummheit sich übertölpeln lassen und es zugegeben, die Treue gebrochen zu haben, dann ist es auch nicht recht. Es ist wirklich nicht leicht ein guter Ehemann zu sein.”

Er sah auf seine Frau, die jetzt still vor sich hinweinte und das Gesicht in den Händen verborgen hielt. Ihr ganzer Körper zitterte und bebte in Erregung.

„Geschehen muss etwas,” dachte er, „so wie es augenblicklich ist, kann es nicht bleiben, ich muss meine Frau versöhnen und zwar nicht nur so bald wie möglich, sondern auch so schnell wie irgend möglich, denn ich habe einen geradezu wahnsinnigen Hunger.”

Aber wenn er geglaubt hatte, dass seine Frau ihm ebenso schnell sein Unrecht verzeihen werde, wie er es begangen hatte, dann irrte er sich, — erst nach vielen, vielen Tagen erhielt er Verzeihung und die Zeit lehrte seine Frau auch, die ihr zugefügte Kränkung zu vergessen.

Herr von Aberg schwur seiner Frau von neuem Treue und er hielt sie auch, bis er sie wieder brach, und das geschah täglich.

Mit den fertigen Kravatten aber war es vorbei. An demselben Abend, an dem seine Frau ihm das Geständnis seiner Untreue entlockte, hatte er an die bildhübsche Verkäuferin aus dem Herren–Konfektions­geschäft geschrieben und sie gebeten, ihm noch einmal Unterricht im Kravatten–Binden zu erteilen.

Und da dieses Mal, wenigstens von seiner Seite, der Unterricht sehr ernsthaft und gewissenhaft betrieben wurde, so lernte er es auch.

Und in Zukunft vergass er seine Kravatte nie wieder.


Fußnoten:

(1) Sinngemäß besser würde es hier wohl heißen: „es”. (zurück)

(2) Vergleiche hierzu den Ausschnitt aus: Christian Loidl: Wiener Mysterien. (zurück)


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© Karlheinz Everts