Der Konzert-Ulan.

Von Freiherr von Schlicht
in: „Alarm”


Es war Gesangsprobe im Musikverein. Auf einem erhöhten Podium stand der Dirigent, Herr Winterberg, und versuchte vergebens, mit seinem Taktstock Ordnung und Zusammenhang in den Gesang hineinzubringen. Es wurde das Oratorium Paulus einstudiert; augenblicklich übte man den Chorgesang: „Wie lieblich sind die Boten!” und ein Chaos von falschen Tönen und falschenEinsätzen umschwirrte den Dirigenten.

„Wie lieb-lich sind die Bo-o-ten!” setzte der Sopran nun wieder ein.

„Drei Takte zu früh!” rief Herr Winterberg, „so — jetzt!”  „Wie lieblich sind die Bo-o-ten!”  „Aber meine Damen, höher, einen halben Ton zu tief, a—a—a—a—a!”

Und nachdem er die Stimmgabel angeschlagen hatte, schrie er förmlich das „a” in die Welt hinaus, aber auch das war vergebens.

Ermattet ließ er den Taktstock sinken. „Meine Herrschaften, ich werde jetzt etwas die Zeitung lesen, wenn Sie wieder im Takt sind, lassen Sie es mich wohl wissen, dann fangen wir noch einmal von vorne an.”

Das nahmen nun die Chormitglieder, namentlich die weiblichen, sehr übel, denn sie waren sehr stolz auf das, was sie leisteten, und nach ihrer Meinung konnte es gar keine lieblicheren Boten geben, die den Frieden künden, als sie es waren.

„Winterberg ist unfähig,” sprach eine nicht mehr ganz junge Dame, die Stütze des Alts, zu ihrer Nachbarin, „ich habe neulich in meiner Musikzeitung gelesen, daß Weingartner mit der Königlichen Kapelle ein prachtvolles Konzert gegeben hat, ohne auch nur eine einzige Probe abgehalten zu haben, und wir üben den Paulus nun heute schon zum drittenmal, und es geht noch nicht.”

Sie betonte das Wort „noch” in einer Art und Weise, die deutlich die Zweifel ausdrückten, die sie in die Fähigkeit ihres Dirigenten setzte.

Herr Winterberg hatte sich inzwischen in die Restaurationsräume geflüchtet, um sich zu stärken, es war ihm ein aufrichtiges Bedürfnis, wenigstens für die Dauer von fünf Minuten etwas anderes als falsche Töne zu hören.

Der Zeiger der Uhr ging weiter. Aus den fünf Minuten, die er sich erholen wollte, waren schon zehn Minuten geworden, länger durfte er nicht fortbleiben.

Er stöhnte bei dem Gedanken, daß die Musik nun wieder ihren Anfang nehmen sollte, so laut auf, daß der Kellner herbeistürzte, um sich nach den Wünschen des einsamen Gastes zu erkundigen.

Aber Herr Winterberg winkte ihm ab und betrat gleich darauf wieder den Musiksaal, in dem die Sänger und Sängerinnen, sich unterhaltend, auf und ab gingen.

Widerwillig nur leisteten sie dem Klopfen mit dem Taktstock und der Auuforderung. „Meine Herrschaften, ich bitte, auf die Plätze!” Folge. Namentlich die Damen, die mit dem, was sie sich zu erzählen hatte, noch nicht halb fertig waren, murrten und murrten „und lehnten sich auf gegen das Gesetz”, wie es im Textbuch des Paulus heißt.

Herr Winterberg fuhr sich mit der Linken nervös durch sein spärliches Haar. „Meine Damen, dürfte ich Sie bitten, sich etwas zu beeilen? Ich habe morgen früh um acht Uhr eine Privatstunde zu geben, und bis dahin möchte ich gern zu Hause sein.”

Das war stark, und die Damen hielten auf ihrer Wanderung inne, um zu beratschlagen, ob sie sich solche Redensarten nicht verbitten sollten.

„Aber meine Damen,” flehte der Dirigent, und mit dem ganzen Schmelz seiner Stimme sang er wieder sein „a”, um alle an ihre Pflicht zu mahnen; er sang es sogar zweimal, einmal für die Damen, aber wenn er geglaubt hatte, ein zweiter Orpheus zu sein und durch die Macht der Töne alle anzulocken, dann irrte er sich.

Die Damen kamen nicht.

Gegen Rebellische, in deren Lohn und Sold man steht, zu energisch aufzutreten, oder gar, ohne es zu sein, den Vorgesetzten herauszubeißen, ist eine heikle Sache.

Viel war hier nicht zu machen, das sah Herr Winterberg ein.

Sollte er aufhören mit der Probe? Er schwankte noch, da kam ihm ein rettender Gedanke. „Meine Herrschaften” sagte er, „ich bitte für einen Augenblick um Gehör. Ich denke, bevor wir mit der Chorprobe heute fortfahren, nehmen wir erst einmal die Solos durch. Herr Leutnant von Below, der in so außerordentlich liebenswürdiger Weise die Partie des Paulus übernommen hat, wird uns sich sehr gern das eine oder das andere seiner Solos vorsingen. Nicht wahr, Herr Leutnant, Sie sind so liebenswürdig?”

Mit einem Mal stürmten alle Damen nach vorn: „Ach ja, bitte, Herr Leutnant,” erklang es von aller Lippen.

Herr von Below war Oberleutnant in dem Ulanenregiment, das in der kleinen Stadt garnisonierte. Er war von großer, schlanker, eleganter Figur; die ganze Erscheinung hatte etwas vornehm Nachlässiges, jede Bewegung verriet den Aristokraten. Sein frisches, hübsches Gesicht zierte ein kleiner, dunkler Schnurrbart, dunkel war auch sein Haupthaar, ach, und dunkel waren auch seine Augen, mit denen er „so himmlisch” dreinblicken konnte. Herr von Below war einer der leichtsinnigsten, lebenslustigsten und fidelsten Offiziere Seiner Majestät — aber seine Erfahrungen hatten ihn gelehrt, daß die meisten Damen einem schmachtenden Augenaufschlag gegenüber machtlos sind, und so hatte er es sich denn angewöhnt, immer todestraurige Augen zu machen.

Er verfügte über einen wundervollen, sehr gut geschulten Bariton, und seine Stimme bildete das Entzücken aller derer, die sie hörten. Er selbst war auf die ihm verliehene seltene Gabe sehr stolz und schonte sich, wo immer er nur konnte; er machte sich rar, und alle Versuche, ihn zum Bratenbarden, der auf jeder Gesellschaft nach Tisch einige Lieder sang, auszubilden, waren auf das glänzendste gescheitert.

Die Braten aß er, aber zum Singen war er weder vor, bei, noch nach Tisch zu bewegen.

Die Nachricht, daß er sich bereit erklärt hatte, den Paulus zu singen, hatte alle, die sich für Gesang interessierten, mit großer Freude erfüllt und hatte veranlaßt, daß dem Verein zahlreiche neue, singen wollende, aber leider nicht singen könnende jugendliche weibliche Mitglieder beitraten. Bot sich ihnen doch auf den Proben, wie sie hofften, häufig Gelegenheit, ihn singen zu hören.

„Bitte, bitte, Herr von Below, bitte, bitte, Herr Leutnant!” stürmten die Damen auf ihn ein.

Wie ein rocher de bronce stand Below in der Schar der jungen Damen, die ihn umringte; er rührte sich nicht — nur seine Augen blickten traurig über sie alle hin, während er im stillen dachte: „Wahrhaftig, eine ist immer niedlicher als die andere — aber so leicht bin ich nicht zu haben.”

Eine Welt von Schmerz lag in seinen Worten, als er endlich mit glockenreiner Stime sagte: „Ich kann nicht, meine Damen, ich kann nicht, so gern ich Ihnen den Gefallen thäte, aber Sie hören es ja, ich bin stockheiser.”

„Es geht thatsächlich nicht, meine Damen,” wehrte er sich noch einmal, „ich habe heute morgen drei Stunden draußen im Freien reiten lassen und kommandieren müssen. Das Kommando: ,Eskadron Tr—aabbbb!' tötet jede Stimme. Haben Sie Erbarmen!”

Wieder baten die Damen: „Nur ein Solo, nur ein einziges Solo, Herr Leutnant!”

„Wie kann man sich nur soweit erniedrigen, in dieser Art und Weise zu bitten,” erklang da plötzlich eine Stimme; „wenn er nicht singen will, mag er es doch lassen; so groß wird der Genuß, dessen wir verlustig gehen, auch wohl nicht sein.”

Alle waren starr, alle hatten die Worte gehört, auch Below, und aller Augen wandten sich dem jungen Mädchen zu, dessen Antlitz nun, da sie der Gegenstand der allgemeinenn Aufmerksamkeit war, eine leichte Röte der Verlegenheit färbte. Trotzdem hielt sie tapfer die vernichtenden Blicke, die ihr von allen Seiten zugeworfen wurden, aus.

„Wer ist denn die junge Dame?” fragte die Gattin eines Oberlehrers ihre Nachbarin, „die kenne ich ja gar nicht.”

„Das ist Fräulein von Monsterberg(1),” lautete die Antwort, „die Tochter des neuen Regierungsrates. Sie haben gewiß schon von ihm gehört, Beste, er soll ja so fabelhaft reich sein, wissen Sie, ihm gehört das Schimmelgespann, das Sie gewiß auch schon gesehen haben.”

„Ach so, die ist es,” klang es gedehnt zurück, „das hätte ich mir ja eigentlich denken können. Ob das übrigens mit dem Vermögen wirklich so schlimm ist, Liebste? Sie wissen, mein Mann ist mit den Herren der Einschätzungs­kommission sehr befreundet, und da weiß ich, daß Monsterberg nur sechstausend Mark Steuern zahlt — so sehr weit kann es also mit dem Geld nicht her sein.”

Aber die Frau Nachbarin war anderer Ansicht, die vertrat den Standpunkt, daß sechstausend Mark schon an und für sich ein sehr schönes Jahreseinkommen wäre, besonders für diejenigen, die es nicht hätten.

Vielleicht hätte diese Unterredung noch mit einem sehr ernsten Zerwürfnis geendet, wenn den beiden Sprecherinnen nicht plötzlich von allen Seiten ein sehr energisches „Pscht,Pscht, Stille!” zugerufen worden wäre.

Herr Winterberg hatte sich an den Flügel gesetzt und präludierte einige Takte, und fast allen unerwartet und unerhofft setzte Below nun ein. Er sang das Recitativ: „Gott sei mir gnädig nach deiner Güte — nach deiner großen Barm­herzigkeit.”

Er sang es hinreißend schön. „Du willst der kleinen Monsterberg, die mir übrigens das einzig vernünftige Frauenzimmer hier zu sein scheint, doch zeigen, daß du etwas kannst,” dachte er.

Sein Vortrag kam von Herzen und ging zu Herzen — fast kein weibliches Auge blieb thränenleer.

Am meisten war Helene von Monsterberg von dem Vortrag ergriffen; war der Sänger, aus dessen Zügen ehrliche, wahre Begeisterung sprach, der sich ganz in den Geist seiner Rolle vertieft hatte, wirklich der künstlich blasierte Leutnant von vorhin, der sich geziert hatte wie ein kleines Mädchen?

„Gott sei mir gnädig nach deiner Güte — nach deiner großen Barm­herzigkeit —”

Es klang wie der Aufschrei eines armen gequälten Herzens, wie das Seufzen und Klagen einer armen Seele. Als Below endete, brach ein stürmischer Beifall los.

Die Gelegenheit war für Herrn Winterberg günstig, die durfte er nicht unbenutzt vorübergehen lassen.

„Meine Herrschaften,” rief er, „Herr von Below hat uns gezeigt, was er kann — nun wollen wir ihm auch einmal zeigen, daß auch wir singen können. Darf ich bitten, die Plätze einzunehmen?”

„A—a—a—a.”

Baß, Tenor, Alt und Sopran, sie alle erhielten ihr „a”, und gleich darauf erklang es wieder: „Wie lieblich sind die Bo—o—ten, die den Frieden verkünden.”

Schön war es ja noch nicht, aber es ging doch wenigstens etwas besser, und nach Beendigung der Probe konnte Herr Winterberg seine Schüler und Schülerinnen mit den Trostes­worten entlassen: „Ich hoffe, daß wir den Paulus doch noch bewältigen.”

Es war später geworden als sonst, und man brach schnell auf, um noch pünktlich zum Abendbrot nach Haus zu kommen.

Herr von Below ging noch für eine kurze Zeit in die Restauration, um die trocken gewordene Kehle anzufeuchten.

Als er nach etwa zehn Minuten auf die Straße trat, sah er Fräulein von Monsterberg allein vor dem Haus auf- und abgehen.

Er trat auf sie zu. „Erwarten Sie jemanden, mein gnädiges Fräulein? Kann ich Ihnen irgendwie dienlich sein?”

Sie erschrak, als sie seine Stimme hörte; sie hatte sein Kommen nicht bemerkt. Nun, da er sie ansprach, fuhr sie erschrocken zusammen, und ihr erster Gedanke war: „Was sollst du ihm nur antworten, wenn er dich wegen deiner Bemerkung von vorhin in irgend einer Form zur Rede stellt? Ich muß in schnell los zu werden versuchen.”

„Ich danke Ihnen sehr, Herr Leutnant,” gab sie zur Antwort, „Papa wollte mich mit seinem Wagen abholen, um ein halb acht Uhr wollte er hier sein, er muß jeden Augenblcik kommen.”

„Oder er ist schon hier gewesen,” setzte Below hinzu. „Vielleicht ist Ihrem Herrn Vater das Warten langweilig geworden, und er ist bereits nach Hause gefahren.”

In diesem Augenblick ging ein patrouillierender Schutzmann vorbei, und auf Befragen von Below gab er zur Antwort, daß der ihm wohlbekannte Wagen des Herrn Regierungsrats etwa eine Viertelstunde hier gehalten, dann aber nach Haus gefahren sei.

„Aber ich begreife Papa gar nicht,” sagte Fräulein Helene, „ich kann doch jetzt nicht im Dunklen den weiten Weg allein zurücklegen?”

„Darf ich Ihnen meine Begleitung anbieten, mein gnädiges Fräulein?” fragte er, die Hand an die Mütze legend und sich ritterlich verneigend. „Bitte, verfügen Sie ganz über mich, ich stehe völlig zu Ihrer Verfügung.”

„Nur das nicht,” dachte Fräulein Helene, „er wird mich sicher zur Rede stellen.”

„Ich danke Ihnen wirklich, Herr von Below, Sie sind sehr liebenswürdig, so waren meine Worte nicht gemeint, ich werde schon nach Haus kommen — ich habe es Papa gleich gesagt, es wäre ein Unsinn, daß er sich die Villa außerhalb der Stadt mietete.”

Below hatte, während sie sprach, den Weg nach ihrer Wohnung eingeschlagen, und fast mechanisch schritt sie an seiner Seite dahin. Sie machte noch einen letzten Versuch, seine Begleitung abzulehnen: „Sie werden sich erkälten, Herr von Below.”

Er lachte laut auf: „Sie halten mich für schwächlicher, als ich es bin, mein gnädiges Fräulein. Ich weiß, Gott sei Dank, gar nicht, was eine Erkältung heißt. Wenn ich sie trotzdem sehr oft vorschütze, so geschieht es lediglich, um nicht beständig singen zu müssen. Denken Sie sich, selbst meine Hauswirtin verlang es stillschweigend von mir, daß ich jeden Abend wenigstens eine halbe Stunde musiziere, und thue ich es einmal nicht, so kocht sie mir am nächsten Morgen einen derartigen Kaffee, daß selbst mein Bursche sich weigert, ihn zu trinken.”

Sie lachte fröhlich auf. „Sie Armer!” sagte sie neckend, „wie ich Sie bedaure! Aber warum kochen Sie sich Ihren Kaffee denn nicht selbst? Das ist doch sehr einfach.”

„Für den, der es kann, ist alles einfach,” gab er zur Antwort. „Blondin hat bekanntlich einmal gesagt, es gäbe auf der ganzen Welt nichts einfacheres, als mit verbundenen Augen über den Niagara–Fall zu laufen — das ganze Geheimnis, nicht hinunter zu fallen, bestände lediglich darin, oben zu bleiben. — Wer Kaffee kochen kann, der kann's — ich kann es nicht.”

„Und Ihr Bursche?” fragte sie

„Brrr,” sagte er, sich in der Erinnerung an ausgestandene Leiden schüttelnd, „einmal habe ich ihm den ehrenvollen Auftrag gegeben, mir eine Tasse Kaffee zu bereiten. Er kam auch wirklich ganz stolz und glücklich mit einer Flüssigkeit an, die in einer Tasse ein gar beschauliches Dasein führte — aber als ich das Zeug probiert hatte, fiel ich mit einem lauten Aufschrei hinten über und lag in Ohnmacht. Selbst der beeidigte Gerichtschemiker, dem ich später den Kaffee zur Untersuchung gab, konnte die Ingredienzen nicht feststellen, aus denen mein Bursche den Kaffee bereitet hatte. Seit der Zeit habe ich alle Kochversuche aufgegeben und singe dafür lieber mein obligates Pensum.”

So schritten sie fröhlich plaudernd nebeneinander her, bis sie endlich, nach einem Weg von fast einer halben Stunde, die Villa erreichten.

„Nein, bitte sehr, mein gnädiges Fräulein, ich bringe Sie sicher durch Ihren Garten, geleite Sie bis zur Hausthür und warte, bis man sie Ihnen öffnet,” sagte er, als sie ihm angesichts des elterlichen Hauses für seine liebenswürdige Begleitung dankte und ihn bat, sich nun nicht weiter zu bemühen.

Aber als Below nun für sie die Glocke zog, öffnete nicht der Diener, sondern der Hausherr, der sich gerade auf dem Flur befand, selbst die Thür.

„Nein, das ist zu freundlich von Ihnen, Herr Leutnant, daß Sie meine Tochter nach Haus begleiten. Als ich mit meinem Wagen vergebens eine Viertelstunde gewartet hatte, glaubte ich annehmen zu müssen, daß die Probe lange vorüber sei — nein, Herr Leutnant, einen Augenblick werden Sie wohl noch für uns Zeit haben. Wir wollen gerade Abendbrot essen, machen Sie uns die Freude und trinken Sie wenigstens ein Glas Wein mit uns.”

„Was soll der Mensch machen, wenn das Nötigen kein Ende hat,” dachte Below, der sich mit einigen Kameraden verabredet hatte, „na, ein Glas Wein ist ja schnell ausgetrunken, besonders, wenn man beim Trinken nicht absetzt.”

Aber aus dem einen Glas wurden mehrere, der ersten Flasche des wirklich vortrefflichen Rotweines folgte gar bald die zweite und die dritte.

An dem reich und hübsch gedeckten Tisch herrschte eine fröhliche, lustige Stimmung, und es war so „riesig” nett und gemütlich, daß Below gar nicht die Empfindung hatte, zum erstenmal in diesem gastlichen Haus zu sein. Er war auf Gesellschaften zu wiederholten Malen mit Monsterbergs zusammengetroffen, aber diese selbst hatten noch keine Gesellschaften gegeben.

Mit Verwunderung ruhten seine Augen auf Fräulein Helene, die in ihrer hellroten seidenen Bluse entzückend aussah. Sie war klein und zierlich, überaus lebendig und lustig, und ihre rehbraunen Augen lachten beständig.

Auf dem letzten Diner, das sie zusammen mitgemacht hatten, war er Fräulein Helenes Tischherr gewesen, und er hatte sie eigentlich häßlich gefunden.

„Die einfachen Kleider stehen ihr tausendmal besser als die Gesellschaftsroben,” dachte er, „und das ist mir lieber, als wenn es umgekehrt wäre.”

„Wißt Ihr wohl, daß ich Herrn von Below vorhin sehr gekränkt und beleidigt habe?” sagte Helene und erzählte, zu welcher Äußerung sie sich habe verleiten lassen.

Sie ging dabei von dem richtigen Gedanken aus, es sei besser, wenn sie sie Szene selbst erzählte, als wenn Below sie jetzt oder später berührte.

Die Eltern waren für einen Augenblcik starr — aber als Below nun selbst laut lachte, stimmten sie mit ein.

Es war fast zehn Uhr, als man endlich vom Tisch aufstand.

„Raucht doch hier bei uns im Zimmer,” bat die Hausfrau, „mich geniert es wirklich nicht.” Und während der Regierungsrat in seine Arbeitsstube ging, um die Cigarren zu holen, setzte Below sich an das Klavier.

Es war das erste Mal, daß er in einem Prvathause sang. War nur der gute Rotwein und das Glas Sekt, das man zum Schluß getrunken hatte, daran schuld, oder hatten die schönen Augen der Tochter ihn begeistert? Er wußte es selbst nicht.

Mit einem „Pardon, meine Damen, seien Sie mir nicht böse!” ließ er sich am Instrument nieder.

Andächtig lauschten die Zuhörer — sie wußten nicht, was sie mehr bewundern sollten, die Kunst seines Gesanges, die Virtuosität, mit der er sich selbst begleitete, oder die Unerschöpflichkeit seines Repertoirs? Er sang und spielte alles aus dem Kopf, und als er nun noch einmal sein Paulusrecitativ „Gott sei mir gnädig nach deiner Güte — nach deiner großen Barmherzigkeit” sang und im Anschluß ein anderes Lied anstimmen wollte, baten die Damen: „Nein, bitte, Herr von Below, nicht mehr — schöner und Schöneres können Sie nicht mehr vortragen, lassen Sie dies für heute abend das Letzte gewesen sein.”

Und als er nun aufstand und sich seinen Zuhörern zuwandte, sah er, daß die Damen geweint hatten, und noch nie glaubte er, schönere Augen gesehen zu haben, als die Helenes, die jetzt im feuchten Glanze schimmerten und mit einem unbeschreiblich rührenden, hilflosen Ausdruck auf ihm ruhten. Sie sah so traurig aus, daß er auf sie zutrat: „Das habe ich nicht gewollt, mein gnädiges Fräulein, das nicht,” sagt er, „zürnen Sie mir nicht.”

Er war verwirrt und verlegen über die Wirkung, die er mit seinem Gesang erzielt hatte, und war glücklich, als der Zeiger der Uhr ihn daran mahnte, daß es die höchste Zeit sei, aufzubrechen.

*         *         *

Der Tag der Paulusaufführung war da; am Abend sollte das Konzert stattfinden. Wie Herr Winterberg es fertig gebracht hatte, den Chören ihre großen Rollen einzustudieren, hätte er auf Befragen selbst nicht beantworten können, aber die Thatsache lag vor, daß die Chöre klappten. Für die Alt- und Tenorpartie waren auswärtige berühmte Künstler gewonnen worden. Die Partie des Paulus selbst lag ja bei Herrn von Below in den besten Händen, um nicht zu sagen: in der besten Kehle, und so versprach das Konzert in jeder Hinsicht einen überaus glänzenden Verlauf zu nehmen.

Mit strömendem Regen und starkem Ostwind brach der Tag an — es war ein entsetzliches Wetter, und mit Schrecken dachte so mancher Hausvater, als er aufstand, daran, daß er am Abend für das Konzert wieder einen Wagen nehmen müsse.

Und ungerecht, wie die Menschen nun einmal sind, schalten sie nicht auf das schlechte Wetter, sondern auf das Konzert.

Auf das Unwetter schalt nur einer, der aber auch gründlich, das war der Posten, der vor der Ulanenkaserne auf- und abgehen sollte, es bei dem strömenden Regen aber vorgezogen hatte, sich in seine Gemächer, in sein Schilderhaus, zurückzuziehen.

Von fern her ertönte Pferdegetrappel, und gleich darauf hielten zwei Reiter vor der Wache.

„Wer ist denn das? Die kenne ich ja gar nicht!” dachte der Posten, dann aber trat er, wenn auch etwas zögernd, aus seinem Schilderhaus und präsentierte.

„Rufen Sie heraus!” befahl der ältere der beiden Herren, wie er jetzt sehen konnte, ein General.

„Ob das etwa unser neuer Divisions­kommandeur ist?” dachte der Posten.

„„Na, wird's bald?” rief der Adjutant, und gleich darauf ertönte ein schauerliches „Her—aus!”

„Rrrrrrraus!” donnerte drinnen in der Wachtstube der Unteroffizier seine Leute an. Einer drängte und schob den andern, dem vordersten kam der Schleppsäbel zwischen die Beine, und von den Kameraden gestoßen, fiel er der Länge nach die wenigen Stufen hinunter, die von dem Wachtlokal ins Freie führten. Mit seiner Nase und dem dazu gehörigen Kopf fiel er gerade zwischen die Vorderbeine des „vorgesetzten” Pferdes, und es hätte nicht viel gefehlt, so hätte die hohe Excellenz die sehr schmutzige Erde geküßt.

„Trompeter, blasen Sie Alarm!”

„Bei dem Wetter?” dachte er. „Na, mir kann es ja recht sein, ich bin ja auf Wache.”

„Alarm!”

In der Kaserne, in den Ställen wurde es lebendig, in den verschiedensten Aufzügen stürzten die Ulanen über den Hof, um ihre Pferde und sich selbst in Ordnung zu bringen. Auf einem nackten Gaul jagte ein Reiter zur Stadt, um die Offiziere zu benachrichtigen.

Auf dem Kasernenhof versammelte sich unterdes das Regiment, und bald darauf auch das Offizierkorps, an seiner Spitze der Herr Oberst.

Der war über den Alarm, der bei diesem schlechten Wetter die Anzüge und die Pferde ruinierte, sehr wenig erbaut, und am liebsten hätte er den hohen Herrn nach dem für diese eigens erfundenen Pfefferlande nicht nur gewünscht, sondern auch geschickt.

„Meine Herren” nahm nun Exzellenz das Wort, nachdem der Oberst seine Offiziere vorgestellt hatte, „ich freue mich, Sie kennen gelernt zu haben, und ich hoffe, daß ich auch mit Ihren dienstlichen Leistungen zufrieden sein werde. Wir werden jetzt eine Übung machen. Ich habe heute Morgen telegraphisch unsere Nachbargarnison alarmiert, ein Bataillon kommt uns mit der Eisenbahn entgegen, so daß auf jeder Seite Infanterie vorhanden ist. Nach meiner Berechnung wird unser Detachement um elf Uhr in der Lage sein, gegen den Feind vorzugehen, so daß wir etwa heute abend um sechs wieder hier sind. Die näheren Befehle, sowie die Idee, die der Übung zu Grunde liegt, werde ich Ihnen bekannt machen, sobald wir uns mit unserer Infanterie vereint haben. Ich bitte, Ihr Regiment antreten zu lassen, Herr Oberst, vorher aber noch Ihren Leuten bekannt zu machen, daß ich erbarmungslos jeden drei Tage einsperre, der in irgend einer Weise, sei es durch Worte oder durch Gebärden, beweist, daß ihm der Regen unangenehm ist. Wir sind Soldaten, aber keine alten Weiber!”

An der Queue der letzten Schwadron ritt Below — er war als letzter erschienen, und daran war das Wort schuld, das ihm einmal ein jovialer Vorgesetzter gesagt hatte: „Bei jedem Alarm ist die Kognakflasche die Hauptsache — soviel Zeit, um diese zu füllen, muß dasein.”

Und er hatte nicht nur eine gefüllt, sondern zwei, denn er dachte nicht nur an sich, sondern auch an die Kameraden. Se. Excellenz hatte ihm bei seinem Eintreffen einen bitterbösen Blick zugeworfen — aber er hatte sich nichts daraus gemacht, er gehörte zu jenen Untergebenen, die da sagen: „Laß die Vorgesetzten blicken, soviel sie wollen, wenn sie nur nicht sprechen.”

Als sie durch die Hauptstraße ritten, begegnete ihnen Herr Winterberg, der, die Füße in Gummischuhen, mit einem für eine ganze Familie passenden Regenschirm bewaffnet, zur Schule eilte, um dort Gesangsunterricht zu geben. Wie Below ihm lustig einen „Guten Morgen” zurief, taumelte Herr Winterberg beinahe gegen die Häuserreihe.

„Paulus — Pardon, Herr von Below, wohin wollwn Sie denn? Sie werden sich erkälten, Sie werden stockheiser, Sie verderben mir das ganze Konzert!”

Mit Riesenschritten ging er neben Belows Pferd her, er achtete nicht darauf, daß er mit dem linken Fuß auf dem Trottoir, mit dem rechten im Rinnstein ging, daß der rechte Fuß den Gummischuh verloren hatte, und daß dieser im Wasser hinter ihm herschwamm.

„Wo ist Ihr Oberst?” fragte Herr Winterberg. „Gestern Abend hat er mir noch versprochen, Sie heute dienstlich zu schonen, und nun diese Übung! Haben Sie überhaupt noch das „a”? Er holte aus seiner tiefen Paletottasche die Stimmgabel hervor, aber lachend sang ihm Below einen glockenreinen Ton vor.

„Sie hören, noch geht's — nun aber Adieu, wenn es jemand merkt, daß ich mich hier mit Ihnen unterhalte, ist der Teufel los. Auf frohes Wiedersehen heute Abend!”

Herr Winterberg klappte seinen Regenschirm zu, nahm ihn unter den Arm und rang verzweifelt die Hände. —

Seine Gedanken weilten während des ganzen Tages weit mehr bei seinem Paulus, der draußen im Gelände eine Feldienst­übung machte, als bei seinen Schülern, und mehr als einmal seufzte er: „Ich wollte, es wäre Abend, und ich hätte meinen Paulus gesund und bei guter Stimme wieder zurück.”

Und es wurde Abend, und es kam die Stunde, in der das Konzert seinen Anfang nehmen sollte.

Um siebeneinhalb Uhr sollte die Aufführung beginnen, aber schon von sieben Uhr an füllte sich der große Saal mit einer festlich gekleideten Menge. Von den Segenswünschen der ihrigen begleitet, mit einem Kuß auf die Stirn entlassen, nahemn die „Choristinnen” ihren Platz auf dem Podium ein.

Plötzlich ein geheimnisvolles Flüstern. Am Arme eines Vorstandsherrn schreitet die berühmte Sängerin durch den Saal.

Ihr folgt der Tenorist — eine große, schöne, kräftige Erscheinung.

„Schön ist er ja, aber doch nicht ein Viertel so schön, wie Herr von Below,” sagte ein junges Mädchen zum andern.

Hat sie so laut gesprochen, daß alle es hörten? Plötzlich geht der Name Below von Mund zu Mund, und die vollständig unmilitärische Frau Steuerrat — „Gott, wo soll sie auch die Bildung herhaben,” sagte eine andere, „ihr Mann ist ja nicht einmal Reserve­offizier!” — fragt mit lauter Stimme: „Ist er immer noch alarmiert?”

Der arme Herr Winterberg, an den die Frage gerichtet war, hatte nicht die Kraft, zu antworten. Er stand an seinem Dirigentenpult, einem hochverehrten Publikum den Rücken zudrehend, und blätterte in seinen Noten, während ihm der Angstschweiß auf der Stirn perlte.

Eine Paulusaufführung ohne Paulus — das war selbst vor Haydns Lebzeiten, geschweige denn hinterher, nicht dagewesen!

Das Regiment war noch nicht zurück. —

Sie mußten kommen — aber sie kamen nicht!

Das Publikum begann, unruhig zu werden, und da entschloß Herr Winterberg sich zu einer Programmänderung — er fing mit dem Chorgesang: „Wie lieblich sind die Boten” an.

Und mitten hinein in die Haydnsche Musik klang der flotte Marsch des von der Übung zurückkehrenden Regiments.

„Sie kommen!” rief da plötzlich ganz laut eine Stimme, und dieser Ruf zugleich mit den Klängen der Regimentsmusik, die das berühmte Bienenhaus spielte, bewirkten Wunder: der Chor kam derartig außer Takt, daß Herr Winterberg selbst auf den Proben nicht Ähnliches erlebt hatte.

Es gab nur eins: der Vorhang mußte fallen, und da Herr Winterberg über diesen nicht verfügte, warf er den Taktstock anscheinend unabsichtlich zur Erde, ließ aufhören und fing dann noch einmal von vorn an.

Dieses Mal ging es ausgezeichnet, und sicher hätten der Dirigent und die Sänger reiches, wohlverdientes Lob geerntet, wenn nicht plötzlich an der Eingangsthür lautes Sprechen erfolgt und gleich darauf ein von oben bis unten mit Kot bespritzter Ulan im Saal erschienen wäre.

„Um Gottes willen, das ist doch nicht Herr von Below?” fragte eine Dame.

Aber die unmilitärische Frau Steuerrat beruhigte sie: „Sorgen Sie sich nicht unnötig, meine Beste, Herr von Below ist es nicht — es ist doch völlig ausgeschlossen, daß der jemals so schmutzig werden könnte. Das kommt denn doch, Gott sei Dank, bei einem Offizier nicht vor.”

Ihre militärischen Unkenntnisse verrieten sich auch in diesen Worten; trotzdem aber hatte sie in einem Punkt recht; es war nicht Below, sondern nur dessen Bursche, der einen Brief an Herrn Winterberg abgeben sollte.

Als Herr Winterberg den Ulan durch den Saal kommen sah, ahnte er nichts Gutes — als er den Brief las, während er dabei unverdrossen weiter dirigierte, wurde ihm schwach, und als er den Brief gelesen hatte, sank ihm kraftlos der Taktstock mit dem dazu gehörigen rchten Arm herunter, und abermals entgleisten die lieblichen Friedensboten in einer geradezu bedauernswerten Art und Weise.

„Vorlesen, vorlesen!” riefen einige, und Herr Winterberg las mit zitternder Stimme:

„Dienstliche Gründe zwingen mich, dem Konzert heute Abend fern zu bleiben — Näheres vermag ich darüber nicht anzugeben — ich bedaure lebhaft, Ihnen diese Unannehmlichkeiten bereiten zu müssen, aber ,höhere Mächte' halten mich zurück. Hoffentlich giebt man mir nicht die Schuld an meinem Nichtkommen. Ein gutes Gelingen des Konzertes wünscht Ihnen und den Beteiligten von ganzem Herzen
Ihr sehr ergebener von Below.”

Für einen Augenblick war alles starr, Herr Winterberg hatte die Arme um das Notenpult geschlungen und vergrub sein Gesicht in beide Hände, er wollte den Tumult, der nun gleich losbrechen würde, nicht mit ansehen.

Und ein Sturm brach los: Alle waren entsetzt, außer sich.

Zwischen den Herren vom Komitee und Herrn Winterberg kam es zu einer erregten Aussprache. Was sollte nun werden?

Von irgend einer Seite fiel das Wort: „Falsch angebrachte Sparsamkeit,” und Herr Winterberg griff mit Freuden dies Wort auf: „Hätten Sie, meine Herren, mir die Mittel bewilligt, auch einen auswärtigen Bariton zu engagieren, so hätten wir heute ein gutes Konzert. Sie, meine Herren, die Sie ja auch Soldaten waren, mußten wissen, daß ein Offizier nicht über seine Zeit verfügen kann. Mir können Sie keinen Vorwurf machen, ich habe mein Möglichstes gethan. Menschen können es nicht ermessen, wieviel Pein ich bei den Proben ausstand — nicht ich, Sie, meine Herren, tragen die Schuld daran, daß wir heute keinen Paulus haben.”

Das war ein schwerer Vorwurf, den ein hohes Komitee nicht auf sich sitzen lassen wollte.

„Sie sind als Dirigent des Musikvereins hiermit entlassen!” rief der Präses des Komitees.

Ein „Gott sei Dank” entrang sich den Lippen des schwergeprüften Herrn Winterberg, und hocherhobenen Hauptes verließ er den Saal.

Hinter ihm her stürzten die Herren des Komitees, um ihn zu bewegen, wenigstens heute Abend noch zu dirigieren — Herr Winterberg würdigte die Herren keines Blickes.

Kampfbereit schwang er in der Rechten den Familien­regenschirm, und diesem Ungeheuer verdankte er's, daß man ihn unbehelligt ziehen ließ.

Ohne Dirigent und ohne Paulus war eine Aufführung unmöglich — das Konzert war aus.

*         *         *

Monsterbergs gaben ihre erste Gesellschaft. Zahlreiche Einladungen waren an die Spitzen der Behörden, sowie an das Offizierkorps ergangen, und alle hatten zugesagt. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht durch die Stadt verbreitet, daß auch Below auf dem Diner erscheinen würde, und alle waren gespannt, aus seinem Munde den Grund seines Fernbleibens von dem Konzerte zu erfahren.

Die wahnwitzigsten Gerüchte hatten die Stadt durchschwirrt: er sollte mit dem Pferd gestürzt sein, er sollte einen Gegner im Duell getötet, einen Untergebenen, de sich ihm widersetzt, kaltblütig lächelnd erstochen haben.

Einige wenige behaupteten, Below hätte seine Absage zu dem Konzert nur deshalb geschickt, um sich interessant zu machen.

Wie alles, so wurde auch dies geglaubt. Manbelegte ihn mit sehr wenig schmeichelhaften Ausdrücken und nannte ihn kurzweg einen faden Gecken.

Gegen diese Bezeichnung nahm Helene von Monsterberg ihn einer Freundin gegenüber in Schutz und zwar in einer so energischen Art und Weise, daß am Abend desselben Tages in der ganzen Stadt erzählt wurde, Herr von Below sei mit Fräulein Monsterberg verlobt.

Und die Mütter, die mehrere Töchter auf Lager hatten, beeilten sich überall zu sagen, daß es ihnen vollständig unverständlich sei, wie man einem solchen Mann das Glück seines einzigen Kindes anvertrauen könne — sie würden das nie thun, dazu hätten sie ihre Töchter denn, Gott sei Dank, doch zu lieb!

So war man denn auf den Abend bei Monsterberg sehr begierig.

In liebenswürdigster Weise empfingen die Wirte ihre Gäste, die ihre Ungeduld und Neugierde kaum zu bezwingen vermochten, als Herr von Below immer noch nicht kam.

Endlich kam er, nicht nur als Letzter, sondern als Allerletzter — das Erscheinen des Hofes hätte kein größeres Aufsehen machen können.

In völlig unbefangener Weise begrüßte er seine Wirte und machte dann seinem Kommandeur seine Verbeugung.

Der reichte ihm heiter lächelnd die Hand und sagte mit lauter Stimme, während ringsherum Totenstille herrschte: „Na, mein lieber Below, glücklich wieder von der Dienstreise zurück?”

Grenzenlose Enttäuschung malte sich auf allen Gesichtern. Das also war der Grund — na, da mußte man denn doch aber wirklich sagen, daß der in keiner Weise den Erwartungen entsprach.

Nur eine Dienstreise!

Hätte man das vorher gewußt, so hätte man ja ruhig absagen und in aller Ruhe und Gemütlichkeit zu Hause bleiben können.

Der Diener meldete, daß serviert sei, und gleich darauf ging man zu Tisch.

Natürlich drehte sich das Gespräch um das verunglückte Konzert und um dessen Folgen! Herr Winterberg trug sich mit dem Gedanken, in eine andere Stadt zu ziehen. Der Musikverein lag in den letzten Zügen — sämtliche Mitglieder waren ausgetreten, so daß der ganze Verein nur noch aus dem Lohndiener bestand, der die Botengänge machte, und dem man, da er Jahreskontrakt hatte, erst nach einigen Monaten kündigen konnte.

Lange hatte Fräulein Helene geschwankt, wen sie als Tischherrn nehmen sollte, denn das Gerede, das über sie und Below im Umlauf war, blieb ihr nicht unbekannt.

Zu der Zuneigung, die sie für den jungen Offizier empfand, kam der Ärger über die Klatschsucht der lieben Mitmenschen, und mit einem: „Nun gerade!” hatte sie noch im letzten Augenblick die Tischordnung geändert.

Natürlich blieb es nicht unbeachtet, wie lebhaft sich die beiden miteinander unterhielten, und namentlich Belows linke Nachbarin ärgerte sich darüber, daß er mit ihr noch keine Silbe gesprochen hatte.

„Darf man eigentlich erfahren, Herr Leutnant, wohin Sie Ihre Dienstreise geführt hat, oder ist dies indiskret?” fragte sie ihn da plötzlich und unvermittelt.

Durch einen Zufall stockte gerade in diesem Augenblick die allgemeine Unterhaltung, und es herrschte tiefes Schweigen, als Below nun sagte: „Durchaus nicht, meine Gnädigste, ich — ich war auf Helgoland.”

Nur durch ein Wunder blieb es unbemerkt, daß der Herr Oberst sich in diesem Augenblick verschluckte und entsetzlich zu husten begann, während die andern Offiziere alle krampfhaft die Serviette vor den Mund hielten.

„Ah, das ist ja sehr interessant,” fuhr die Dame fort, „ich liebe Helgoland. Jetzt aber waren wohl keine Badegäste mehr dort?”

„Ich habe mich wirklich nicht darum gekümmert, gnädige Frau,” gab Below zur Antwort, „ich war dienstlich dort,” und nach kurzem Besinnen setzte er hinzu: „Bekanntlich ist Helgoland jetzt eine Seefestung.”

„Ihr Regiment wird doch nicht dorthin verlegt werden?” fragte da eine andere Dame. „Ich las neulich, daß große Truppen­verschiebungen bevorständen. Helgoland könnte dadurch natürlich nur gewinnen, wenn dort ein Kavallerie­regiment stände. Wie reizend würde dann das Badeleben dort sein.”

Die Offiziere lachten laut auf, und der Oberst sagte: „Kavallerie im Kampf gegen moderne Kriegsschiffe — eine Attacke mit eingelegten Lanzen gegen ein Panzerschiff — der Gedanke ist neu und gut, meine gnädige Frau! Da eröffnet sich der Kavallerie ein ganz neues Feld der Thätigkeit.”

Nach Tisch, als man sich „Gesegnete Mahlzeit!” gewünscht hatte, stand Below mit der Tochter des Hauses im eifrigen Geplauder in einer Fensternische.

„Waren Sie wirklich auf Helgoland?” fragte sie ihn, „verzeihen Sie, wenn ich noch einmal darauf zurückkomme.”

Er lachte lustig auf, dann sagte er: „Sie haben ganz recht, mein gnädiges Fräulein, ich war auf Helgoland, wenigstens pflegen wir Offiziere dies so zu benennen, wenn — nun, Ihnen kann ich es ja ruhig sagen: Nach Helgoland reisen bedeutet für uns soviel, als Stubenarrest haben.”

Sie sah ihn mit großen, verwunderten Augen an: „Sie haben gesessen? Das ist nicht hübsch von Ihnen, und das sagen Sie so ruhig? Dann ist also doch wohl etwas Wahres an dem Gerücht, daß Sie einen Untergebenen, wenn auch nicht gerade ermordet, so doch mißhandelt haben?”

Die Zornesader schwoll auf seiner Stirn. „Wer wagt so etwas zu sagen?” fragte er erregt, dann aber bezwang er sich rasch. „Es lohnt ja nicht, sich über solche Dinge zu ärgern — nein, ein solcher Missethäter bin ich denn doch nicht, meine ganze Schuld besteht darin, daß ich einen Cognac trank.”

„Aber Herr von Below,” warf sie zweifelnd hin, „Sie machen sich über mich lustig.”

„Ich schwöre es, ich spreche die Wahrheit,” sagte er munter, „Sie wissen, daß wir am Tage des Konzerts alarmiert wurden. Unser neuer Divisions­kommandeur ist selbst am Sonntag kein Engel, geschweige denn an Wochentagen, wenn er Dienst abhält. Drei Tage Arrest wurden dem angedroht, der sich nicht so benehmen würde, als hätten wir den hellsten Sonnenschein. Ach, und die Sonne schien wirklich nicht, es war bitterkalt — und um mich zu erwärmen, dann aber auch, um einer Erkältung vorzubeugen, trank ich einen Cognac. Auch ich gehöre zu jenen Menschen, die auf dem Rücken keine Augen haben, und so hatte ich nicht bemerkt, daß der General hinter mir ritt. Er fragte mich, ob ich bei hellem Sonnenschein auch einen Cognac getrunken haben würde, und da ich der Wahrheit gemäß mit einem ,Nein' antworten mußte, sagte er: ,Daß Offiziere im Dienst Cognac trinken, ist mir neu — ich bestrafe Sie dafür mit fünf Tagen Stubenarrest.' Da saß ich nun, vergebens waren meine Bitten und die des Kommandeurs, wenigstens einen Aufschub der Strafe zu erzielen, um im Konzert noch mitwirken zu können, der General vertrat die Ansicht, ein Offizier sei kein Paulus, ebensowenig wie Paulus ein Offizier gewesen sei. Meine Strafe hatte ich weg.”

„Hat Ihre Bestrafung irgendwelchen Einfluß auf Ihre spätere Carriere?” fragte sie.

„Das nicht,” erwiderte er, „schon aus dem einfachen Grunde nicht, weil ich mich entschlossen habe, den bunten Rock auszuziehen. Am ersten Januar habe ich meine obligaten zehn Dienstjahre hinter mir, dann gehe ich in Pension(2), kaufe mir irgendwo ein Gut und baue meinen Kohl.”

„Sie wollen uns verlassen?”

Vergebens suchte sie ihre Unruhe zu verbergen, ihre Stimme zitterte, und sie fühlte, wie sie erblaßte.

Er that, als bemerke er es gar nicht, und doch ruhten seine Augen prüfend und forschend auf ihr, als er nun sagte: „Ich habe mir die Sache überlegt, während ich fünf lange Tage in meiner Stube auf und ab rannte. Stubenarrest kann jeder Offizier bekommen, ich weiß, daß selbst verheiratete Stabsoffiziere plötzlich nach Helgoland reisten, und ich kenne sogar einen Regiments­kommandeur, der den Standpunkt vertritt, daß jeder Offizier wenigstens einmal in seinem Leben gesessen haben muß. Ich möchte einer Wiederholung aus dem Wege gehen; ich habe an dem einen Mal mehr als genug, wenigstens als Junggeselle. Ja, wenn ich verheiratet wäre und jemanden hätte, der mich begleiten würde, wenn ich einmal wieder nach Helgoland reisen müßte, dann wäre es etwas anderes, dann würde ich noch im Dienst bleiben, denn schön ist das Soldatenleben doch. Ich glaube, das Scheiden wird mir doch sehr schwer werden, und so ganz fest ist mein Entschluß doch noch nicht — wollen Sie mir helfen und raten, mein gnädiges Fräulein, was soll ich thun? Soll ich gehen — oder soll ich bleiben?”

Er hatte ihre Hand ergriffen und sah mit bittenden, flehenden Augen zu ihr empor, und mit leiser, kaum vernehmbarer Stimme flüsterte sie, während sie ihn glücklich lächelnd ansah: „Bleib!”

Und auch an diesem Abend setzte sich Below unaufgefordert an das Klavier, und noch nie hatte er mit solcher Inbrunst gesungen wie jetzt, da er die Arie des Paulus wählte: „Ich danke dir, Herr mein Gott — von ganzem Herzen ewiglich.”

Erst drei Tage später, als die Verlobungskarten verschickt wurden, begriffen die Damen, warum Below gerade diese Arie gewählt hatte. Im übrigen erklärten sie, es sei die höchste Zeit, daß Below heirate, denn aus sicherster Quelle wüßten sie nunmehr, daß er thatsächlich auf Helgoland gewesen sei und auf der dortigen Festung — ähnlich wie Dreyfus auf der Teufelsinsel — eine zwar nur kurze, aber sehr strenge Strafe wegen eines „groben Dienstvergehens” verbüßt habe.


Fußnoten:

(1) Ein Herr v. Monsterberg war 1892 als Major im Stab des 2. Hanseatischen Infanterie–Regiments Nr. 76, als Schlicht/Baudissin dort Second–Lieutenant in der 2. Kompagnie war. (zurück)

(2) Auch Schlicht/Baudissin selbst hat nach zehn Dienstjahren den bunten Rock ausgezogen. (zurück)


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© Karlheinz Everts