Kindersegen

Humoreske von Freiherr von Schlicht
in: „Die aus Liebe hassen”


Frau Emmy Reicher, die junge, schlanke, zierliche, grazlöse Gattin des in der ganzen Stadt wegen seiner Tüchtigkeit und wegen seiner Erfolge bekannten und angesehenen Dr. ing Hans Reicher, lag in ihrem entzückend eingerichteten und behaglichen Boudoir auf der breiten Chaiselongue und schwamm in Tränen. Ja, sie schwamm derartig, daß sie sicher fortgeschwommen wäre, wenn sie sich nicht von Zeit zu Zeit mit beiden Händen an dem dicken Perserteppich, der als Chaiselonguedecke diente, festgehalten hätte, denn so sterbensunglücklich sie auch war, und so gern, so brennend gern sie auch gestorben wäre, fortschwimmen wollte sie denn doch nicht, weil sie einmal gelesen hatte, kein Tod sei so schrecklich wie der des Ertrinkens. Ob das allerdings wahr sei, vermochte sie aus eigener Erfahrung, da sie leider noch lebte, ja nicht zu beurteilen, aber warum sollte sie sich dem auch nur aussetzen, es vielleicht am eigenen Körper ausprobieren zu müssen, ob es wahr wäre?

Aber schon, um nicht vielleicht doch fortzuschwimmen, wäre es sicher das beste gewesen, nun endlich mit dem Weinen aufzuhören und die Tränen, die ihr aus den entzückenden kornblumenblauen Augen, die, ihre besondere Schönheit, unter ganz dichten, weichen, schwarzen Wimpern ruhten, beständig herunterkollerten, zu trocknen, und ein paarmal hatte sie das auch schon versucht, aber es war ihr leider nicht gelungen, denn ihr Schmerz und ihre Verzweiflung waren zu groß und zu echt, und das mit vollem Recht, denn wenn nicht alle Anzeichen trogen und täuschten, würde sie Mutter werden.

Und dabei war sie doch noch so jung, kaum einundzwanzig Jahre, und sie wollte in den ihr nun bevorstehenden neun Monaten nicht um neun Jahre älter und dementsprechend häßlich werden.

Ach, sie war doch noch so jung und doch erst kaum verheiratet. Erst vor fünf Monaten hatte sie mit ihrem Hans die Hochzeitsreise angetreten, von der sie allerdings seiner vielen Arbeiten wegen schon nach drei Wochen hatten zurückkehren müssen, obgleich sie selbst natürlich am liebsten mit ihm nicht nur ein paar Wochen, sondern ein paar Jahre in der Welt herumgegondelt wäre. Ach, es war zu schön gewesen, und wie glücklich, nein, wie grenzenlos glücklich hatte sie sich mit ihrem Hans gefühlt. Jeder Tag und erst recht jede Nacht, nein, das war übertrieben, nicht erst recht, aber auch jede Nacht war für sie beide ein Freudenfest gewesen, und sie hätte es vor ihrer Ehe nie für möglich gehalten, daß man so glücklich sein und werden könne, wie sie es auf der Reise war.

Nun aber konnte und mußte sie, wie Lohengrin singen: Weh, nun ist all mein Glück dahin.

Und dabei hatte ihr Hans ihr ganz, aber auch ganz fest geschworen, daß sie in den ersten drei oder fünf Jahren ihrer Ehe keine Kinder haben wollten.

Natürlich auf die Dauer sollte ihre Ehe nicht kinderlos bleiben, denn sie und ihr Hans waren beide in gleicher Weise kinderlieb, aber was kostete es heutzutage nicht, ein Baby großzuziehen, und wenn es groß war, kostete es erst recht, und da man ihrem Mann einen Teil der großen Bureauräume trotz seines Sträubens und Widersprechens für Zwangsmieter fortgenommen hatte, waren auch ihre Räume etwas knapp und beschränkt, und wenn nun gleich ein Baby kam, dann reichten sie vielleicht nicht einmal mit dem Platz und mußten unter Umständen schon vor der Geburt an einen Umzug denken, vorausgesetzt, daß sie überhaupt eine andere Wohnung fanden und bekamen. Aber selbst wenn — wer hatte dann die ganze Arbeit, wer konnte alle die zahllosen Kleinigkeiten, die Kleider und Anzüge und Gott weiß was sonst noch alles einräumen und auspacken(1) und nachher auspacken und wieder einräumen? Wer hatte die Arbeit? Sie ganz allein, denn ihr Hans hatte keine Zeit, ihr dabei zu helfen, und wenn er ihr auch noch so viele Packer und Hilfskräfte sandte, das half ihr auch nicht viel, denn es gab eben hundert und aber hundert Dinge und Kleinigkeiten, die sie selbst würde einpacken müssen.

Aber sie wollte nicht einpacken, sie wollte auch nicht schon wieder umziehen, nachdem sie kaum eingezogen war, und erst recht wollte sie nicht schon jetzt ein Kind haben, nachdem sie kaum geheiratet hatte.

Wie hatte ihr Hans ihr das nur antun können, denn er wußte doch auch, was dabei für sie auf dem Spiel stand? Unter Umständen ihr junges Leben, jedenfalls aber der Reiz, sowie die Anmut ihrer ersten Jugend, und ganz bestimmt ein großer Teil ihrer noch fast mädchenhaften Frische und Unberührtheit, denn sie sah auch heute noch, wie alle ihre Freundinnen es ihr immer wieder versicherten, so gänzlich unverheiratet aus. Wer es nicht wußte, wollte es gar nicht glauben, daß sie schon eine verheiratete Frau war.

Wie lange, oder wie kurz aber noch, dann würden alle es glauben, denn dann sah man es ihr an.

Und wieder krampften Frau Emmys kleine Hände sich in die Chaiselonguedecke fest, damit sie in dem Tränenstrom, der aufs neue aus ihren hübschen Augen stürzte, nicht fortschwömme.

Aber sie wollte noch kein Kind, jetzt noch nicht. Später, in ein paar Jahren, gern, aber heute noch nicht.

Wie sie ihren Hans, nein, wie sie ihren Mann, den sie bisher über alles geliebt, mit einemmal haßte, weil er ihr das hatte antun können, und wie sie ihn haßte, weil er sein Versprechen, die ersten drei oder fünf Jahre mit ihr in kinderloser Ehe leben zu wollen, nicht gehalten hatte.

Nun würde sie doch schon jetzt ein Kind bekommen und sie hatte sich so darauf gefreut, nur für ihren Hans, nein, nur für ihren Mann, zu leben, teilzunehmen an seinen Plänen und Arbeiten, soweit sie von denen etwas verstand, sie hatte ihn auf seinen vielen geschäftlichen Reisen begleiten wollen, sie hatte sich so darauf gefreut, sich von ihm die verschiedenen Städte zeigen und sich von ihm deren architektonische Schönheiten erklären zu lassen. Sie hatte im Winter Gesellschaften und Theater besuchen und sich nach Kräften amüsieren wollen. Und wie hatte sie sich gefreut, daß sie durch ihre Heirat die Mittel besaß, sich für ihren Mann immer aufs neue hübsch und verführerisch anziehen zu können.

Wieviele neue schöne Kleider hatte sie sich nicht machen lassen wollen, und statt dessen konnte und mußte sie sich nun wahrscheinlich schon sehr bald ein Cape kaufen, um ihr bevorstehendes Mutterwerden auf der Straße den Blicken der Neugierigen nach Möglichkeit zu verbergen.

Sicherlich, es war alles andere als eine Schande, in anderen Umständen zu sein, aber schöner wurde dadurch keine Frau, und die ekelhafteste Schmeichelei war es, wie sie letzthin einmal irgendwo las, wohl wirklich gewesen, als der verstorbene Gustav Freytag in einem seiner Bücher über die damalige Kronprinzessin Friedrich schrieb: Die gesegneten Umstände, in denen sich die hohe Frau befand, verliehen ihrer Schönheit einen ganz besonders hohen Reiz.

Nur über eine Fürstin hatte man in vergangenen Zeiten so etwas geschrieben, und nur eine Fürstin hatte so etwas auch geglaubt.

Nein, schöner oder auch nur hübscher wurde eine junge Frau dadurch, daß sie ein Kind unter ihrem Herzen trug, nie und nimmer, und wenn sie dem Kind das Leben geschenkt hatte, blieben fast immer mehr oder weniger entstellende Spuren der überstandenen Schwangerschaft zurück.

Und sie wollte und sie durfte nicht häßlich werden, denn was dann, wenn es ihr später so erging, wie einer verheirateten Cousine, deren Schicksal in der Familie oft besprochen worden war.

Diese Cousine, die Paula, ein auffallend hübsches Mädchen, hatte jung geheiratet, noch dazu beinahe gegen den Willen ihrer Eltern, die sich für ihr Kind eine andere Partie wünschten, und die sich nur widerstrebend fügten, als die Paula ihnen eines Tages erklärte: „Ich fühle es, ich kann ohne meinen Botho fortan nicht mehr leben, ich liebe ihn über alles, und es ist keine leere Redensart, wenn ich euch sage, mein Herz würde mir brechen, wenn ich ihn nicht zum Mann bekäme.” Da hatten die Eltern schließlich ihre Einwilligung erteilt, und die Paula war auch so glücklich geworden, daß sie selbst zuweilen schrieb, sie fürchte, das Glück werde nicht von Bestand sein, denn es wäre zu groß, um auf die Dauer anhalten zu können. Aber vorläufig war die Paula noch glücklich, und sie wurde es erst recht, als sie ihrem Mann das erste und ein Jahr später das zweite Kind schenkte.

Doch die Geburt dieser Kinder, die sie als das höchste Glück empfand, das ihr hätte widerfahren können, wurde ihr Unglück, denn ihr bisher so schlanker, untadelhafter Körper nahm nach der letzten Geburt andere Formen an und da namentlich ihr Leib nicht mehr so jung, so blühend und so frisch war wie vorher, erklärte ihr Mann eines Tages mit brutaler Offen­herzigkeit: „Ich werde dich als meine Frau und als die Mutter meiner Kinder auch weiterhin selbstverständlich achten, schätzen und lieben, aber als Geliebte hast du für mich jeglichen Reiz verloren.”

Und war seines Weges gegangen und hatte seine Frau nie wieder angerührt.

Aber die Paula war damals noch jung, kaum fünfundzwanzig Jahre, und in ihren Adern floß heißes Blut.

So kam, was kommen mußte, obgleich sie schon um ihrer kleinen Kinder willen die Leidenschaften, die zuweilen in ihr rasten und tobten und nach Befriedigung verlangten, zu unterdrücken und zu beherrschen versuchte. Um das zu erreichen, hatte sie nichts unversucht gelassen. Sie hatte viel Sport getrieben, weite Spaziergänge gemacht, sich körperlich müde gearbeitet, auf Anraten der Ärzte die verschiedensten Badeorte aufgesucht und namentlich allem, was in ihr tobte, ihren großen energischen Willen entgegengesetzt.

Aber dann war doch die Stunde gekommen, in der sie unterlag, weil sie ganz einfach der Stimme der Natur nicht länger widerstehen konnte. Und sie war erst unterlegen, nachdem sie ihrem Mann sowohl selbst als durch ihren Hausarzt erklärt hatte, daß sie dieses Leben nicht länger ertragen könne, wenn sie darüber nicht verrückt werden solle.

Doch ihr Mann hatte lediglich die Achseln gezuckt und erwidert, sie täte ihm gewiß sehr leid, und er fühle es ihr ja auch nach, daß es nicht ganz leicht für sie sein müsse, den ehelichen Verkehr vollständig zu entbehren, aber er selbst sei leider nach wie vor nicht in der Lage, etwas daran zu ändern, denn sie reize ihn tatsächlich seit der letzten Geburt absolut nicht mehr.

Jawohl bitte, das hatte der Ehrenmann mit zynischer Offenherzigkeit erklärt. Das war sein Dank der Frau gegenüber, die ihm mit Schmerzen zwei Kinder geboren hatte, noch dazu zwei Kinder, an denen er selbst mit großer Liebe hing.

Da tat die Paula das, was an ihrer Stelle manche andere sicher schon längst getan hätte, sie gab sich einem Manne hin, der sie schon lange liebte und den auch sie als einen Ehrenmann achten und schätzen gelernt hatte, wenngleich sie ihn nicht in demselben Maße liebte, wie er sie.

Ihre Liebe galt trotz allem noch ihrem Mann, dem Vater ihrer Kinder, und nicht die Liebe zu einem anderen ließ sie untreu werden, sondern lediglich die Stimme der Natur.

Länger als zwei Jahre blieben die Beziehungen, die sie zu dem anderen unterhielt, geheim. Kein Mensch ahnte etwas davon, bis durch einen unglücklichen Zufall dann doch alles bekannt wurde.

Und was tat da der Ehemann? Anstatt über das, was er erfahren, den Mantel der christlichen Liebe und des Verzeihens zu breiten, anstatt seiner Frau zu erklären: Ich mache dir aus dem, was du getan, nicht den leisesten Vorwurf, ich habe auch kein Recht dazu, denn ich bin an allem, was vorgefallen ist, einzig und allein selbst schuld, und ich darf dich auch schon deshalb nicht tadeln, weil ich dir in den letzten Jahren ja auch nicht die eheliche Treue hielt; ja, anstatt so zu ihr zu sprechen, was tat der Ehemann und der Ehrenmann? Er überhäufte seine Frau mit den gemeinsten Vorwürfen, er erhob die Hand gegen sie und schlug sie in das Gesicht und wies sie zur selben Stunde für immer aus seinem Haus, dessen Ehre sie besudelt und beschmutzt habe.

Und dann leitete der Ehrenmann gegen seine Frau die Scheidungsklage ein, klagte trotz aller Ehebrüche, die er selbst begangen, die man ihm aber nicht nachweisen konnte, auf Ehebruch, ließ seine Frau als die Alleinschuldige verurteilen, nahm ihr die Kinder fort, da sie sich durch ihren Lebenswandel unwürdig gemacht habe, sie weiter zu erziehen, und da zu befürchten sei, daß die beiden Kinder, zwei Mädchen, unter ihrem Einfluß ebenso schamlos und verdorben würden, wie sie es selbst sei, und war erst nach langen Unterhandlungen zu bewegen, seiner Frau für ihren persönlichen Lebensunterhalt eine kleine Rente auszusetzen, die sie gerade vor dem Verhungern schützte, die aber sofort in Fortfall kommen sollte, wenn seine bisherige Frau es jemals wagen würde, ihren schamlosen Lebenswandel wieder aufzunehmen.

Ja bitte, solche Ehemänner und solche Ehrenmänner gab es wirklich, die liefen frei in der Welt herum, bekleideten hohe Stellungen, genossen einen guten Ruf und ein hohes Ansehen, anstatt für das, was sie gesündigt, in das Zuchthaus gesperrt zu werden, denn es gibt Verbrecher, die schlimmer und gemeiner sind als diejenigen, die da anderen Leuten nur nach dem Gelde und nach dem Leben trachten.

Ja, es gab solche Ehe- und Ehrenmänner, und was dann, wenn auch ihr Hans sich nun sehr bald als ein solcher entpuppen und entwickeln würde? Wenn sie ihm vielleicht schon nach der Geburt des ersten Kindes nicht mehr gefiel, wenn auch er dann seine eigenen Wege ging und sie dadurch zwang, auch die ihrigen zu wandern, denn obgleich sie nur von zarter, zierlicher und graziöser Gestalt war, rann auch durch ihre Adern ein sehr heißes, leidenschaftliches Blut, und soviel wußte sie schon heute, wenn sie später dasselbe durchmachen sollte, wie die arme Paula, über die die sittenstrengen und prüden Verwandten fürchterlich zu Gericht gesessen hatten, als sie als geschiedene Frau wieder zu den Eltern zurückkam, anstatt sie zu trösten und ihr voller Liebe zuzurufen: Armes Kind, was hast du alles ertragen und durchmachen müssen und wie lange hast du dich mit bewundernswerter Energie gehalten, bevor du schleßlich deinem Temperamente unterlagst, und auch das nur, weil du dem auf die Dauer ganz einfach unterliegen mußtest — ja, soviel wußte sie schon heute, wenn auch ihr Mann sich später von ihr abwenden würde, dann nahm sie sich entweder das Leben, oder sie nahm Gift, oder sie nahm sich, wie die Paula es getan, auch ihrerseits einen Freund, denn ein Leben ohne die eheliche Liebe würde auch sie ganz einfach nicht ertragen können.

Von neuem weinte sie herzzerbrechend auf: wie hatte ihr Mann ihr das nur antun können, daß sie schon jetzt Mutter werden sollte? Hatte er denn gar nicht an alles das gedacht, was mit der Zeit daraus werden konnte?

Wie hatte die Paula doch damals voll bitteren Hohnes und voller Ironie gesagt: Der Eltern Segen baut den Kindern Häuser. Das steht in der Bibel, aber es steht leider nicht dort: Der Kindersegen zerstört sehr oft das elterliche Haus und reißt es ein.

Was dann, wenn es ihr später so ergehen würde, wie es der Paula ergangen war?

Gewiß, noch blieb es abzuwarten, ob sich ihr Mann ebenso entwickeln würde, wie es Paulas Mann tat, und noch glaubte sie ja auch nicht, daß er ein solches herzloses Scheusal werden würde. Aber das glaubte sie sicher doch nur deshalb, weil sie es erhoffte, denn was die Menschen erhoffen, glauben sie bekanntlich immer. Wäre es anders, und hofften die Menschen aus Furcht vor dem Tode nicht auf ein Weiterleben im Jenseits, dann würde auch kein Mensch daran glauben, dann könnten alle Kirchen als solche geschlossen oder als Wohnräume für die vielen armen Obdachlosen hergerichtet werden.

Ja, wie ihr Mann sich mit der Zeit entwickeln würde, blieb erst noch abzuwarten, aber es war traurig genug, daß er sich überhaupt entwickeln würde, und das tat er todsicher. Das wußte sie aus dem Munde einer etwas älteren und schon seit fast drei Jahren verheirateten Freundin, die ihr kurz vor ihrer eigenen Hochzeit schrieb: „Emmy, ich wünsche Dir von ganzem Herzen alles nur denkbar Gute, aber bilde Dir nur nicht ein, daß Dein Mann immer so bleibt, wie er heute ist. Die Männer machen in der Ehe einen Gärungsprozeß durch, wie die Weine im Keller, wenn sie vom Faß auf Flaschen gefüllt sind. Den Wein rührt man aber, während er gärt und während er sich entwickelt, ein paar Jahre lang nicht an, da wartet man, bis der Gärungsprozeß fertig ist, um dann entweder über das Ergebnis entsetzt oder auf das Angenehmste überrascht zu sein. Während ein Mann sich aber entwickelt, können wir ihn nicht ruhig ein paar Jahre allein in seinem Zimmer sitzen und liegen lassen, sondern wir müssen ihn täglich um uns haben, wir müssen seine Launen und Mucken ertragen, wir müssen ihn mit derselben Rücksicht und Schonung behandeln, wie der Küfer seinen Wein, der auch keine gewaltsamen Erschütterungen verträgt, wenn er nicht verderben soll. Ach, liebste Emmy, es ist mit den Männern wirklich nicht so einfach und nicht so leicht, wie man sich das als junges Mädchen und als Braut denkt. Das Allertraurigste aber ist, daß man bei ihnen nie weiß, was dabei herauskommt, wenn sie sich entwickeln, ob etwas leidlich Gutes, etwas sehr Schönes, oder ob etwas sehr Schlechtes.”

Sicherlich war es in vieler Hinsicht sehr gut, daß man nicht in die Zukunft sehen konnte, aber trotzdem würde sie in diesem Augenblick viel darum gegeben haben, wenn sie es hätte voraussehen können, wie ihr eigener Mann sich entwickeln würde. Aber es war doch wohl besser so, wie es war, denn hätte sie es damals am HochzeitstWie sie ihren Mann haßte, daß er ihr das angetan! Wie sie ihn haßte! age vorausgesehen, daß sie schon so bald Mutter werden würde, dann hätte sie entweder noch auf der Kirchenschwelle kehrtgemacht, oder sie hätte vor dem Altar nie und nimmer ja, sondern ganz laut und sehr vernehmlich nein gesagt. Und auf das Standesamt wäre sie dann vor der Fahrt zur Kirche überhaupt nicht gegangen. Nicht zehn schwere belgische Arbeitspferde hätten sie dahin gebracht.

Wie sie ihren Mann haßte, daß er ihr das angetan! Wie sie ihn haßte! Und dabei hatte sie ihn doch nur aus Liebe geheiratet, aber auch nur aus Liebe, denn gleich an dem ersten Abend, an dem er ihr auf einer Gesellschaft vorgestellt wurde, und an dem sie ihm zum erstenmal in die Augen und in sein hübsches, kluges, gutes und intelligentes Gesicht sah, hatte sie ganz deutlich gefühlt. wie ihr Herz laut und unruhig schlug, und nicht nur das, da hatte sie sich sofort gesagt: den oder Kleinen, denn Herr von Kleinen hieß der blödsinnig reiche und wahrhaft bildhübsche Assessor, der damals vor einem halben Jahr hier in der Stadt aufgetaucht war und allen jungen Mädchen den Kopf verdrehte. Allen, und das mit voller Absicht, denn er erzählte es überall, daß er nach den bitteren Enttäuschungen, die seine letzte Freundin, auf deren Treue er geschworen hätte, ihm bereitet, des Junggesellenlebens satt sei und sobald wie möglich heiraten wolle.

Nun war er auf der Suche nach einer Braut und flirtete mit allen in der gleichen Weise, um dabei herauszubekommen, welche wohl am besten zu ihm passen würde, denn er stellte, wie er es offen zugab, an seine spätere Frau sehr hohe, oder wie die jungen Mädchen das untr sich nannten, sehr seltsame Anforderungen, denn er verlangte von seiner Frau in allererster Linie, daß sie ihm der Inbegriff einer vollendeten Geliebten sein solle, so daß er neimals, auch nicht vorübergehend, auf den Gedanken kommen könne und würde, seine Frau zu betrügen, weil er im voraus woßte: das, was deine Frau dir ist und solche Liebesstunden, wie sie dir bereitet, findest du bei keiner anderen, selbst dann nicht, wenn du ihr dafür Tausende und Zehntausende bezahlst. Und mit Vorliebe pflegte er eine kleine Geschichte von Maupassant zu erzählen. Da hatte ein Mann seine Frau lange Zeit vernachlässigt, bis er sie eines Abends, als er sich mit seiner Freundin erzürnt, wieder begehrte. Die Frau verweigerte sich ihm natürlich zuerst, aber schließlich erklärte sie ihm: „Obgleich ich deine Frau bin, will ich dir fortan nicht mehr als deine Frau, sondernlediglich als deine Geliebte angehören. Ich mache dabei aber zur Bedingung, daß du mir in Zukunft jährlich die veirzigtausend Franken Rente zahlst, die su bisher deiner Freundin gabst, und ich verlange von dir, daß du mir diese Rente freiwillig um zehntausend Franken jährlich erhöhst, wenn du zugeben mußt, daß ich dir eine bessere Geliebte bin, als deine Freundin es dir war. Und an mir soll es nicht liegen, wenn du fortan nicht in jeder Hinsicht mit mir sehr zufrieden(2) bist.”

„So ungefähr denke ich mir auch meine Ehe,” pflegte Herr von Kleinen dann stets im Anschluß an die kleine Anekdote hinzuzusetzen, „nur mit dem Unterschied, daß meine Frau nicht meine Freundin übertreffen soll, die ich während, sondern diejenige, die ich vor meiner Ehe hatte, denn während meiner Ehe will ich außer meiner Frau keine Geliebte haben.”

Alles, was Herr von Kleinen ihnen da mit der größten Offenherzigkeit erzählte, war ja eigentlich — ja, was es eigentlich war, das wußten sie selbst nicht. Die einen nannten es unverschämt und unverfroren, die zweiten unanständig, die dritten frech und unerhört, die vierten lustig und amüsant, die fünften sehr offen und ehrlich, Herr von Kleinen selbst aber sagte dazu: „Meine sehr verehrten Damen, ich heirate doch nicht, um unglücklich, sondern um glücklich zu werden, und um es auch zu bleiben. Wenn ich alles das, was ich Ihnen heute so offen eingestehe, meiner späteren Frau erst nach dem Hochzeitsdiner bekenne, muß ich mich dem aussetzen, daß sie mir erwidert: Ja, wenn ich das alles im voraus gewußt hätte, würde ich dich nie und nimmer geheiratet haben, denn für mich ist in der Ehe das gemeinsame Seelenleben die Hauptsache, und für alles andere habe ich weder Sinn noch Verständnis. Und sehen Sie, meine Damen, wenn meine Frau dann so zu mir spräche, könnte ich daraus nicht ihr einen Vorwurf machen, sondern ich müßte mich selbst anklagen, sie nicht rechtzeitig über das aufgeklärt zu haben, was ich von meiner Frau verlange. Und was wäre die weitere Folge? Ich würde mich spätestens nach einem Vierteljahr, vielleicht schon nach vier Wochen, von meiner Frau wieder scheiden lassen, und das will ich nicht.”

Das fühlten die jungen Damen ihm ja auch alle nach, aber trotzdem hätte er nach ihrer Ansicht nicht so offen und so frei zu ihnen sprechen und sie selbst hätten ihn eigentlich nicht so ruhig anhören dürfen, ohne sich dadurch ihrerseits etwas zu vegeben. Aber man konnte ihm dennoch nioht böse sein, nicht nur, weil er durch seinen Vater, der durch Kriegslieferungen Millionen und aber Millionen verdiente, ein so reicher und nicht nur, weil er ein so auffallend hübscher und netter Mensch war, sondern hauptsächlich, weil er alles, was er sagte, in einer so galanten, dezenten, liebenswürdigen und feinen Weise sagte, daß seine Worte nicht verletzten, daß er durch die weder sich, noch seine Zuhörer irgendwie beschmutzte. Er war gewissermaßen der beste lebende Beweis dafür, daß man alles, aber auch alles aussprechen kann, wenn man es nur in die richtige Form zu bringen versteht. So wie es ja auch Menschen gibt, die die angeborene Gabe besitzen, mit ganz dünnen Lackstiefeln durch den größten Schmutz gehen zu können, ohne nasse Füße zu bekommen und ohne an ihren Lackstiefeln auch nur den kleinsten Spritzer davonzutragen.

Selbstverständlich waren sie alle in den hübschen und blödsinnig reichen Herrn von Kleinen verliebt gewesen, und eine jede von ihnen hatte versucht, ihm, soweit sie es konnte, ohne sich dadurch etwas zu vergeben, zu beweisen, daß gerade sie die Frau sei, die er suche und brauche. Und soviel wie in den Wochen, in denen er auf Brautschau war, hatte wohl keine vorher jemals an Lüsternheit und Sinnlichkeit in ihre Blicke gelegt, wenn sie mit einem Mann, den sie gern einfangen wollte, zusammen war. Auch sie selbst hatte natürlich ihr Glück bei ihm zu machen versucht, und ihre Augen hatten nicht zu lügen brauchen, wenn die ihn heiß und leidenschaftlich ansahen, denn das Feuer und das Temperament, das die verrieten, waren echt.

Aber das hatte ihnen allen leider nichts geholfen, ihr das echte Temperament ebensowenig wie ihren Freundinnen und sonstigen Bekannten die Fangnetze, die eine jede von ihnen, eine jede in ihrer Art, auswarf, um die Frau und zugleich auch die Geliebte, oder wohl richtiger gesagt, um die Geliebte und lediglich durch den Segen der Kirche zugleich auch die Frau des auffallend hübschen und außerdem völlig überflüssigerweise auch noch so reichen Herrn von Kleinen zu werden, denn wie eine ihrer Freundinnen einmal sehr richtig bemerkte, war er so hübsch und so elegant, daß man sich in ihn auch dann hätte verlieben müssen, wenn er nicht so blödsinniges Vermögen besessen hätte, daß er selbst nach der Vermögensabgabe noch mehr als zehn Millionen sein eigen nannte, wie es zufällig aus sicherster Quelle bekannt geworden war.

Daß Herr von Kleinen von ihnen allen, die er umwarb und die ihn auch ihrerseits umwarben, natürlich nur eine heiraten könne, da er ja leider kein Sultan war, wußten sie selbstverständlich von Anfang an, aber gerade deshalb hatte jede Einzelne es sich gewünscht und es bei Tag und bei Nacht erhofft, gerade sie möchte die Eine sein und werden, und weiter hatte sich jede Einzelne hundertmal gefragt: Wenn er dich wieder [sic! D.Hrsgb.] alles Erwarten nicht erwählen sollte, wen nimmt er dann? Wen könnte er wohl gerade dir vorziehen?

Und dann hatte er sich eines Tages mit der Olly Bernburg verlobt, ausgerechnet mit der, denn daß er auf die hineinfiel, war wirklich der reinste Hohn und die größte Ironie des Schicksals, das sich nach einem alten Wort bis zu einem gewissen Grade ja jeder Mann selbst schafft. Ein schallendes Gelächter war durch die Reihen aller jungen Mädchen gegangen, als sie erfuhren, Herr von Kleinen hat sich mit der Olly verlobt, und sie hatten auch mit vollstem Recht gelacht, denn von ihnen allen war keine so kalt, so temperamentlos und so absolut nicht leidenschaftlich wie die Olly. Wie oft hatte die nicht, wenn das Gespräch früher einmal auf die Liebe und auf die Ehe kam, geäußert: „Kinder, mir graut schon jetzt davor, wenn ich nur daran denke, daß ich später einem Mann angehören soll, und wenn ich mir vorstelle, daß mein Körper dann gewissermaßen auch sein Körper ist, mit dem er tun und lassen kann, was er will. Wie gesagt, wenn ich nur daran denke, dreht sich schon jetzt alles in mir rundum. Überhaupt die Liebe! Für die bin ich nie gewesen und es war mir schon schrecklich, wenn ich mich früher einmal von meinem Verehrer küssen lassen mußte, und ich habe da auch nur stillgehalten, um nicht ganz ungeküßt durch meine Backfischzeit zu gehen, um im Alter auch meine sogenannten Erinnerungen zu haben, und damit man mir nicht etwa nachsage, ich sei in meiner Jugend so häßlich gewesen, daß kein männliches Wesen mich je geküßt hätte, oder auch nur hätte küssen wollen. Und wie früher über das Küssen, denke ich jetzt über das Heiraten. Trotzdem muß ich natürlich geheiratet werden, schon damit nicht etwa meine Feindinnen von mir behaupten, ich sei so häßlich und hätte einen so schrecklichen Charakter, daß ich trotz aller Anstrengungen, einen Mann einzufangen, keinen bekommen hätte. Ihnen allen werde ich beweisen, daß ich sogar einen sehr netten, sehr hübschen und namentlich auch sehr reichen Mann finde, und wenn ich den erst habe, weiß ich schon heute sehr genau, was ich tue. Dann lasse ich mich sehr bald wieder von ihm scheiden, aber natürlich so, daß er als der Alleinschuldige erklärt wird und mir dementsprechend bis zu meinem Tode eine ganz hohe Rente zahlen muß. Und wenn ich die erst habe, lebe ich auf seine Kosten herrlich und in Freuden und singe vom frühen Morgen bis zum späten Abend: „Ach, das Leben ist so schön, ach, man muß es nur verstehn!”

So hatte die Olly zu wiederholten Malen gesprochen, und man hatte die Beweise dafür, daß sie sich mit dem, was sie sagte, nicht verstellte, sondern daß sie den Abscheu und den Widerwillen vor den Männern und deren Liebkosungen und Zärtlichkeiten tatsächlich empfand. Und ausgerechnet auf die hatte Herr von Kleinen hineinfallen müssen, das einzig und allein deshalb, weil sie es noch raffinierter als die anderen angefangen haben mußte, um ihn einzufangen. Na, das konnte für ihn eine genußreiche kurze Ehe und eine verdammt teure Ehescheidung werden, denn die Olly würde ihn durch ihre Temperamentslosigkeit geradezu zwingen, sich bei einer Freundin für das, was er zu Hause nicht fand, schadlos zu halten, und wenn die Olly dafür erst durch ein Detektivbureau oder sonst die Beweise in Händen hatte, dann konnte er gleich darauf gefaßt sein, ganz tief in seinen Beutel greifen zu müssen.

Eigentlich war es ja gemein, wie die Olly ihn hineingelegt hatte, und erst recht, wie sie ihn noch hineinlegen wollte. Deshalb hatten sie alle auf einer vertraulichen Kaffeegesellschaft sehr ernsthaft überlegt, ob es nicht ihre Pflicht sei, Herrn von Kleinen darauf aufmerksam zu machen, welchem Betrug oder welcher raffinierten Berechnung er zum Opfer gefallen sei. Aber die Abstimmung hatte ergeben, daß man ihm den Brief, der ihm die Augen öffnen sollte, doch nicht schreiben würde. Einmal würde man dadurch schlecht und gewissermaßen unkameradschaftlich an der Olly handeln, zweitens würde Herr von Kleinen dieem Brief selbstverständlich nicht glauben, sondern annehmen, man gönne der Olly ihr Glück nicht und versuche lediglich, sie bei ihm zu verleumden und zu verklatschen. Drittens mußte man mit der Möglichkeit rechnen, daß die Olly sich den Brief nicht ruhig gefallen ließe, sondern gegen die Absenderinnen bei Gericht Strafantrag stellte, und wenn sie das tat, was dann? Was dann, wenn die Olly da plötzlich behauptete, sie leugne es zwar nicht einen Augenblick, die in dem Brief erwähnten Äußerungen getan zu haben, aber die seien doch selbstverständlich nur scherzhaft gemeint gewesen, einmal, weil es doch heutzutage noch weniger als früher ein junges Mädchen gäbe, das nicht ihr höchstes Glück in der Ehe mit einem geliebten Mann erblicke, dann aber auch, weil sie, gerade sie, doch nicht so dumm gewesen sein würde, selbst ihren intimsten Freundinnen zu verraten, wie sie in Wirklichkeit über die Ehe und über alles, was mit der zusammenhänge, denke. Sicherlich, die Olly würde sich vor Gericht glänzend herauslügen, und sie, die anderen, flogen dann womöglich so hinein, daß sie ein paar Tage in das Gefängnis flogen. Oder sie mußten eine hohe Geldstrafe bezahlen, und für beides bedankten sie sich. Da sollte Herr von Kleinen mit seiner geliebten Olly lieber unglücklich werden. Was ging das sie an, und daß er unglücklich würde, verdiente er auch nicht anders. Das war seine gerechte Strafe dafür, daß er ihnen allen in der gleichen Weise den Hof machte und daß er sich beinahe in gleicher Weise um jede von ihnen bewarb, anstatt von Anfang an nur um eine. Und außerdem, wer da von einem Menschen zuviel verlangt und an den zu hohe Anforderungen stellt, der fällt immer hinein, ebenso wie der, der anderen eine Grube gräbt.

Und war es nicht eigentlich mehr als schamlos von ihm gewesen, so offen ud ehrlich darüber zu sprechen, daß seine spätere Frau in erster Linie seine Geliebte sein solle und sein müsse? Von der Heiligkeit der Ehe schien er eine mehr als sonderbare Auffassung zu haben, und wenn man es sich recht überlegte, konnte man es der Olly nicht verdenken, wenn sie sich von diesem Mann bald wieder freimachte und sich mit einer sehr anständigen Rente wieder in ihr jungfräuliches Jungenmädchen-Zimmer(3) zurückzog. Nach jedermanns Geschmack war ein Ehegatte wie dieser Herr von Kleinen sicher nicht, und sie alle, die hier bei der Kaffeekanne versammelt saßen, hatten wahrlich alle Ursache, dem Himmel aufrichtig dankbar zu sein, daß Herr von Kleinen sich nicht für eine von ihnen entschieden. Allerdings war es ja auch noch sehr die Frage, ob eine von ihnen Herrn von Kleinens Antrag angenommen hätte. Und wenn man ganz offen und ehrlich sein wollte, dann war die arme Olly doch wirklich im höchsten Grade zu bemitleiden und zu beklagen. Was würde die Ärmste alles erdulden und durchmachen müssen, bevor es ihr hoffentlich bald gelang, ihre Seele und ihren reinen Körper aus den Händen dieses Wüstlings, denn etwas anderes war Herr von Kleinen doch nicht, wieder zu befreien.

Aber wenn die anderen die arme Olly zum Schluß der Kaffeesitzung auch noch so sehr bedauerten und bemitleideten, aus allem, was sie da sagten, sprach doch in erster Linie der Neid, der in allen Regenbogenfarben schimmernde und schillernde Neid, daß die Olly diese in jeder Hinsicht so glänzende und verlockende Partie machte.

Nur sie selbst hatte die Olly wirklich nicht beneidet, denn sie hatte doch ihren Hans, bei dessen Anblick sie sich sofort sagte: Entweder den oder Kleinen. Dieser Herr von Kleinen war ja nun erledigt, und wenn sie den natürlich auch ihrerseits rasend gern als Mann bekommen hätte, allzu ernsthaft hatte sie für ihre Person ihre Netze nach dem nicht ausgeworfen, wie ihr das auch jetzt, als sie an alles zurückdachte, wieder klar wurde. Sie hatte sich an dem Angeln des Goldfisches überhaupt nur beteiligt, damit ihre Feindinnen und namentlich ihre besten Freundinnen ihr nicht voller Spott zuriefen: „Na, Emmy, du siehst es wohl jetzt schon ein, daß Herr von Kleinen auf dich nicht anbeißt, und deshalb gibst du dir als kluges Mädchen wohl gar nicht erst die Mühe, ihn kirre machen zu wollen?” Eine solche tödliche Beleidigung hätte sie natürlich nicht auf sich sitzen lassen können und schon damit man ihr die nicht etwa auch noch zufüge, wenn man bemerken sollte, daß sie ihre Angelversuche nicht allzu ernsthaft betrieb, warf sie fortan fast täglich einen neuen Angelhaken in Gestalt ihrer hübschen Augen, ihrer kleinen zierlichen Hände, ihrer graziösen Figur, ihrer dichten schönen Haare, ihres leichten schwebenden Ganges und ihrer weichen, einschmeichelnden Stimme nach ihm aus. Ja, einmal spielte und sang sie ihm sogar etwas vor und einmal hatte sie auch vor ihm getanzt, wenn auch nicht ganz so, wie Salome vor dem König Herodes, so doch beinahe so, wenngleich ihr Tanz natürlich auch für alle die anderen, die herumstanden und zusahen, bestimmt gewesen war. Aber ganz deutlich merkte sie ihm an, wie ihr Tanz ihm, gerade ihm gefiel, wie er keinen Blick von ihr abwandte, als sie sich graziös und zierlich, aber dabei doch voller Leidenschaft vor ihm drehte und sich hin und her wand, als sei sie eine orientalische Bauchtänzerin. Aber bauchgetanzt hatte sie selbstverständlich nicht, schon weil sie den Tanz immer noch nicht richtig heraus hatte, so unzählige Male sie den auch schon probierte. Und außerdem hätte sie gerade den Tanz in Gegenwart so vieler Zuschauer für außerordentlich unpassend gehalten.

Ja, sie selbst hatte gerade nur soviel nach ihm geangelt, wie sie schon der anderen und um ihrer selbst willen mitangeln mußte, aber allzu ernsthaft hatte sie nie seine Frau, nein, seine Geliebte werden wollen, und ganz besonders seit jenem Tage nicht mehr, an dem sie ihren Hans zum erstenmal erblickte, und als sie sich sagte: Wenn Herr von Kleinen dich wider alles Erwarten nicht heiraten sollte, dieser Herr Dr. ing. Hans Reicher nimmt dich später sofort. Daß der sich in der ersten Sekunde in dich verliebt hat, hätte ja jeder bemerken müssen, der darauf achtete, wie er dich ansah. Er hat sich ebenso schnell in dich verliebt, wie du dich in ihn.

Deshalb war es ihr auch nicht ganz leicht, nein, das war nicht wahr, deshalb war es ihr auch so unsagbar schwer geworden, sich weiter an dem Rennen um Herrn von Kleinen beteiligen zu müssen, jawohl, zu müssen, schon damit ihre Feindinnen und damit nicht erst recht ihre besten Freundinnen ihr etwa zuriefen: „Na, Emmy, du gibst das Rennen wohl beizeiten auf und sparst deine Kräfte, um bei dem Rennen um einen anderen Mann wenigstens da den ersten Platz belegen zu können?”

Einer solchen gemeinen Verdächtigung wollte sie sich natürlich nicht aussetzen, schon damit eine ihrer Freundinnen nicht vorzeitig dahinter käme, daß sie ihr Herz an den hübschen und klugen Dr. ing. Hans Reicher verloren habe, denn dadurch hätte sie die anderen vielleicht erst auf ihn aufmerksam gemacht, und wer konnte wissen, ob dann nicht auch eine der anderen sich in ihn verliebt oder sich so gestellt hätte, als sei sie in ihn verliebt. Sie aber war es wirklich, und schon deshalb verdoppelte und verdreifachte sie ihre Anstrengungen, um Herrn von Kleinen dahin zu bringen, ihr einen Antrag zu machen, damit sie ihm dann einen Korb geben und später bei passender Gelegenheit ihrem Hans einmal erklären könne: „Deinetwegen habe ich die Millionenpartie aufgegeben, deshalb mußt du nun auch immer so nett zu mir sein, wie du es nur irgend kannst, und mußt alles für mich tun, was ich von dir erbitte.” Aber so hätte sie zu ihrem Hans natürlich nur sprechen können, wenn Herr von Kleinen, nachdem er ihr einen Antrag gemacht, sie nicht sofort, ohne ihre Antwort erst abzuwarten, in die Arme genommen und geküßt hätte. Daß er das aber tun würde, erwartete sie eigentlich von ihm, das sah ihm wenigstens sehr ähnlich, und wenn er sie erst geküßt, hätte natürlich aus einer Ehe zwischen ihr und ihrem geliebten Hans nichts werden können. Das würde ihr namentlich für den armen Hans, nein für sie, nein für sie beide ganz schrecklich leid getan haben, aber was sollte sie machen, wenn Herr von Kleinen sie später sofort küßte? Die Männer waren ja nun einmal so brutal, und als schwaches weibliches Wesen war man gegen ihre Brutalitäten einfach machtlos.

Na, als Herr von Kleinen auf die Olly hineingefallen, war für sie Gott sei Dank die Gefahr vorüber, sich gegen ihren Willen, nur weil er es sich vielleicht in den Kopf gesetzt, mit ihm verloben zu müssen, und so konnte sie ihre ganze große Liebe ihrem Hans zuwenden, der sie seinerseits wirklich noch mehr zu lieben schien, als sie ihn, denn es bedurfte ihrerseits gar keiner oder wenigstens keiner nennenswerten Ermunterung und Nachhilfe, um ihn dahin zu bringen, daß er ihr die große Liebe, die er, wie sie ihm deutlich anmerkte, für sie empfand, auch zeigte und verriet. Etwas nachhelfen aber mußte sie dabei natürlich, denn so klug, so energisch und bestimmt ihr Hans sonst in allem war, in punkto Liebe und im Verkehr mit jungen Mädchen schien er etwas schüchtern und zaghaft. Da war er etwas zu wenig selbstbewußt und schien es gar nicht annehmen zu können, daß sich ein hübsches, reizendes, junges Mädchen wie sie, sich so in ihn verliebe, daß er es wagen dürfe, sie um ihre Hand zu bitten, oder ihr derartig den Hof zu machen, daß er sie als Mann von Ehre eines Tages um ihre Hand bitten müsse. Und ihr Hans hatte ihr dann ja auch später einmal eingestanden, daß er nie darauf verfallen wäre, sich mit ihr zu verloben, nein, das hatte er nicht gesagt, sondern daß er es nie gewagt hätte, ihr seine Liebe zu gestehen, wenn sie ihm nicht in so zarter diskreter Weise klargemacht hätte, wie lieb, wie rasend lieb er sie habe. Ihm diese Erkenntnis beizubringen, war bei seiner Bescheidenheit und Schüchternheit nicht so ganz leicht und nicht so ganz einfach gewesen, denn natürlich durfte sie sich dabei nichts vergeben, aber das schwere Kunststück war ihr dann doch gelungen, und wie dankbar war er ihr: nicht nur mit glühenden Worten, und nicht nur mit flammenden Küssen, sondern auch mit einem geradezu wundervollen, breiten, goldenen Armband mit kostbaren Steinen, das sicher viele, viele Tausende kostete. Und dabei hatte sie nicht einmal geahnt, geschweige denn gewußt, daß ihr Hans so reich sei, um ihr ein derartiges, nein um ihr überhaupt ein Geschenk machen zu können. Woher hätte sie auch wohl wissen sollen, daß er über derartige Geldmittel verfügte? Erst am Abend nach ihrer Verlobung, als sie wieder allein war und das schöne Armband, nicht, weil es so wertvoll, sondern lediglich, weil es von ihrem über alles geliebten Hans war, immer wieder voller Freude betrachtete, erst da fiel ihr wieder ein, oder da war ihr so, als habe er ihr einmal, als er sie auf einer Gesellschaft zu Tisch führte, davon gesprochen, daß er zwar kein Kapital besäße, daß aber sein hohes Gehalt und die großen Summen, die er nebenbei verdiene, ihm ein in jeder Hinsicht völlig sorgenfreies Leben ermöglichten und es ihm gestatteten, sich jeden seiner Wünsche zu erfüllen. An den genauen Wortlaut dessen, was er sagte, hatte sie sich natürlich nicht erinnert, das schon deshalb nicht, weil sie nicht sonderlich auf das achtete, was er ihr da erzählte, sondern weil sie ihm nur soweit zuhörte, wie es der Anstand und die gute Sitte erforderten. Am liebsten hätte sie ihm sogar zugerufen: Bitte lassen Sie das Thema, das für mich peinlich ist, da ich Sie doch liebe. Aber das hätte sich ja anhören können, als nähme sie kein Interesse an seiner Arbeit und an deren künstlerischem und finanziellem Erfolg. Und wie sollte eine Ehe wohl glücklich und harmonisch werden und bleiben, wenn die Frau nicht an allem, aber auch wirklich an allem, was den Mann betraf, innigen und aufrichtigsten Anteil nahm, an seinem Leid und an seinem Kummer, ganz besonders aber an seinem Schaffen und an seinem Vorwärtskommen.

Ja, sie hatte sich tatsächlich nur um seiner selbst willen in ihn verliebt, und bis zu diesem Tage hatte sie es auch noch nicht eine Minute bereut, ihm ihre große, ihre ganz große, selbstlose Liebe geschenkt zu haben, denn er hatte sich ihrer, ihrer Person und ihrer Liebe, stets würdig erwiesen. Und wie dankte er es ihr nicht auch heute noch täglich aufs neue, daß sie sich mit ihm, nein, daß er sich mit ihr, nein, das auch nicht, sondern daß sie ihn mit sich, oder hieß es mit ihr, oder mit ihrer Person verlobt und verheiratet hatte? Aber wie das richtige Deutsch in diesem Falle lautete, war ja auch ganz gleich, sie hatte andere, größere, wichtigere Dinge, die sie augenblicklich beschäftigten, aber trotzdem mußte sie ihrem Hans das Zeugnis ausstellen, daß er der liebenswürdigste, der galanteste und der höflichste Bräutigam gewesen war, den sie sich nur hätte wünschen können. Und was er in der der Hinsicht als Verlobter versprochen, das hatte er auch als Ehemann gehalten. Von der Minute an, da sie seine Frau geworden, hatte er sie mit Aufmerksamkeiten aller Art überschüttet und sie würde es ihm nie vergessen, daß er auf der Hochzeitsreise einem gemeinsamen Bekannten, den sie beide unterwegs trafen, auf dessen Frage: „Sagen Sie bitte, wie oft küssen Sie Ihrer Frau Gemahlin eigentlich am Tage die Hand?” zur Antwort gab: „Oft, sehr oft sogar, aber trotzdem noch lange nicht genug.” Das klang so hübsch, daß selbst zur Zeit der Minnesänger ein Ritter, der da auszog, um für seine Herrin zu kämpfen und zu sterben, es nicht hübscher und galanter hätte sagen können. Und die Hauptsache, was er da aussprach, war seine feste, ehrliche Überzeugung gewesen. Stolz und glücklich wie eine junge Königin, der ein ganzes Volk zujubelt und zujauchzt, saß sie da, als er ihr in Gegenwart des Freundes diese Huldigung darbrachte. So glücklich wie in der Minute, hatte sie sich vorher in ihrem ganzen Leben noch nicht gefühlt, denn seine Worte verrieten ihr ja, wie er sie über alles, aber auch wirklich über alles liebe, und wie dankbar er ihr dafür war, daß sie es ihm nicht nur erlaubte, sondern ihn sogar ein klein wenig dazu ermutigte, um sie zu werben. Aber das Zeugnis durfte sie auf der anderen Seite auch sich selbst ausstellen, daß sie ihm an jenem Abend, als sie endlich wieder allein, allein in ihrem Zimmer waren, daß sie ihm da nicht nur mit Worten für seine Ritterlichkeit und für die Abfuhr, die er dem Freund gegeben, gedankt hatte. Sie war ihm die zärtlichste und die leidenschaftlichste Geliebte gewesen, und sie war nicht müde geworden, sich ihm immer und immer wieder zu schenken. Allerdings, wie hatte er es auch verstanden, sie seinen Wünschen durch seine Küsse gefügig zu machen und durch seine Küsse in ihr die Leidenschaften immer wieder zu erwecken. Aber das lag natürlich nicht daran, daß er anders und aufregender küßte, als alle die anderen, nein als die wenigen, von denen sie sich als Backfisch bei dem Pfänderspiel und als erwachsenes junges Mädchen bei dem Flirt gelegentlich einmal küssen ließ, sondern das hatte seinen Grund selbstverständlich nur darin, daß sie beide einander über alles liebten und daß dementsprechend seine Küsse eine ganz andere Wirkung auf sie ausübten, als die ihrer früheren jungen Freunde und Verehrer, obgleich unter denen einige gewesen waren, die geradezu blödsinnig aufregend zu küssen verstanden und von denen sie sich deshalb auch sehr, sehr gern küssen ließ. Namentlich der Alfred hatte sie in der Hinsicht oft ganz verrückt gemacht, oder war es der Heinrich gewesen? Nein, der nicht, dessen Küsse hatten immer so gräßlich nach Zigarettentabak geschmeckt, aber der Alfred war es auch nicht, dessen Küssen sie immer so entgegenfieberte, und mit einemmal wußte sie auch, wer es war, den sie meinte. Es war der Ruprecht, oder sollte es vielleicht doch der Martin gewesen sein? Na, wie er hieß, war ja auch einerlei, sie konnte sich wirklich nicht mehr auf seinen Namen besinnen, dazu lag diese harmlose kindliche Küsserei viel zu weit zurück.

Auf jeden Fall hatten noch keines Mannes Küsse sie vorher so erregt, wie die ihres Hans, und das war ja auch ganz natürlich, denn er war doch ihr Mann, und einen besseren hätte sie sich in keiner Weise wünschen können.

Ach, sie war ja so unbeschreiblich glücklich mit ihm gewesen, so jeder Beschreibung spottend über alles glücklich, und dies war nun das Ende!

Und vielleicht war es wirklich das Ende, denn was dann, wenn sie später bei der Geburt des Kindes starb, und es kam doch oft vor, daß so zarte und zierliche Frauen, wie sie eine war, bei der Geburt ihres ersten Kindes ihr Leben ließen? Aber sie, gerade sie wollte noch nicht sterben, noch nicht und nach neun Monaten auch noch nicht. In den Zeitungen hatte sie allerdings in den letzten Wochen oft gelesen, daß jeder, der in dieser Zeit die Welt verließe, nichts mehr versäume. Nicht die Lebenden, sondern nur noch die Toten wären zu beneiden, und wahrhaft glücklich wären nur die Seelen, die im Jenseits weilten und sie sich nicht mehr darüber aufzuregen brauchten, wenn die Preise für Kohlen, Licht, Feuerung und Lebensmittel immer weiter erhöht und wenn imer neue und immer größere Steuerzettel in das Haus gebracht würden. Aber ob die Leute, die da diese Artikel schrieben, nicht trotzdem selbst gern weitergelebt hätten, wenn sie eines Tages vor die Frage gestellt worden wären: Was willst du? Auf der Stelle aller Sorgen für immer enthoben sein, oder, ohne zu sterben, deine Sorgen weiterhin tragen?

Und außerdem hatte doch jeder, der dieses Dasein nicht mehr ertragen wollte oder konnte, die Möglichkeit, jederzeit freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Das hatte der liebe Gott doch in seiner Gnade und Weisheit so eingerichtet, und wer von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch machte, weil er dazu zu feige war, der hatte auch kein Recht, mit dem lieben Gott und mit dem Schicksal über sein schweres Kreuz, das er tragen müsse, zu hadern.

Und sie persönlich trug ihr Kreuz sehr gern, weil es so leicht war, daß sie es gar nicht spürte. Ihr Hans gab ihr soviel Wirtschafts- und Toilettengeld, wie sie nur brauchte, und einen Steuerzettel hatte sie überhaupt noch nie in Händen gehabt. Und da ihr Hans glänzend verdiente, klagte er auch nie, er sprach niemals über die teuren Zeiten, und er sprach überhaupt nie von Geld. Er gab ihr, wenn sie etwas brauchte, und er gab ihr auch oft freiwillig, wenn sie ausnahmsweise einmal nichts brauchte. Ja, einen besseren Mann, als sie ihn besaß, hätte sie auf der ganzen weiten Welt nicht bekommen können.

Und da sollte sie vielleicht schon nach neun Monaten sterben? Sie dachte ja gar nicht daran, aber bei der Vorstellung, daß sie trotzdem vielleicht, oder gar sicher sterben müsse, schrie sie plötzlich vor Angst und vor Entsetzen laut auf. Sie war doch noch so jung, und sie lebte so gern, schon weil sie an der Welt als solcher täglich soviel Freude hatte. Wie liebte sie nicht die Natur, den schönen Wald, den Gesang der Vögel, das Rauschen des Meeres, den Anblick der Berge, ach und wie gern zog sie sich nicht hübsch an! Als junges Mädchen hatte sie sich da oft Einschränkungen und Entbehrungen auferlegen müssen. Wie vieles hatte sie sich nicht kaufen können, weil es ihr oder ihren Eltern zu teuer war. Wie oft hatte sie nicht, wie man so sagt, stundenlang vor einem Schaufenster gestanden und hatte ihre Blicke nicht von einem schönen Kleid oder einem wundervollen Hut abzulenken vermocht und hatte dann doch auf alle diese Herrlichkeiten verzichten müssen. Wie hatte ihr Hans sie nicht bemitleidet, als sie ihm letzthin einmal von einem blendend schönen Kamelhaarmantel erzählte, den sie sich vor zwei Jahren, als es so fürchterlich kalt war, leidenschaftlich gern gekauft hätte. Dreitausend Mark hatte der Mantel gekostet, und er war auch dadurch leider nicht billiger geworden, daß sie beinahe jeden Tag in das Geschäft ging, um sich zu erkundigen, ob der Preis noch derselbe sei. Im stillen hatte sie gehofft, die Firma möge es endlich einsehen, daß sie den Mantel für dreitausend Mark nicht los würde und daß sie ihn infolgedessen ganz, aber auch ganz bedeutend herabsetze, vielleicht auf die Hälfte oder noch weiter herunter. Doch diese ihre Hoffnung hatte sich leider nicht erfüllt, eines Morgens war der Mantel zu dem vollen Preis verkauft gewesen, und die Dame, die ihn sich erstanden. ging fortan mit ihm stolz und aufgebläht wie ein radschlagender Pfau durch die Straßen der Stadt.

Ja, sie hatte es in ihrer Jugend wirklich nicht immer leicht gehabt, wenn sie auch nicht gerade zu hungern brauchte, aber manchmal war es ja leichter, auf ein Stück Brot, als auf einen so schönen und namentlich auf einen so warmen Mantel zu verzichten. Das hatte ihr Hans auch gleich eingesehen, als sie mit ihm darüber sprach und nicht nur das, er hatte sich sofort an die Firma gewandt und ihr den Auftrag gegeben, ihm für sie unter allen Umständen einen solchen Mantel zu besorgen. Leider aber hatte die Firma erklärt, es sei ganz ungewiß, ob und wann sie den Auftrag werde ausführen können, jedenfalls werde heute ein solcher Mantel das Mehrfache von dem kosten wie früher.

Aber ob sie den Mantel nun bekam oder nicht, das war schließlich auch einerlei, denn ihr Hans wollte ihr, wenn es keine Kamelhaarmäntel mehr gab, dafür eine kostbare lange Persianerpelzjacke schenken, die sicher noch viel teurer war und die schließlich auch dieselben Dienste tat, vorausgesetzt, daß sie die überhaupt noch anziehen konnte, denn was dann, wenn sie starb? Aber nein, schrie sie von neuem auf, sie wollte und sie durfte noch nicht sterben, denn sie lebte doch so gern, und wie hatte sie sich darauf gefreut, mit ihrem Hans das Theater, die Konzerte und die Gesellschaften besuchen zu können. Namentlich das Theater, in dem „Schloß Wetterstein”, „Die Büchse der Pandora” und ähnliches gegeben wurde, nein, namentlich die Konzerte, denn sie liebte gute Musik über alles, nein, namentlich die Gesellschaften, denn sie tanzte für ihr Leben gern und sie tanzte auch sehr gut.

Und nun würde sie voraussichtlich wenigstens ein Jahr, wenn nicht noch länger, nicht tanzen können! Wie sie ihren Hans haßte! Wie sie ihn haßte, ihn, den sie dereinst über alles geliebt und dem zuliebe sie freiwillig darauf verzichtet hatte die Frau des Herrn von Kleinen zu werden, denn wenn sie es ernstlich und nicht nur der anderen wegen pro forma darauf angelegt hätte, ihn wirklich einzufangen, dann wäre ihr, gerade ihr, das auch todsicher gelungen.

Das war nun der Dank dafür, daß sie ihrem Hans eine so große, so selbstlose Liebe entgegen­gebracht hatte.

Wenn sie das gewußt, oder auch nur geahnt, oder auch nur für möglich gehalten hätte, daß er sein Versprechen, ihre Ehe solle in den ersten Jahren gänzlich kinderlos bleiben, so miserabel halten würde, nie und nimmer wäre sie dann seine Frau geworden.

Bis sie nun mit einemmal der Gedanke durchzuckte: Das, was du dir da eben selber sagtest, hat dein Mann gewußt oder wenigstens geahnt, und deshalb hat er dich von Anfang an mit seiner Äußerung, auch er wünsche sich vorläufig keine Kinder, absichtlich und wissentlich belogen.

Wie konnte ein Mensch und noch dazu ein Mann nur lügen! Einer Frau blieb ja leider manchmal nichts anderes übrig, als zuweilen, wenn auch nur ein ganz klein wenig, von der Wahrheit abzuweichen, aber für einen Mann gab es in der Hinsicht gar keine Entschuldigung. Ihr fiel unwillkürlich ein Satz wieder ein, den sie vor Jahren einmal irgendwo gelesen und der sich ihr so fest eingeprägt hatte, daß sie ihn auch heute noch wußte. Der lautete: „Nein, sagte er. Das Wort stand wie ein Fels.” Wie ein Fels! So mußte es aber auch sein, wenn ein Mann etwas sagte. Das mußte unverrückbar dastehen, an dem durfte man nicht rütteln und nicht schütteln können, auf das mußte man bauen dürfen, wie ein Baumeister auf den festen Untergrund eines Hauses.

Und sie hatte auch auf jedes Wort, das ihr Hans als Bräutigam und als Ehemann zu ihr sprach, gebaut. Nie war ihr bisher auch nur die Vermutung gekommen, er wisse überhaupt, was eine Lüge oder auch nur eine Unwahrheit sei. Sie hätte sich in Grund und Boden geschämt, ihn einer solchen jemals auch nur für fähig zu halten, und nun hatte er sie doch belogen, nicht etwa in der Erregung und in der Notlage eines Augenblicks, sondern wochen- und monatelang hindurch, denn anders war sein Verhalten, als sie ihm gestand, sie glaube, nein, sie befürchte, nein, sie habe wohl die Gewißheit, Mutter zu werden, gar nicht zu erklären. Als etwas ganz Selbstverständliches hatte sie es angenommen, daß auch er außer sich geraten und ganz verzweifelt sein werde. Ja, sie war sogar darauf gefaßt gewesen, daß er ihr die Schuld an dem Unglück zuschiebe, denn die Männer waren und blieben ja nun einmal alle ungerecht. Aber nichts von alledem war geschehen, denn anstatt aus Verzweiflung war er vor Freude ganz außer sich gewesen, er hatte gelacht und sich in die Hände geschlagen, und es hätte nicht viel gefehlt, dann hätte er versucht, auf einem Bein einen Two-Stepp zu tanzen. Reineweg wie albern hatte er sich benommen, und nicht eine Sekunde hatte er auch nur daran gedacht, sie zu bemitleiden, sie zu bedauern oder sie irgendwie zu trösten. Nur geküßt hatte er sie und wie! Wie toll hatte er ihren Mund mit seinen Küssen bedeckt und ihr zwischendurch die zärtlichsten Worte zugerufen.

Das alles hatte sie im ersten Augenblick nicht begriffen und nicht verstanden, bis sie es sich dann dahin deutete, er wolle sie durch die große Freude, die er zur Schau trug, über das Schwere, nein über das Entsetzliche, das ihr bevorstand, hinwegtäuschen und ihr damit auch darüber hinweghelfen.

Daß seine Freude echt sein könne, hatte sie bis jetzt nicht glauben können, nun aber wußte sie mit einemmal, daß die tatsächlich echt war. Er hatte sich baldmöglichst ein Kind, vielleicht sogar Zwillinge oder Drillinge gewünscht und sich lediglich gsagt: Das darfst du der kleinen Frau aber nicht verraten. Wenn es später erst soweit ist, wir sie sich schon in das Unabänderliche fügen und dann mit dir zusammen sehr bald über den Kindersegen glücklich sein.

Ja, in das Unabänderliche fügen mußte sie sich natürlich, schon weil ihr nichts anderes übrigblieb, aber mit ihm zusammen über den bevorstehenden Kindersegen glücklich zu sein, vermochte sie nicht, schon weil sie sich plötzlich sagte: Um Gottes willen, was dann, wenn sein stiller Wunsch in Erfüllung gehen sollte und wenn es wirklich Zwillinge oder gar Drillinge werden? Dann starb sie bei der Geburt so sicher wie ein Mörder stirbt, dem der Scharfrichter mit dem Beil den Kopf abschlägt. Aber sie wollte doch noch nicht sterben. Ach nein, jetzt nach neun Monaten noch nicht, vielleicht im nächsten oder im übernächsten oder in einem der kommenden Jahre, aber jetzt noch nicht.

Wie sie ihren Mann haßte, wie sie ihn über alles haßte, daß er sie so leichtsinnig in Todesgefahr gebracht hatte. Und vielleicht hatte er das sogar absichtlich getan. Wer konnte wissen, ob er ihrer nicht schon überdrüssig geworden war, ob er sich inzwischen nicht in eine andere verliebt hatte und nur auf ihren Tod wartete, um diese andere heiraten zu können. Und zu ihrem Tode sollte ihr und ihm das ihr bevorstehende Wochenbett verhelfen. Ach, wie gemein, wie bodenlos gemein die Männer waren. Nicht einmal das Leben ihrer eigenen Frau schonten sie, wenn ihre Sinne eine andere begehrten. Und wie oft hatte nicht gerade ihr Mann erklärt, er liebe nur sie, und er könne sich nicht vostellen, wie er jemals ein Leben ohne sie ertragen habe, und wie er es später vielleicht ohne sie einmal wieder ertragen solle. Damals hatte sie das geglaubt, wie sie ihm ja auch glaubte, daß er sich ebenfalls in den ersten drei bis fünf Jahren ihrer Ehe keine Kinder wünschte, aber auch alles, was er ihr da sonst erzählte, war natürlich eine Lüge gewesen, eine ganz gemeine Lüge, denn wenn er nciht auf ihren baldigen Tod spekulierte, wie war er dann schon vor Monaten dazu gekommen, ihr davon zu sprechen, er wisse nicht, wie er später einmal ein Leben ohne sie ertragen solle? Da hätte er es doch erst mal ruhig abwarten können, ob sie auch wirklich vor ihm stürbe, denn sie war doch acht Jahre jünger als er. Warum sollte sie da vor ihm sterben? Wie überall, so hatte doch auch bei dem Sterben das Alter meistens den Vorzug.

Wie Wolkenbrüche stürzten ihr die Tränen aus den Augen, und mit den Händen und Füßen zugleich klammerte sie sich jetzt an die Chaiselongue, um nicht fortschwimmen zu müssen, schon weil sie in all ihrem grenzenlosen Kummer nicht wußte, zu wem oder wohin sie hätte schwimmen sollen. Aber als ihre Tränendrüsen dann leer geworden, als sie bei dem besten Willen nicht mehr weinen konnte, und als sie dann ruhiger wurde, gestand sie sich ein, daß sie ihrem Mann doch wohl unrecht getan habe. Gerade er hatte in seinem ganzen Wesen so gar nichts von einem Frauenmörder an sich und er sah auch absolut nicht wie ein solcher aus. Und warum sollte er wohl auch die Absicht haben, sie mit aller Gewalt in ein frühes Grab zu bringen? Liebte er eine andere und wollte er sie loswerden, um diese andere zu heiraten, hätte er ihr doch nur den Vorschlag einer Scheidung zu machen brauchen, und wenn er ihr eine anständige Rente aussetzte, würde sie auch bereit sein, darauf einzugehen, schon damit sie nicht etwa nach einem Jahr schon wieder ein Kind oder gar Zwillinge, wenn nicht gar Drillinge bekäme. Aber natürlich liebte er auch gar keine andere, und daß sie sich das für eine kurze Minute hatte einbilden können, lag sicherlich an den sogenannten interessanten Umständen, in denen sie sich befand, die sie allerdings absolut nicht interessant finden konnte. Namentlich in den allerersten Anfängen der Schwangerschaft, und sie befand sich ja erst in den allerallerersten, sollte es ja sehr häufig vorkommen, daß die Frau an Halluzinationen, an Wahnvorstellungen, an krankhafter Eifersucht, an Verfolgungs­wahnsinn und an ähnlichen lieblichen Begleit­erscheinungen litt.

Wie sie ihren Mann haßte, daß er sie in diesen Zustand gebracht hatte, wie sie ihn über alles auf der Welt haßte, ebenso wie sie ihn dereinst über alles liebte. Und wie sie ihn haßte, weil er sich so freute.

Aber vielleicht war seine Freude ja gar nicht echt, vielleicht war er im stillen ebenso entsetzt wie sie selbst, und er hatte seine Freude am Ende nur geheuchelt, um ihr seine wahre Stimmung nicht zu verraten und um dadurch ihre Verzweiflung und ihren Kummer nicht noch zu erhöhen.

Na, welche Gefühle in ihm die echten waren, würde sie schon heraus bekommen, wenn er nach Bureauschluß zu Tisch nach Hause kam, und wenn sie dann, wie er es nach getaner Arbeit so sehr liebte, lange miteinander plaudernd zusammensaßen.

So trocknete sie denn endlich die letzten Tränenspuren in ihrem Gesicht und erhob sich nun, um sich für ihn und für die Abendmahlzeit hübsch anzuziehen, denn noch konnte sie das ja, noch war ihre Figur glücklicherweise nicht entstellt, und bis es dahin kam, würden immerhin noch mehrere Monate vergehen.

Ob dein Mann nachher, wenn er zurückkommt, über den bevorstehenden Kindersegen noch dasselbe glückstrahlende Gesicht machen wird, wie am frühen Morgen, als er dich verließ? fragte Frau Emmy sich immer und immer wieder, und ihr war, als hätte sie der Rückkehr ihres Gatten, den sie den ganzen Tag über noch nicht wiedergesehen hatte, da er zum zweiten Frühstück in der Stadt geblieben war, noch nie mit solcher Ungeduld entgegengesehen wie heute.

Und als er dann endlich kam, und als sie sich bald darauf an dem wie immer sehr hübsch gedeckten kleinen runden Eßtisch gegenüber saßen, da fiel es ihr sofort auf, ihr Mann war lange nicht mehr so vergnügt wie am Morgen, obgleich er, wie sie auf Befragen erfuhr, keinerlei geschäftlichen Ärger und Verdruß gehabt hatte. Im Gegenteil, es war ein Abschluß zustande gekommen, der ihm einen großen finanziellen Gewinn brachte, namentlich aber eine Arbeit, die ihn als Künstler, der er in seinem Fach war, im hohen Grade lockte und reizte und die ihm die Freiheit gab, ganz nach seinen eigenen Ideen schaffen zu können.

Sein etwas bedrücktes Wesen, das er zur Schau trug, obgleich er sich bemühte, heiter und lustig zu erscheinen, mußte also einen anderen Grund haben, und zwar sicher einzig und allein den, den sie von Anfang an vermutete. Je länger er selbst inzwischen darüber nachgedacht, desto mehr mußte auch er zu der Erkenntnis gekommen sein, daß es mit dem Kindersegen wirklich noch Zeit gehabt hätte. Nun tat ihm das Unglück leid, das er angerichtet, und sah auch seinerseits selbstverständlich keine Möglichkeit, das, was geschehen war, wieder ungeschehen zu machen.

Sie sah und merkte ja deutlich, wie bedrückt iihr Mann im Grunde seines Herzens war, und das bewies ihr, daß er doch nicht ganz der schlechte Mensch sei, für den sie ihn vorhin gehalten, als sie ihn haßte. Aber hassen tat sie ihn natürlich immer noch, nur vielleicht nicht mehr ganz so wie vor einigen Stunden, obgleich seine Reue und seine innere Zerknirschtheit ja absolut nichts an der Tatsache änderten, daß sie Mutter werden würde.

Aber das, was sie für Reue und Zerknirschtheit wegen seines sträflichen, unverantwortlichen Leichtsinns und wegen des an ihr begangenen Wortbruches hielt, war in Wirklichkeit etwas ganz anderes, denn als sie, von Tisch aufgestanden, in seinem Zimmer bei dem Kaffee, der Zigarre und der Zigarette zusammensaßen, erzählte er ihr, er sie heute mittag bei ihrem Hausarzt gewesen, um mit dem über das zu sprechen, was sie ihm am frühen Morgen mitgeteilt, und da habe der ihm den dringenden Rat gegeben, noch heute, spätestens aber morgen eine Trennung des bisherigen gemeinschaftlichen Schlafzimmers vorzunehmen. „Gewiß werden Sie,” so etwa hatte der Doktor weiter gesagt, „gewiß werden Sie viele Kollegen von mir finden, die da behaupten, die modernste Forschung habe den Beweis dafür erbracht, daß ein Verkehr zwischen den Eheleuten selbst bis in den siebenten Monat hinein weder der Frau noch dem Kinde, das sie unter dem Herzen trägt, etwas schadet, aber ich persönlich denke darüber anders. Ich vermag mich dieser modernen Anschauung nicht anzuschließen und stehe auf dem alten Standpunkt, daß jeglicher Verkehr zwischen den Ehegatten aufzuhören habe, sobald die Frau weiß, daß ihr Mutterfreuden bevorstehen, und ich vertrete diesen Standpunkt erst recht, wenn es sich da um eine junge Frau handelt, die, wie die Ihrige, ja zwar Gott sei Dank ganz gesund, aber trotzdem doch sehr zierlich und dementsprechend auch sehr zart ist.”

Mit ganz großen starren Augen sah sie ihn an, während er so zu ihr sprach, und es dauerte lange, bis sie das, was er ihr sagte, auch begriffen und verstanden hatte. Dann aber schrie sie plötzlich gellend auf und stürzte sich ihm zu Füßen, und seine Knie umklammernd, rief sie ihm zu: „Hans, es kann, es darf ganz einfach nicht wahr sein, daß ich fortan und daß ich schon jetzt allein schlafen soll. Muß ich denn schon jetzt des Kindes wegen auf alle Freuden des Lebens verzichten? Soll ich fortan des Abends, wenn wir zusammen aus waren, einschlafen, ohne mit dir im Bett noch über dies und jenes, das wir erlebten und das uns noch beschäftigt, etwas zu plaudern? Soll ich des Morgens aufwachen und aufstehen, ohne von dir im Bett den Gutenmorgenkuß erhalten zu haben? Nein, Hans, das kann, das darf nicht sein. Mag der Doktor mit seinen veralteten Ansichten sagen, was er will, ich tue es ganz einfach nicht, ganz abgesehen davon, daß ich auch nicht daran denke, schon jetzt auf jeden Verkehr mit dir zu verzichten. ich bin doch noch jung, Hans, und wir sind doch erst kaum verheiratet. Müßte ich mich wirklich dem Machtspruch des Arztes fügen, dann würde mir bis zu einem gewissen Grade zumute sein, als wäre ich schon Witwe geworden.”

„Na, ganz so schlimm ist es nun doch wohl nicht,” versuchte er sie zu trösten, „und ich brauche dir wohl nicht erst zu sagen, Liebling, daß ich alles das, was du da eben anführtest, zum mindesten ebenso entbehren werde wie du, wenn nicht sogar noch mehr. Auch mich hat das, was der Arzt mir da auseinandersetzte, im ersten Augenblick völlig niedergeschmettert, auch ich habe ihm zuerst widersprochen, bis ich doch einsehen mußte, daß er recht hat, wenn er mir schließlich erklärte, wir beide dürften jetzt nicht mehr an uns, sondern lediglich an das Leben unseres Kindes denken.”

„Aber noch lebt das Kind doch nicht,” schrie sie von neuem verzweiflungsvoll auf, „und es wird doch noch Monat dauern, bis es lebt.”

Doch er ließ sich nicht beirren: „Wir müssen uns dem Machtwort des Arztes fügen, Liebling, zumal er sonst bei deiner zarten Konstitution jede Verantwortung dafür ablehnt, daß später alles glatt verläuft, und daß du dich, wenn alles erst überstanden ist, von dem Wochenbette sehr schnell und vollständig wieder erholst. Und da wir uns fügen müssen, bitte ich dich, mache mir das Herz nicht unnötig schwer, verlange nichts Unmögliches von mir, denn ich müßte mir doch später bis an mein Lebensende die bittersten Vorwürfe machen, wenn ich dir gegenüber schwach würde, und wenn du dann darunter vielleicht Jahre und Jahre zu leiden hättest.”

Um ihm das Herz nicht schwer zu machen, dann aber auch, weil sie natürlich nicht die leiseste Lust verspürte, von der Geburt des Kindes, falls sie die überhaupt überlebte, einen dauernden Schaden an ihrer Gesundheit davon zu tragen, gab sie es denn schließlich auf seine Bitten hin auf, ihn umstimmen zu wollen. Nur eine einzige gemeinsame Nacht in ihrem Schlafzimme bettelte und chmeichelte sie ihm noch ab, denn der Arzt hatte ja selbst erklärt, er solle heute oder morgen die Schlafzimmer trennen. Da durften sie also heut noch zusammen bleiben, ohne daß es ihr oder dem zukünftigen Kinde etwas schaden konnte.

Eine Nacht hatten sie noch das gemeinsame Schlafzimmer, aber als sie am nächsten Abend den Raum betrat, in dem sie mit ihrem Hans zusammen Stunden des höchsten und des reinsten Glückes verlebte, da packte sie das Grauen und das Entsetzen, und sie mußte sich Gewalt antun, um nicht mit einem lauten Aufschrei hinzustürzen. Wie schrecklich öde, kahl und leer das Zimmer jetzt aussah. Es fehlten sein Bett und sein Waschtisch, seine Schlafanzüge, die stets an dem Kleiderbügel an der Wand gehangen, ach, es fehlten alle die zahlreichen Äußerlichkeiten, die sie, auch wenn er einmal verreist gewesen war, doch stets an ihn erinnerten, und die sie auch stets darauf aufmerksam machten: dieses hier ist auch sein Reich, hier kann er nicht nur ein- und ausgehen wann er will, hier wohnt er mit dir zusammen. Wenn ihr euch hier seht und sprecht, gehört ihr noch mehr zusammen, als wenn ihr in den anderen Räumen eurer Wohnung beisammen seid.

Nun war er ausgezogen, nicht nur für heute und morgen, sondern für viele Wochen und Monate, und wer konnte es wissen, vielleicht sogar für immer, denn wenn das Kind erst da war und wenn das bei ihr schlief, oder richtiger gesagt, wenn das erst bei ihr die Nächte hindurch schrie, wer konnte es ihm da verdenken, wenn er auch späterhin in der kleinen Stube blieb, die sie heute als sein Schlafzimmer eingerichtet hatte, denn bei seiner vielen Arbeit mußte er unbedingt seine ungestörte Nachtruhe haben.

Das sah sie ja ein, aber eine Frau, noch dazu eine, die kurz zuvor einem Kinde das Leben schenkte, brauchte später selbstverständlich auch ihren Schlaf. Ja, sie brauchte ihn doch erst recht, aber daran dachten die Männer natürlich nicht eine Sekunde, wenn sie ein Kind auf die Welt setzten.

Gewiß, so dumm und so albern war sie Gott sei Dank nicht, daß auch sie mit in den Klageruf eingestimmt hätte: die Männer sind die geborenen und die krassesten Egoisten. Aber daß die nicht einmal wußten, wie man das Wort Rücksicht buchstabierte, geschweige denn, wie man das schrieb, war leider Gottes eine sehr traurige feststehende Tatsache.

Ihr Hans war ausgezogen, und nicht nur das, er hatte ihr auf das bestimmteste erklärt, er würde weder des Abends ihr Zimmer auch nur für einen kurzrn Augenblick betreten, um ihr den Gutenachtkuß zu geben, noch würde er des Morgens zu ihr kommen, um sich bei ihr danach zu erkundigen, wie sie geschlafen habe. Besser sei immerhin besser und Vorsicht wäre nur in den seltensten Fällen Feigheit, sondern meistens sogar ein Teil der Tapferkeit. Außerdem müßten sie beide jetzt fortwährend an die Ratschläge des erfahrenen alten Arztes denken und dürften einander auch nicht eine Sekunde in Versuchung bringen, gegen diese zu sündigen und zu verstoßen.

Nun war sie ganz allein in dem großen Zimmer, während sie sich auskleidete, und während sie sich für die Nacht frisierte und nun, wo seine Möbel herausgenommen waren, sah sie eigentlich zum erstenmal, wie groß das Zimmer war. So groß, daß sie sich in dem nicht nur beinahe, sondern wirklich fürchtete und daß sie mehr als einmal drauf und dran war, ihren Mann zu bitten, er möge ihr doch wenigstens solange Gesellschaft leisten, bis sie im Bett läge. Aber auch diesen Fall hatte er vorausgesehen und sie darauf aufmerksam gemacht, es sei ganz zwecklos, ihn etwa zu rufen, er würde doch nicht kommen, sie müsse sich jetzt eben an das Alleinsein gewöhnen.

Und wie allein war sie jetzt, in mancher Hinsicht noch viel mehr allein, als früher als junges Mädchen in ihrem Zimmer. Da hatte sie es natürlich auch nicht gekannt, daß ein Mann um sie herum war, aber was man nicht kennt, entbehrt man nicht, oder wenn doch, dann wenigstens in anderer Weise. Es gab eben verschiedene Entbehrungen, solche, die eine Hoffnung auf die Zukunft enthielten, und solche, die eine große Enttäuschung des Augenblicks bedeuteten. Wenn sie als junges Mädchen in ihrem Schlafzimmer des Abends zuweilen einen Mann entbehrte, hatte sie sich damit getröstet, daß sie sich sagte: du bleibst ja nicht ewig allein in deinem Kämmerlein, vielleicht kommt noch viel schneller, als du es denkst und glaubst und hoffst, ein sehr netter Mann und holt dich für immer in sein, nein in euer gemeinsames Schlafzimmer. Und dann hatte sie ihn im Augenblick gar nicht weiter entbehrt, sondern es ganz schön gefunden, daß er noch nicht da war, um sich weiter auf ihn zu freuen und um ihn sich in Gedanken noch viel hübscher und noch viel netter vorstellen und ausmalen zu können, als er es sicher schon ohnehin sein würde, obgleich nach einem alten Wort der spätere Mann ja leider nie dem Ideal glich, von dem ein junges Mädchen wachend oder schlafend träumte.

Die Entbehrung des Mannes, die sie jetzt durchmachte, enthielt aber keine Hoffnung auf die Zukunft, sondern lediglich eine sehr traurige Erinnerung an die Vergangenheit, denn so einsam wie es heute um sie herum in dem großen Schlafzimmer war, würde es ja nun fortan für lange, lange Zeit, wenn nicht für immer bleiben.

Wie konnte es nur junge Frauen geben, die für sich vom ersten Tag ihrer Ehe an ihr eigenes Schlafzimmer beanspruchten, ja, die selbst auf der Hochzeitsreise nicht mit ihrem Mann in ein und demselben Zimmer schliefen? Und so etwas gab es, so etwa gab es tatsächlich. Sicherlich, vom hygienischen Standpunkt aus mochten die getrennten Schlafzimmer ihre Berechtigung haben, aber wenn man natürlich auch nicht lebte, um krank zu werden, so lebte man auf der anderen Seite doch auch nicht nur für seine Gesundheit, denn sonst hätte man ja auf so viele, nein, fast auf alle Freuden dieses Daseins verzichten müssen. Was war nach dem heutigen Stand der Wissenschaft nicht alles ungesund? Nein, lieber ein paar Jahre oder ein paar Monate oder ein paar Stunden eher sterben und mit dem Mann das Schlafzimmer teilen, als ein Zimmer für sich allein haben.

Irgendwo hatte sie einmal gelesen: Die Trennung der Schlafräume ist der erste Schritt zur Ehescheidung.

Ob das wahr war, wußte sie natürlich nicht, aber daß getrennte Schlafzimmer zwei Ehegatten mit der Zeit entfremdeten, einander entfremden mußten, das unterlag für sie plötzlich keinem Zweifel. Aber sie wollte ihrem Mann nicht fremd werden, und er durfte sich ihr erst recht nicht entfremden. Und bei dem Gedanken, daß sie beide nun einander vielleicht doch entfremdet würden, weinte sie, als sie sich endlich hingelegt hatte, voller Angst vor sich hin, und während sie weinte, dachte sie: Wenn dein Hans dich noch liebt, muß er es hören oder es wenigstens ahnen, wie traurig du jetzt bist, und dann muß er doch zu dir kommen, um dich zu trösten, um deinen Kopf an seiner Brust zu bergen, um dich zu streicheln, um dich zu küssen und um dich in seine Arme zu nehmen, damit du darüber das Leid, das dir fast das Herz zerbricht, vergißt.

Aber ihr Hans kam nicht und vergebens haschte sie im Dunkeln mit ihrer Rechten nach der Stelle, auf der neben dem ihrigen sein Bett gestanden hatte, um wenigstens seine Hand zu fühlen, um die zu drücken und um Hand in Hand mit ihm, in dem glücklichen Bewußtsein, bei ihm geborgen zu sein, einzuschlafen.

Und als sie seine Hand nicht fand, tastete sie ganz mechanisch nach der Stelle, auf der sonst dicht neben dem ihrigen sein Kopf in den Kissen gelegen hatte, um seine schönen weichen Haare und um seine Wangen zu streicheln, aber ihre Hand suchte ihn vergebens, und nicht wie sonst hörte sie an ihrer Seite sein ruhiges, gleichmäßiges Atmen.

Da wurde ihr erst ganz klar, wie schrecklich allein und einsam sie sei, und als sie sich nun von neuem sagte: So wie es heute abend ist, so wird es fortan alle Abende bleiben, wenigstens solange, bis das Kind da ist und dann vielleicht, nein dann sicher erst recht, da fragte sie sich immer und immer wieder: wie hat dein Hans dir das nur antun können, wie durfte und wie konnte er nur schon jetzt das Glück eurer Ehe in so unverantwortlich leichtsinniger Weise durch den bevorstehenden Kindersegen zerstören.

Und aus diesen Erwägungen und Überlegungen heraus, bei diesem Suchen nach einer Antwort, begann sie ihren Hans, nein, ihren Mann abermals zu hassen, und sie haßte ihn noch viel, viel mehr, als sie ihn am Nachmittag haßte, und sie haßte ihn so entsetzlich, daß sie sich eingestand, so wie du ihn haßt, wirst du nie wieder in deinem ganzen Leben einen Menschen hassen können, und so wie ihn, hast du auch noch nie einen gehaßt.

Noch nie!

Oder doch?

Bis mit einemmal eine Erinnerung aus ihrer Jungmädchen-Zeit in ihr wach wurde, und bis sie sich fragte: Solltest du den Nikolaus Schmitt nicht vielleicht doch noch mehr gehaßt haben?

Aber nein, das war nicht wahr, gewiß hatte sie auch den glühend und leidenschaftlich gehaßt, aber den doch nicht annähernd so wie jetzt ihren Mann.

Und wohl, weil sie doch noch nicht schlafen konnte, weil sie es voraussah, daß sie in dieser ersten Nacht des Alleinseins überhaupt nicht werde schlafen können, dachte sie nun noch lange, lange Zeit wieder an diesen Nikolaus Schmitt zurück.

Ganz deutlich sah sie ihn wieder vor sich, ihn, den wirklich auffallend hübschen jungen Menschen von siebzehn Jahren. Mittelgroß war er, schlank und elegant gewachsen, mit einem vornehmen, feinen, aristokratischen Gesicht, mit einer geradezu klassisch schönen Nase, einem weichen, etwas sinnlichen Mund und wundervollen dunkelbraunen Augen. Ach, und was hatte er für vornehme schlanke schmale Füße und welche hübschen Hände.

Aber das Allerschönste an ihm waren und blieben doch seine großen, schönen, dunklen Augen, mit denen er fast immer so traurig in die doch so schöne Welt hineinsah. Und daß er das tat, hatte sicher seinen Grund darin, daß er, wie alle es wußten, ein uneheliches Kind war. Über seine Geburt schwebte, wenigstens für die Außenstehenden, ein geheimnisvolles Dunkel, und er selbst tat natürlich nichts, um für die Neugierigen dieses Dunkel irgendwie zu lüften, denn er sprach nie von seiner Herkunft. Trotzdem glaubte man soviel zu wissen, daß seine inzwischen verstorbene Mutter, die als auffallend hübsches junges Mädchen auf einem großen Schloß als Zofe angestellt war, während eines Manövers die Wünsche und die Leidenschaften eines dort einquartiert gewesenen adeligen Kavallerie­offiziers erweckt habe und von dem verführt worden sei. Aber darüber, wer dieser Offizier gewesen, wußte niemand etwas Näheres. Die einen behaupteten, er sei ein Graf, die anderen sagten, er sei ein Prinz aus königlichem Hause. Auf jeden Fall aber sah man dem Nikolaus Schmitt auf den ersten Blick an, daß in seinen Adern kein ganz gewöhnliches Plebejerblut floß, und seine wenigstens halb vornehme Abstammung zeigte sich auch in seiner ganzen Haltung und in seinem aufrechten, vornehmen Gang. Dazu kam, daß sein Vater sehr reich sein mußte, denn er hatte für seinen Sohn ein hohes Erziehungsgeld ausgesetzt. Der Nikolaus war in dem vornehmsten und teuersten Pensionat der Stadt untergebracht, er ging stets auf das allerbeste angezogen, er verfügte, wie bekannt, über ein sehr reiches Taschengeld und er hatte die freie Wahl, später jeden Beruf zu ergreifen, der ihm zusagte. Nur die Offizierslaufbahn, die er sicher am liebsten eingeschlagen hätte, war ihm auf Grund seiner unehelichen Geburt natürlich verschlossen. Statt dessen wollte er, wie er gelegentlich geäußert, Landwirtschaft studieren, sich ein schönes Gut kaufen und auf dem als sein eigener freier Herr leben.

Um diesen Nikolaus Schmitt wob sich beinahe ein Legendenkreis, wie um den durch den Bierbaumschen Roman bekannt und berühmt gewordenen Prinzen Kuckuck. Natürlich las auch sie das Buch damals voller Begeisterung, obgleich sie die Gespräche über Kunst und Religion, die da geführt wurden, nicht verstand, und obgleich sie manches in dem Roman geradezu wahnsinnig unanständig, aber gerade deshalb wahnsinnig interessant und auch außerordentlich belehrend und aufklärend fand. So namentlich die Stellen, in denen die Besuche geschildert wurden, die Prinz Kuckuck in Hamburg den Straßen abstattete, in denen die Freudenmädchen lebten und wohnten. Daß es solche Mädchen und daß es so etwas überhaupt gab, wollte sie natürlich zuerst gar nicht glauben, bis sie dann durch eine Freundin, deren Bruder ebenso wie der Prinz Kuckuck des Romans längere Zeit in Hamburg gelebt hatte, darüber aufgeklärt wurde, daß es so etwas tatsächlich gäbe.

Aber dieser Nikolaus Schmitt war nicht nur ein sehr hübscher Mensch, sondern er war auch sehr begabt und lernte spielend leicht. Das erkannten nicht nur seine Lehrer, sondern auch seine Mitschüler an, obgleich er unter den letzteren keineswegs beliebt war, zum Teil, weil die ihm aus seiner unehelichen Geburt einen selbstverständlich völlig unverdienten Vorwurf machten, dann aber auch, weil er oft ein etwas stolzes und unnahbares Wesen zur Schau trug, als wolle er dadurch eine Grenze zwischen sich und den Kameraden ziehen, ja, als wolle er denen dadurch zu verstehen geben: ich bin trotz allem, was vorliegt, mehr als ihr. Sie selbst aber deutete sich sein Verhalten anders und nahm ihn deswegen auch immer in Schutz, wenn im Kreise ihrer Freundinnen das Gespräch auf ihn kam. Dann pflegte sie zu sagen: „Ich glaube, ihn besser zu verstehen als ihr. Er ist nicht deshalb zuweilen etwas stolz und unnahbar, weil er wirklich stolz ist, sondern er stellt sich nach außen hin lediglich so, um dadurch nicht zu verraten, wie sehr er unter seiner Abstammung leidet. Und daß er sich so gibt, wie er es tut, finde ich sehr klug von ihm, denn zeigte er sich anders, dann würde er eben wegen seiner Geburt leicht Spott und Hohn herausfordern, sich vielleicht sogar dem aussetzen, daß man ihm das Wort Bastard oder etwas Ähnliches nachriefe und hinter ihm herlaufe und unflätige Bemerkungen machte. Aber wenn er so stolz einhergeht wie jetzt, wagt sich niemand mit seinen Schmähungen an ihn heran, denn der Grundzug der meisten Menschen ist ja leider Gottes, aber in diesem Falle Gott sei Dank, bodenlose Feigheit.”

Aber sie mußte bald einsehen, daß es für sie gar keinen Zweck hatte, ihn in Schutz zu nehmen und zu verteidigen, er war und blieb nun einmal unter den jungen Mädchen fast noch unbeliebter als unter seinen Kameraden, und keine einzige von ihnen allen vermochte sich auszudenken oder auszumalen, daß sie jemals auch nur für eine kurze Stunde mit ihm poussieren oder flirten könne. Und dabei war es sonst ganz selbstverständlich, daß gerade in der Stadt, in der sie damals mit ihren Eltern lebte, ein jedes Mädel ihren Flirt, und zwar ihren ganz gehörigen Flirt hatte, ebenso wie auch jeder Pennäler seine Poussage besaß. Nur mit dem Nikolaus Schmitt ließ sich keine aus ihren Kreisen ein, und das tat ihr persönlich sehr oft leid, denn wenn sie ihm mit ihren Freundinnen des Nachmittags in der Hauptstraße auf dem Bummel begegnete, dann sah er sie alle mit seinen traurigen, oder richtiger gesagt, mit seinen etwas melancholischen Augen oft so an, als wolle er ihnen zurufen: Kinder, was habe ich euch denn eigentlich getan, daß sich keine mit mir abgeben will? Glaubt ihr denn etwa, ich verstände es nicht, euch heiße Worte der Liebe in das Ohr zu flüstern, vorausgesetzt natürlich, daß ihr euch überhaupt küssen ließet? Und warum wollt ihr euch gerade von meinem Mund nicht küssen lassen, und warum wollt ihr gerade den nicht wiederküssen? Ist der etwa häßlicher als der eines anderen jungen Menschen meines Alters? Ist der nicht, ganz offen und ehrlich gestanden, vielmehr sogar hübscher als mancher andere?

Das und anderes las sie, wenn sie ihm mit ihren Freundinnen begegnete, in seinen Blicken, ohne allerdings genau zu wissen, ob das auch alles in denen geschrieben stand, und ob sie sich nicht ein gut Teil dazu erfand. Aber wenn sie das letztere tat, geschah es nur, aber auch nur, weil er ihr von Tag zu Tag mehr leid tat. Wie mußte er, gerade er, der doch ein Kind der Liebe war, der keine Mutter und keine Geschwister besaß, der seinen Vater, wenn sie richtig unterrichtet war, noch nie von Angesicht zu Angesicht gesehen hatte, wie mußte gerade er sich nach der Liebe und nach den Zärtlichkeiten eines jungen Mädchens sehnen, und wie hart und grausam war es von ihren Freundinnen, daß keine einzige von ihnen mit ihm flirten wollte.

Da beschloß sie in ihrer Gutmütigkeit und weil sie von jeher Mitleid mit ihm gehabt hatte, dann aber auch, weil sie ihn, über den soviel gesprochen wurde, rasend gern persönlich kennenlernen wollte, schon um ihm dann vielleicht ihrerseits die Liebe zu schenken und zu gewähren, die die anderen ihm vorenthielten, mit ihm zu flirten. Dazu kam, daß sie als Poussage gerade frei geworden war. Ihr bisheriger Verehrer hatte mit seinen Eltern ganz kürzlich die Stadt verlassen, da sein Vater nach außerhalb versetzt wurde. Und so viele andere Pennäler sich auch schon um sie, als sie kaum freigeworden war, bewarben, sie hatte sich noch für keinen neuen entschieden. Ja, auf Befragen erklärte sie sogar, sie wisse überhaupt noch nicht, ob sie sich vorläufig in einen anderen Flirt einlasse. Erstens käme ja doch nichts Vernünftiges dabei heraus, und dann müsse sie auch erst den Abschied von ihrem Carl Otto überwinden, denn wie sehr sie an dem gehangen habe, das merke sie erst jetzt, da er leider nicht mehr in der Stadt sei. Und außerdem würde sie es als eine bodenlose Gemeinheit gegen Carl Otto betrachten, wenn sie sich schon jetzt von einem anderen küssen ließe, bevor sie die Abschiedsküsse, die er ihr gegeben, gründlich von ihren Lippen abgewaschen habe.

Denn das stand von vornherein bei ihr fest, küssen lassen würde sie sich von dem Nikolaus nicht, und erst recht würde sie natürlich ihn nicht küssen. Mit ihm wollte sie lediglich platonisch und in allen Ehren poussieren, wenn­gleich ein Flirtkuß selbstverständlich auch keine Unehre war, weder für den, der ihn gab, noch für die, die ihn empfing.

Und außerdem mußte sie die Beziehung zu ihm so geheim halten, daß kein Mensch etwas von ihnen erfuhr, weder ihre Freundinnen, noch die anderen Pennäler, am allerwenigsten aber ihr Vetter Max, der den Nikolaus Schmitt, wie sie wußte, ohne daß er sich das Warum selbst zu erklären vermochte, nicht riechen konnte; und der ihr die bittersten Vorwürfe machen würde, wenn er jemals erfahren sollte, daß sie, seine eigene Cousine, sich irgendwie mit ihm einließ.

Nein, Vetter Max durfte am allerwenigsten etwas davon erfahren, aber gerade deshalb war es für sie von einem eigenartigen und prickelnden Reiz, daß ausgerechnet er, wenn natürlich auch völlig unbewußt und erst recht völlig unbeabsichtigt, die Bekanntschaft zwischen ihnen beiden vermittelte. Vetter Max erzählte ihr nämlich eines Tages, nur wie man so etwas erzählt, weil man nichts Besseres und nichts Interessanteres zu erzählen weiß, der Nikolaus Schmitt werde jetzt in dem Pensionat mit seinem Naturvogel geneckt, wie die Kameraden das nannten, denn der habe es sich angewöhnt, bei dem anhaltenden schönen Wetter jeden Nachmittag in den nahegelegenen Wald zu gehen, dort eine ganz abseits gelegene einsame Stelle aufzusuchen und die dort sehr reiche und seltsamerweise auch sehr eigenartige Flora zu studieren, da er plötzlich behauptete, als späterer Landwirt könne er über alle Blumen und Gräser gar nicht genug unterrichtet sein. Auch die Waldwiese, auf der der andere seine naturwissenschaftlichen Studien betrieb, wußte Vetter Max ihr anzugeben, als sie ihn sehr geschickt nach der ausgeforscht hatte, und so stand denn sofort für sie fest, daß sie dort oder wenigstens dort in der ungefähren Gegend das erste, natürlich ganz zufällige Zusammentreffen mit ihm haben werde.

Schon am nächsten Nachmittag wollte sie auch ihrerseits in den Wald gehen, aber klugerweise und voller Berechnung verheimlichte sie diese Absicht nicht, sondern erzählte am nächsten Morgen während der großen Pause in der Höheren Töchterschule ihren Freundinnen, sie hätte rasende Lust, bei dem schönen Wetter am Nachmittag einmal einen gehörigen Waldbummel zu machen, ob eine von ihnen nicht Vergnügen daran fände, sie zu begleiten, als Dank dafür werde sie die andere dann unterwegs in der Waldmühle auf Kaffee und Kuchen einladen. Aber selbstverständlich war sie so klug, sich mit dieser Frage nur an diejenigen ihrer Freundinnen zu wenden, von denen sie im voraus wußte, daß die ihr einen Korb geben würden. Hanni Richter konnte leider nicht, weil sie am Nachmittag, wie sie ihr doch schon erzählt hatte, die Schneiderin zur Anprobe erwartete. Lina Hansen mußte, wie sie ihr schon erzählt zu haben glaubte, mit ihrer Mutter zu Tante Christine, die Geburtstag hatte, und Resi Schlüter hatte, wie sie ihr wohl zu erzählen vergessen habe, da sie, Emmy, es sonst doch sicher noch erinnere, also Resi Schlüter hatte sich für den Nachmittag bei dem Zahnarzt angemeldet und durfte den nicht auf sich warten lassen, der sich eigens für sie eine Stunde freigemacht habe.

Heute konnte keine der Freundinnen sie begleiten, aber morgen würden sie das mit tausend Freuden tun, denn da hatte sie, Emmy, ganz recht, wozu hatte der liebe Gott den schönen Wald so in der Nähe wachsen lassen, und wozu hatten die heutigen zahllosen Holzdiebe den wenigstens zum Teil noch stehenlassen, wenn man den so selten aufsuchte? Ja, morgen würden sie sie alle gern begleiten, ob sie, Emmy, ihren Waldbummel nicht bis dahin aufschieben könne?

Aber das konnte sie leider, leider nicht; erstens war das Barometer schon sehr gefallen oder werde voraussichtlich sehr fallen, so daß es ganz ungewiß war, was morgen für Wetter sein würde, und dann war morgen doch bei ihnen im Hause Wäsche. Sie selbst hatte ja mit der nichts zu tun, aber die Mutter liebe es nicht, wenn sie an solchen Tagen lange fortginge, da es dann im Haushalt immer mehr zu tun gäbe als sonst, weil die Mädchen doch eben mit der Wäsche beschäftigt wären. Richtig, morgen konnte sie ja der Wäsche wegen nicht. Das fiel den anderen nun plötzlich wieder ein, obgleich es ihr selbst erst vor einer halben Minute eingefallen war, diese Ausrede zu gebrauchen. Aber trotzdem erinnerten sich die Freundinnen plötzlich, daß sie, Emmy, ja schon seit ein paar Tagen über diese bevorstehende gräßliche Wäsche jammere, und sie verstanden nicht, wie sie das auch nur einen Augenblick hatten vergessen können.

Sie selbst aber stand ganz unschlüssig vor ihren freundinnen, um diese immer wieder zu fragen: „Was mache ich da nur? Den Waldbummel allein zu unternehmen, lockt mich absolut nicht, zumal ich mich so darauf gefreu t hatte, mit einer von euch, am liebsten sogar mit euch allen, durch den Wald ziehen zu können. Dann hätten wir unsere Lauten mitgenommen, hätten unterwegs ein lustiges oder ein trauriges Lied gesungen, und das wäre himmlisch geworden. Aber so, ganz allein? Nein, das macht wirklich keinen Spaß, da warte ich lieber bis morgen, bis ihr Zeit für mich habt.”

Aber glücklicherweise erinnerten die Freundinnen sie daran, daß sie selbst morgen ja keine Zeit habe, morgen kam doch die Waschfrau zu ihnen ins Haus, und außerdem war das Barometer doch schon sehr gefallen oder würde voraussichtlich sehr fallen. Wer konnte da wissen, wie morgen das Wetter sein würde? Und es war doch eine uralte Geschichte, wenn man Wäsche hatte, regnete es immer.

Das sah sie auf Zureden der Freundinnen auch schließlich ein, und so entschloß sie sich nach nochmaligem Überlegen denn doch, schon am Nachmittag den geplanten Spaziergang in den Wald zu machen. Nur einen Spaziergang, keinen Bummel, denn bummeln konnte man nur, wenn mehrere zusammen waren.

Ja, sie entschloß sich, wenn auch angeblich sehr schweren Herzens, am Nachmittag allein in den Wald zu gehen, aber ehe sie sich auf den Weg machte, war die in diesem besonderen Falle sehr schwierige Frage zu beantworten: Was ziehst du an? Natürlich wollte sie nicht nur hübsch, sondern sehr hübsch aussehen, aber trotzdem durfte sie sich auch nicht zu hübsch und zu verführerisch kleiden, damit der Nikolaus Schmitt, wenn sie erst zusammen im Gespräch standen oder saßen, sich nicht im stillen sagte: 'ne süße Krabbe ist die Emmy Paulsen ganz gewiß, aber für einen Spaziergang in den Wald hat sie sich, wenn das nicht ihrerseits aus irgendwelchem Grunde Berechnung sein sollte, zu elegant und dementsprechend auch etwas verrückt angezogen, denn man trägt doch keine Lackschuhe mit hohen Absätzen, keine ganz dünnen seidenen Strümpfe und auch nicht eine so hübsche und so teure Bluse, wenn man in den Wald geht. Und damit er dann nicht etwa auf den Gedanken käme, die Begegnung mit ihm sei doch keine ganz zufällige und sie habe sich seinetwegen so elegant gemacht, entschied sie sich für ihr rotes Dirndlkostüm, das ihr, wie sie wußte, ausgezeichnet stand. Statt der kleinen Lackschuhe legte sie ihre Wandersandalen an, statt in seidenen Strümpfen ging sie mit nackten Füßen und nackten Beinen, und anstatt eines hübschen Hutes setzte sie sich eine kleine Kappe auf den Kopf, die sehr gut zu dem Dirndlkostüm paßte und die sie ganz allerliebst kleidete.

Und dann, als sie den letzten Blick in den Spiegel geworfen hatte und sehr mit sich und ihrem Aussehen zufrieden war, schickte sie sich an, ihr Zimmer zu verlassen, aber im letzten Augenblick machte sie noch einmal kehrt und suchte sich aus der Kommode ein sehr kleines feines Taschentuch heraus, in dem das Monogramm so winzig klein gestickt war, daß man es auf den ersten Blick, wenn man es nicht gleich sehen wollte, auch bei dem besten Willen nicht sofort sehen konnte.

Dann zog sie ab, aber vorher hatte sie der Mutter noch erklärt, das Wetter sei so schön, daß sie sich endlich einmal wieder gehörig auslaufen wolle und deshalb dürfe die Mutter auch nicht böse sein, wenn sie vielleicht nicht ganz pünktlich auf die Minute zum Abendessen zurück wäre.

Schon zwanzig Minuten später war sie in dem nahegelegenen Wald und schlug den einzigen Weg ein, den Nikolaus Schmitt gehen mußte oder schon gegangen sein mußte, um zu der Stelle zu gelangen, die Vetter Max ihr so genau beschrieben hatte. Es war ein ziemlich weiter und erst recht ein ganz einsamer Weg, der von den Spaziergängern für gewöhnlich nicht benutzt wurde. So war sie sicher, dort niemandem zu begegnen, der sie erstaunt angeguckt und sie mit seinen Blicken gefragt hätte: Nanu, Fräulein, was machen Sie denn hier?

Aber sie wollte und sie durfte ja auch niemanden treffen, sie wollte sich zunächst an die Waldwiese heranpürschen, auf der der Nikolaus, wie sie ihn der Einfachheit halber im stillen nannte, botanisierte, um sich ihrerseits davon zu überzeugen, ob er schon da wäre. Wenn nicht, dann wollte sie auf sein Kommen und namentlich auf seinen Heimweg warten, und auf dem letzteren würde sie es schon einzurichten wissen, daß er mit ihr zusammentraf und sie ansprach.

Aber erst mußte sie wissen, ob er schon da sei, und plötzlich erhielt sie dafür Gewißheit, denn als sie ihres Weges weiter dahinschritt, sah sie plötzlich vor sich eine sehr schöne Brieftasche aus rotem Juchtenleder liegen, und als sie die nun aufhob und einen neugierigen Blick hineinwarf, fand sie in der nicht nur eine ganze Menge Papiergeld, sondern auch eine kleine Visitenkarte mit der Aufschrift: Nikolaus Schmitt, Pension Dr. Heller, Gartenstraße 22.

Es war, wie sie es allerdings schon gleich von Anfang an vermutete, seine Brieftasche. Aber wie konnte er nur so leichtsinnig sein, die zu verlieren, denn er hatte das doch sicher nicht getan, damit sie die fände, damit sie ihm die überbringe und damit die Bekanntschaft zwischen ihnen vermittelt würde. Nein, die Sache hing wohl anders zusammen. Sicher hatte er bei dem warmen Wetter das Jackett ausgezogen , um es über den Arm zu nehmen und dabei mußte ihm, ohne daß er es bemerkte, die Brieftasche herausgefallen sein. Natürlich, so war es und sie freute sich, daß dem so war. Da konnte sie ihn gleich aufsuchen, ihm das Verlorene wieder einhändigen und brauchte ihrerseits nachher auf dem Rückweg nicht das Taschentuch zu verlieren, damit er ihr mit dem in der Hand nachgelaufen käme. Aber nein, besann sie sich gleich darauf, sie konnte ihn doch nicht auf der einsamen Waldwiese aufsuchen, denn wie sollte sie es ihm auf etwaiges Befragen hin erklären, daß sie ihn dort vermutet oder gar gewußt hätte? Nain, das ging auf keinen Fall, sie konnte nichts anderes tun, als die Brieftasche an sich nehmen und sie ihm erst dann zurückgeben, wenn er ihr das Taschentuch überreicht und sich ihr bei der Gelegenheit hoffentlich offiziell vorgestellt hatte, denn sie durfte selbstverständlich auch nicht ohne weiteres so tun, als wisse sie, wer er sei.

So barg sie denn die glücklicherweise nicht allzu große Tasche in dem Ausschnitt ihres Mieders, um sich gleich darauf weiter auf den Pürschgang zu begeben, und sie hatte Glück, denn als sie sich der einsamen Waldwiese genähert hatte und von ihrem Versteck aus mit ihren scharfen Augen zu der hinüberspähte, da gewahrte sie ihn, wie er, der sein Jackett und den Hut neben sich in das Gras gelegt hatte, dort auf allen Vieren herumkroch und bald diese Blume, bald jenes Gras pflückte, um es durch ein Vergrößerungsglas sehr aufmerksam zu betrachten, bevor er es schließlich in eine Botanisier­trommel legte. Und so sehr war er voller Eifer mit seinem Studium beschäftigt, daß er gar keine Eile zu haben schien, es zu beenden, denn im Gegensatz zu ihr, die alle fünf Minuten auf ihre Armbanduhr blickte, sah er gar nicht auf die seine, und es dauerte endlos, länger als anderthalb Stunden, bis er seine Sachen zusammenraffte, sein Jackett und den Hut ergriff und sich anschickte, den Heimweg anzutreten.

Da verließ sie ebenso leise wie sie gekommen war, schleunigst ihr Versteck, lief mit schnellen lautlosen Schritten auf den Hauptweg zurück, den sie vorhin gegangen war, und den auch er nun jeden Augenblick kommen mußte und schlug dann ganz ganz langsam den Weg zur Stadt wieder ein, von Zeit zu Zeit stehen bleibend, um in vollen Zügen die schöne Waldluft einzuatmen, denn sie war doch nicht nur seinetwegen in den Wald gegangen, sondern doch auch, um die Natur zu genießen.

Und die genoß sie derartig, daß sie es gar nicht bemerkte, wie sie dabei plötzlich absichtlich ihr Taschentuch verlor.

Dann ging sie weiter und als sie an eine Stelle kam, die zwar keinen Fernblick, aber doch so etwas Ähnliches wie eine Aussicht bot, blieb sie stehen und bewunderte die, als hätte sie die noch nie bemerkt, und während sie bewunderte, lauschte sie mit angehaltenem Atem, ob sie seine Schritte denn immer noch nicht höre.

Und als sie die endlich hörte, lehnte sie sich traumverloren an einen Baum und sang mit halblauter Stimme ein schwermütiges Lied vor sich hin, während sie zugleich bedauerte, ihre Laute nicht mitgenommen zu haben, denn dann wäre nicht nur ihr Gesang, sondern auch das Bild, das sie ihm bot, sicher noch viel hübscher gewesen.

Und so sehr war sie in ihren Gesang und in den Anblick der Natur versunken, daß sie es zu ihrem eigenen Erstaunen fertig brachte, einen ganz ganz echt klingenden Schrei des Schreckes und der Überraschung auszustoßen, als er plötzlich mit dem Hut in der Hand neben ihr stand, um sie zu fragen, ob sie vielleicht das Taschentuch verloren habe, das er vor wenigen Minuten auf diesem einsamen Weg gefunden. Ja, sie brachte es fertig, nicht nur den ganz echten leisen Schrei auszustoßen, sondern vor Angst förmlich zu zittern, so daß er sie halb lachend, halb ernsthaft fragte, ob er denn den Eindruck eines Wegelagerers auf sie mache, und daß er sich ihr gleich mit seinem Namen und als Schüler des Städtischen Gymnasiums vorstellte, damit sie für alle Fälle wisse, mit wem sie es zu tun habe.

Da gelang es ihr endlich, sich wieder zu beruhigen, aber ein Taschentuch hatte sie nicht verloren, nein, ganz bestimmt nicht, das müsse sie doch bemerkt haben, und auch, als er ihr das Tuch nun überreichte, war es nicht das ihrige. Alle ihre Taschentücher trügen ihr Monogramm E. P., denn sie hieße Emmy Paulsen, aber dieses Tuch sei ja gänzlich unbestickt. Bis sie dann nach langem Suchen in einer Ecke die beiden winzig kleinen Buchstaben fand und somit das Tuch zu ihrem grenzenlosen Erstaunen doch als ihr Eigentum erkennen mußte.

Und als sie sich dann für seine große Liebenswürdigkeit bei ihm bedankte, während sie zugleich das Tuch in den Ausschnitt ihres Mieders steckte, fühlte sie dort plötzlich seine Brieftasche. Richtig, die hatte sie ja bisher absichtlich ganz vergessen und lustig erzählte sie ihm von einem Fund, den auch sie gemacht, den sie sich aber näher anzusehen bisher nicht getraut habe, damit man ihr nicht später, wenn sie etwa auf Befragen zugeben müsse, die Tasche geöffnet zu haben, den Vorwurf machen könne, sie habe das in der Tasche vorhandene Geld nicht nur gezählt, sondern sich auch etwas von dem heimlich angeeignet, denn die Menschen wären ja heutzutage so schlecht und gemein, daß keiner den anderen mehr für ehrlich hielte.

Dann zeigte sie ihm ihren Fund und als sie das getan, rief er ihr mehr als überrascht zu: „Aber gnädiges Fräulein, das ist ja meine Brieftasche. Bitte sehen Sie nach, die enthält meine Visitenkarte, und ich kann auch ganz genau angeben, wieviel Geld sich darin befindet.”

Und als sie ihm dann sein Eigentum zurückgegeben, konnten sie sich nicht genug darüber wundern, daß jeder von ihnen beiden, noch dazu auf diesem einsamen Weg, auf dem ein jeder von ihnen geglaubt hatte, ganz allein zu sein, das fand, was der andere verloren, und schon dadurch, daß sie über dieses seltsame Erlebnis ihre Ansichten austauschten, kamen sie miteinander ins Gepräch, und das setzten sie fort, als er sie um Erlaubnis gebeten, sie noch etwas begleiten zu dürfen, da dieser Weg wirklich sehr einsam und für ein alleingehendes junges Mädchen unter Umständen auch etwas gefährlich sei, denn man wisse doch nie, wer und was sich heutzutage an arbeitslosem und lichtscheuem Gesindel gegen Abend im Wald herumtreibe.

Ganz langsam setzten sie zusammen den Heimweg fort und unterwegs gestand er ihr, daß er mehr als glücklich sei, gerade ihr heute habe begegnen zu dürfen, denn er hege schon lange den Wunsch, sie und gerade sie einmal persönlich kennenzulernen. Er wisse natürlich nicht, ob sie sich erinnern könne, ihm schon jemals in der Stadt begegnet zu sein, aber er habe sie schon oft gesehen, wenn sie mit ihren Freundinnen an ihm vorübergegangen sei, und so jung und so hübsch ihre Freundinnen auch sicher wären, sie wäre doch die Hübscheste, die Zierlichste und die Graziöseste von ihnen allen und mehr als einmal habe er es auch schon versucht, ihr durch seinen Blick zu verstehen zu geben, wie sehr sie ihm gefalle, aber er habe das nie ordentlich gewagt und deshalb hätte sie wohl auch noch nie etwas davon bemerkt.

Nein, das hatte sie wirklich nicht, aber trotzdem sagte sie jetzt mit leiser verlegener Stimme, während sie dabei den Blick errötend zu Boden senkte: „Vielleicht doch, Herr Schmitt.”

„Und obgleich Sie es bemerkten, sind Sie mir deswegen nicht böse gewesen, gnädiges Fräulein?” fragte er nun seinerseits, während seine Stimme deutlich Angst und Freude verriet, die Angst, sie könne ihm deswegen gezürnt haben, und die leise freudige Hoffnung, sie habe den Blick seiner Augen vielleicht sogar mit Wohlgefallen bemerkt.

Doch da es ihr wirklich noch nie aufgefallen war, daß seine Blicke ihr, ganz besonders ihr galten, konnte und durfte sie ihm deshalb natürlich nicht böse sein, und als er ihr anmerkte, daß sie ihm absolut ncht zürne, sondern daß ihre Augen ihn sogar freundlich und ermunternd ansahen, leuchtete es in seinen wunderhübschen Augen so hell auf, als hätte dort jemand ein paar Lichter angebrannt, und während ein glückliches Lächeln seinen Mund umspielte, haschte er nach ihrer Rechten, um sie zunächst stürmisch zu drücken und um sie gleich darauf ebenso stürmisch zu küssen.

Sie war sicher, daß niemand das gesehen hatte und daß es auch niemand hier sehen würde, wenn er ihre Hand weiter küssen sollte, trotzdem versuchte sie, ihre Rechte mit den Worten freizumachen: „Ich bitte Sie, Herr Schmitt, seien Sie vorsichtig, es könnte jemand kommen.”

Doch er nahm keine Vernunft an und hätte sie, wie sie ihm ganz deutlich anmerkte, am liebsten auch gleich auf den Mund geküßt, und als sie diesen Wunsch in seinen Augen las, und als sie jetzt aus allernächster Nähe zum erstenmal sah, welchen wirklich auffallend hübschen Mund er hatte, da dachte sie über das gegenseitige Küssen ganz anders als bisher. Da war sie nicht mehr so fest entschlossen, den Flirt mit ihm lediglich auf platonischen Bahnen wandeln zu lassen, und außerdem war eine platonische Liebe zwischen zwei jungen Menschen ihres Alters doch einfach Quatsch.

Aber daß sie sich hier von ihm küssen ließ, war natürlich ausgeschlossen, vollständig ausgeschlossen, und was hätte er auch wohl von ihr denken sollen, wenn sie sich so schnell von ihm auf den Mund küssen lassen würde? Erst mußte sie es doch wissen, ob sie ihn auch liebe, erst mußte er um ihre Liebe werben und außerdem, so schnell wie er das zu glauben schien, ging es bei einem jungen Mädchen ihres Standes mit dem Küssen denn doch nicht.

Und er mußte erraten, was in ihr vorging und was sie beschäftigte, denn plötzlich begann er auch um ihre Liebe zu werben, und er tat das in so reizender, galanter, ganz ernsthafter und doch zugleich etwas schelmischer Weise, daß sie ihr Herz schon nach wenigen Minuten an ihn verlor, und daß sie ihm, als sie sich endlich trennten, gern versprach, ihm ein Stelldichein zu gewähren, sobald die Zeit und die Umstände es ihr einmal erlauben sollten.

Und die erlaubten es, als ihre Eltern in der nächsten Woche eines Abends zu einem befreundeten steinalten Ehepaar geladen waren, zu dem sie selbst glücklicherweise nicht mitzugehen brauchte; Und das war ihr auch, wie sie den Eltern erzählte, sehr lieb, denn sie wollte das Alleinsein benutzen, um sich endlich einmal ganz gehörig hinter die englische Grammatik zu machen, da sie im Englischen leider etwas zurück sei. Sie wollte den Abend ganz, ganz allein bleiben, und deshalb hatte sie es auch ebenso höflich wie bestimmt abgelehnt, als Vetter Max sich erboten hatte, ihr Gesellschaft zu leisten, damit sie die Abwesenheit der Eltern nicht zu sehr empfinde.

Nein, gerade den Vetter Max konnte sie nicht gebrauchen, denn für den Abend hatte sie sich schon längst mit Nikolaus Schmitt verabredet, vorausgesetzt natürlich, daß das Wetter schön bliebe, damit sie sich in der großen verschwiegenen Laube des elterlichen Gartens treffen könnten und weiter natürlich vorausgesetzt, daß für sie nicht im letzten Augenblick etwas Unvorhergesehenes dazwischen käme.

Aber das Wetter blieb schön und es kam auch Gott sei Dank nichts dazwischen.

So ging sie denn in den Garten, den Nikolaus zu erwarten, für den sie sich aber dieses Mal natürlich viel hübscher und verführerischer angezogen hatte, als bei dem ersten Waldbummel, und als sie dann in der Laube saß, brauchte sie auch nur wenige Minuten auf ihn zu warten, und so plötzlich und überraschend stand er vor ihr, daß selbst sie ihn nicht hatte kommen hören. Na, sie hatte es ihm auch oft und deutlich genug beschrieben, wie er von der großen Allee aus, die sich hinter dem elterlichen Garten entlang zog, unbemerkt in die Laube schleichen müsse, damit er ganz sicher sei, nicht etwa die Aufmerksamkeit der Leute, die vielleicht in den Nebengärten wären, zu erregen. Wäre er aber erst in der Laube, dann wären sie beide ganz sicher, denn die läge so, daß das, was in der vorging, weder gesehen noch gehört werden könne.

Aber vorläufig ging in der weiter nichts vor, als daß er vor ihr stehenblieb, um ihr immer wieder voller Dankbarkeit die Hand zu küssen, weil sie ihm dieses Zusammensein gewährte, bis sie sich dann nebeneinander setzten, um miteinander zu plaudern. Aber aus dem Geplauder wurde zunächst auch nicht viel, denn nur um zu plaudern, hatten sie sich hier doch ganz bestimmt nicht getroffen. Unterhalten hätten sie sich ja auch im Wald miteinander können, und nur, um mit ihm über dies und jenes zu sprechen, hatte sie sich doch auch nicht so niedlich für ihn angezogen.

Das sagte sie ihm aber natürlich nicht, das dachte sie nur, und er schien sich etwas Ähnliches zu denken, denn plötzlich verstummte er ganz und legte seine rechte Hand um ihre Taille, so daß sie, ob sie wollte oder nicht, ihren Kopf an seine Brust lehnen mußte, und das fand sie recht ungeschickt von ihm, denn da konnte er sie, wenn überhaupt, doch nur auf das Haar küssen.

Aber dann legte er gänzlich unerwartet und doch schon längst erwartet, seine linke Hand unter ihr Kinn und hob dadurch ihren Mund zu dem seinen empor, und ohne sie erst um Erlaubnis zu fragen, küßte er sie. Ach und er küßte einfach süß, so süß, wie sie sich nicht erinnern konnte, schon jemals geküßt zu sein.

Ach, er küßte so himmlisch, daß sie ihn einfach wiederküssen mußte, und dann küßte er sie wieder, und so ging das eine ganze lange Weile weiter, bis sie dann plötzlich, damit sie sich besser küssen konnten, auf seinem Schoß saß.

Wie sie dahin gekommen war, hatte sie damals schon nicht gewußt, und das wußte sie in diesem Augenblick, in dem sie in der Einsamkeit und in der Stille der Nacht an alles und an alle Einzelheiten zurück dachte, natürlich erst recht nicht, aber das war ja auch einerlei. Genug, sie saß auf seinem Schoß und ihr war, als hätte sie noch nie so schön gesessen, und sie saß um so schöner und um so bequemer, je dichter und je zärtlicher sie sich an ihn schmiegte. Ach, und so auf seinem Schoß küßte es sich noch viel tausenmal besser als vorhin.

Ach war das schön, war das schön, und dabei gab es Menschen, die allen Ernstes behaupteten, es verlohne sich gar nicht, geboren zu sein.

Sie aber freute sich ihres Lebens, wie noch nie zuvor, bis das Leben sogar noch schöner wurde, denn plötzlich fühlte sie, wie seine Hände anfingen, ihre schlanken zierlichen Glieder zu streicheln und zu liebkosen.

Ihr erster Gedanke war natürlich: Das darfst du dir unter gar keinen Umständen gefallen lassen, das gehört sich nicht, das schickt sich nicht, und deshalb wollte sie ihm zurufen: Das Berühren der Figüren mit den Pfoten ist verboten.

Aber was dann, wenn er nicht darauf hörte? Das wäre beinahe noch schlimmer gewesen, als wenn er darauf gehört hätte, und außerdem mußte sie als wohlerzogenes junges Mädchen so tun, als bemerke sie es gar nicht, wie frech, nein, wie unerhört frech er war, denn es gab in dem Leben eines jeden jungen Mädchens Augenblicke, in denen es ganz einfach die Ungezogenheiten eines jungen Herrn nicht bemerken durfte, wenn sie dadurch nicht nur ihn, sondern auch sich selbst nicht in die tödlichste Verlegenheit setzen wollte.

Und wenn sie etwas bemerkte, wäre ihr ja nichts anderes übrig geblieben, als aufzuspringen, ihn allein zu lassen und in ihr Zimmer zu flüchten. Was aber sollte sie bei dem schönen Wetter schon in ihrer Stube?

So blieb sie weiter auf seinem Schoß sitzen und tat auch weiterhin, als merke sie nichts, aber auch gar nichts davon, wie frech, nein wie reizend unverschämt und süß entzückend frech er war, so frech, daß sie es ihm gar nicht sagen konnte, und das schon deshalb nicht, weil sie zuweilen einfach die Sprache verlor.

Nur eins sagte sie ihm immer wieder: „Du — du, ich habe dich über alles lieb.”

Lange, lange saßen sie in der stillen, ganz dunklen und ganz verschwiegenen Laube beisammen, bis vom nahegelegenen Kirchturm der Schlag der Uhr sie daran erinnerte, daß es für sie die höchste Zeit wurde, sich zu trennen.

Aber der Abschied wurde ihnen beiden sehr schwer, schon weil sie gar nicht wußten, ob und wann sie sich einmal wieder so ungestört wie heute würden sehen können.

Das wußte sie selbst ebensowenig wie er, aber trotzdem sagte sie, einem plötzlichen Impuls folgend: „Ich verspreche dir, daß ich mich in der nächsten Woche wieder an einem Abend für dich freimache, aber damit ich es auch tue, mußt du mir jetzt fest versprechen, nein, das genügt mir nicht, du mußt mir dein Ehrenwort darauf geben, daß du niemals einem Menschen gegenüber auch nur mit einer Silbe etwas davon erwähnst, daß und wie wir heute abend zusammen waren.”

Doch anstatt ihre Bitte zu erfüllen, schüttelte er den Kopf: „Daß ich niemals darüber sprechen werde, ist doch ganz selbstverständlich, dir das aber noch besonders zu versprechen, oder dir gar mein Ehrenwort darauf zu geben, nein, das kann ich nicht. Das aber nicht, weil ich es nicht könnte, sodern weil schon dein Verlangen danach eine beinahe tödliche Beleidigung für mich bedeutet. Mich wundert, daß du das nicht selbst einsiehst und daß du mich überhaupt um so etwas batest.”

Das klang so stolz, zugleich aber auch so vorwurfsvoll, daß sie sich ihrer Worte schämte, daß sie sich an ihn schmiegte und ihn ihrerseits bat: „Sei mir nicht böse, Nikolaus, nur die Todesangst, es könne vielleicht jemand etwas erfahren, ließ mich so sprechen. Sei mir nicht böse, ich weiß ja, daß du auch ohnedem über alles gegen jedermann bis zu deinem Tode schweigen wirst.”

Und das glaubte sie schon deshalb zu wissen, weil sie es hoffte, nein, weil er ganz einfach schweigen mußte, wenn sie nicht verloren sein sollte. Aber als sie endlich zu Bett gegangen war, als sie noch lange wach lag und an alles, was sie heute erlebte, zurückdachte, wurde auf einmal die Todesangst in ihr wach: was dann, wenn er aber doch nicht schweigt? Wenn er dir sein Ehrenwort nur deshalb nicht gab, um bei passender Gelegenheit nach Jungenart mit seinen Erfolgen bei dir renommieren zu können, was dann, wenn er so schamlos sein sollte, die Einzelheiten des heutigen Abends in seiner Pension oder eines Tages in der Klasse zum besten zu geben?

In ihrer furchtbaren Angst wollte sie laut aufschreien, bis sie sich mit dem Gedanken beruhigte: so ohne jede weitere Veranlassung wird er dich schon um seiner selbst willen nicht bloßstellen, denn dann wäre es zwischen euch natürlich vollständig aus, und ihm wird sicher noch viel mehr als dir daran gelegen sein, daß ihr gut Freund miteinander bleibt, damit der heutige erste Abend in der Laube dort oder an einem anderen ebenso verschwiegenen Ort baldmöglichst eine Wiederholung findet.

Aber trotzdem mußte der heutige erste Abend natürlich zugleich der letzte gewesen sein. Einmal und nicht wieder! Zum zweitenmal wollte sie hinterher eine solche entsetzliche Angst wie in diesen Minuten nicht wieder durchmachen.

Bis sie sich gleich darauf schaudernd eingestand, daß es dabei nicht auf ihren, sondern einzig und allein auf seinen Willen ankam, denn er hatte sie vollständig in seiner Gewalt. Mit der Drohung: Wenn du mir nicht, so oft ich dich darum bitte, ein neues Stelldichein gewährst, und wenn du bei dem nicht ebenso nett und liebenswürdig und entgegenkommend bist, wie bei dem ersten, dann erzähle ich alles weiter, — ja, mit dieser Drohung konnte er von ihr erzwingen, was er wollte.

Sie war in seiner Gewalt, sie hatte sich gewissermaßen einem Erpresser in die Hände gegeben, der allerdings kein Geld, wohl aber andere Dinge von ihr verlangen würde, und als ihr das klar, ganz klar geworden war, da hatte sie ihn ebenso glühend und ebenso leidenschaftlich gehaßt, wie sie ihn noch vor einer Stunde liebte.

Sie haßte ihn so, daß es dafür keine Worte und keinen Ausdruck gab, sie haßte ihn, daß sie plötzlich die Hände faltete und betete: „Lieber Vater, der du bist im Himmel, du kennst meine Not und die schreckliche Gefahr, in der ich mich befinde. Erlöse mich von dem entsetzlichen Menschen, dem ich im Vertrauen auf seine anständige Gesinnung meine junge, reine, keusche Liebe schenkte. Du, der du alles weißt. wirst es wissen, daß ich mir nichts Böses dabei dachte, denn ich bin nicht schlecht, nein, ganz bestimmt nicht, ich habe seine Zärtlichkeiten nur geduldet, weil ich mir die einfach gefallen lassen mußte. Darum bitte ich dich noch einmal, befreie mich von diesem schrecklichen Menschen, lasse ihn sterben, oder lasse seinen Vormund ihn aus irgendeinem Grunde hier aus dem Pensionat und aus der Stadt fortnehmen. Oder tue sonst, was du für gut und richtig hältst, nur befreie mich von ihm.”

Aber ganz so schnell, wie sie es erhoffte, wurde ihr Gebet nicht erhört. Der Nikolaus blieb nicht nur am Leben, sondern auch in der Stadt, und sechsmal traf sie noch des Abends heimlich mit ihm zusammen. Drei Zusammenkünfte mußte sie ihm gewähren, weil er sie darum bat, drei schenkte sie ihm freiwillig, damit er um Gottes willen nicht etwas von dem, was sie miteinander hatten, in seinem Bekanntenkreis erzähle. Sechsmal traf sie sich noch mit ihm, sechsmal saß sie noch auf seinem Schoß, aber während sie das tat, während sie sich von ihm küssen ließ und seine Küsse, damit er ihre geheimsten Gedanken nicht errate, voller Leidenschaft erwiderte und während sie ihm zuflüsterte: „Mein Nikolaus, mein über alles geliebter Nikolaus,” da haßte sie ihn wie noch nie zuvor ein Mensch einen anderen haßte und dachte dabei fortwährend: Ach, wäre er doch nur erst tot oder wenigstens aus der Stadt heraus, denn inzwischen war eine neue entsetzliche Angst in ihr wach geworden. War es nicht möglich, daß einer seiner Kameraden sich eines Tages hinreißen ließ, ihn wegen seiner unehelichen Geburt zu schmähen und seine verstorbene Mutter zu beschimpfen? Und was dann, wenn er darauf erwiderte: „Ihr dürft meine Mutter nicht schelten, denn sie war nur ein einfaches und trotz ihrer Stellung wohl nur ziemlich ungebildetes Mädchen aus dem Volke. Ja, wäre sie eine junge Dame der Gesellschaft gewesen, dann könntet ihr ihr vielleicht einen Vorwurf machen, obgleich es mit der Sitte und der Moral der jungen Mädchen aus den ersten Kreisen heutzutage auch nicht allzuweit her ist. Das habe ich erst letzthin wieder bei der Emmy Paulsen erfahren. Bei ihr habe ich alles erreicht, was ich wollte und wer weiß, ob ich nicht noch mehr, auch das Letzte erreicht haben würde, wenn ich ein Schuft gewesen wäre und es darauf angelegt hätte.”

Und was dann, wenn er es vielleicht absichtlich von Anfang an darauf anlegte, bei ihr festzustellen, wie weit sie sich mit ihm einlassen würde, um seine Mutter gegen etwaige Anklagen der Kameraden und vielleicht auch gegen die Vorwürfe, die er selbst ihr zuweilen machte, in Schutz nehmen zu können.

Jeden Abend betete sie zu Gott, der Nikoalus möge sterben, und nach ein paar Wochen starb er denn glücklicherweise auch. Die plötzlich sehr stark auftretende Grippe forderte in der Stadt, namentlich unter den jungen Leuten, viele Opfer, und der Nikolaus war einer der ersten, der dieser heimtückischen Krankheit erlag.

Seinetwegen tat ihr sein früher Tod natürlich aufrichtig leid, aber sie selbst atmete auf, als wäre sie neu geboren. Der Haß, dieser entsetzliche Haß, der alles in ihr zerstört und verwüstet hatte, war von ihr gewichen und das Leben lag wieder schön und verlockend vor ihr.

Und doch, was war der Haß, den sie damals gegen den Nikolaus empfand und an den sie nun heute nach langen Jahren plötzlich wieder zurückdachte, was war der Haß, den sie gegen ihn hegte, im Vergleich zu dem Haß, den sie jetzt in der stillen, einsamen Nacht gegen ihren Mann in ihrem Herzen trug? Ein Nichts, ein Kinderspiel, ein Kinderhaß.

Stunde um Stunde lag sie noch wach, sie konnte und konnte nicht einschlafen, aber als ihr dann endlich doch die Augen zufielen, wachte sie bald darauf wieder auf, und dann, ja dann, da lag sie eine ganze Weile regungslos, um sich erst davon zu überzeugen, ob sie aber auch wirklich wache oder ob sie träume.

Aber als sie genau wußte, daß sie nicht träume, sprang sie aus dem Bett und stürzte in das Zimmer ihres Mannes, um diesen zu wecken, und als ihr das gelungen war, rief sie ihm freudestrahlend zu: „Hans, denke dir nur, ich habe mich geirrt, meine Befürchtungen waren ganz grundlos, ich habe die Gewißheit, daß ich noch gar nicht Mutter werde, ich habe mir das alles nur eingebildet. Ach, Hans, ich bin ja so unaussprechlich glücklich, und nicht wahr, nun räumen wir die Zimmer gleich morgen wieder um, und du schläfst fortan wieder bei mir? Du weißt nicht, wie ich mich geängstigt habe und welche dummen Gedanken in mir wach geworden sind.”

Doch ihr Mann widersprach: „Du wirst dich an das Alleinsein gewöhnen müssen, Liebling, denn vorläufig bleiben unsere Schlafzimmer getrennt,” und als sie ihn verständnislos ansah, fuhr er fort: „Ich habe vorhin lange, lange wach gelegen und da habe ich mir gesagt, selbst wenn deine Frau sich dieses Mal geirrt haben sollte, über kurz oder lang könnte doch die Stunde kommen, in der sie mit ihren Vermutungen recht hat, und dann würde sich derselbe Auftritt von heute wiederholen. Das aber willst du unter allen Umständen vermeiden, nicht nur deiner Frau, sondern auch des späteren Kindes wegen, denn sieh mal, Emmy, wenn aus einem Kind ein ordentlicher Mensch werden soll, muß es von der Mutter in Liebe empfangen und in Liebe geboren werden. Auch ich habe mir ja früher gewünscht, unsere Ehe möchte in den ersten Jahren kinderlos bleiben, aber darüber denke ich schon lange anders. Ich liebe dich heute viel mehr als zu Beginn unserer Ehe, und gerade weil ich das tue, möchte ich, daß du mir ein Kind schenktest. Aber wie ich es schon einmal sagte, du sollst mir dieses unser Kind gern, freudig und voller Liebe schenken, und solange du das nicht willst oder nicht kannst, solange werde ich dein Schlafzimmer nicht wieder betreten.”

Mit einem lauten Aufschrei sank sie, als er zu Ende gesprochen, vor seinem Bett nieder und versuchte, ihn umzustimmen. Aber alles war vergebens, er blieb unerbittlich, und so wußte sie schließlich selbst nicht, woher sie in ihrer grenzenlosen Verzweiflung noch die körperlichen Kräfte genommen hatte, sich wieder in ihr Bett zu schleppen, denn ihr Mann begleitete sie nur bis zur Tür ihres Schlafzimmers. Selbst in diesem Augenblick, da sie sich krank und elend fühlte, überschritt er nicht die Schwelle.

Und wieder lag sie Stunde um Stunde wach.

Wie hatte die Freundin ihr doch damals geschrieben: Alle Männer entwickeln sich während der Ehe, und es bleibt erst abzuwarten, wie sich der deine entwickeln wird.

Nun wußte sie es, wie er sich entwickeln würde, nein, wie er sich entwickelt hatte! Er wünschte sich ein Kind von ihr und das schon jetzt, obgleich er früher darüber anders dachte.

Aber kam es denn nur darauf an, was er sich wünschte? Und ob er wohl ebenso denken würde, wenn er das Kind neun Monate unter seinem Herzen tragen und sich später den Schmerzen und den Gefahren der Geburt aussetzen sollte?

Hatte nicht selbst der Arzt, der in seinem Beruf wirklich außerordentlich tüchtig zu sein schien, hatte nicht selbst der erklärt oder angedeutet, daß man bei einer gesunden, aber doch sehr zarten und zierlichen Frau, wie sie eine war, gar nicht vorsichtig genug sein könne?

Und lediglich aus Egoismus, oder wie er das nannte, aus Liebe zu ihr, sollte sie ihm schon jetzt ein Kind schenken; und, sie sah es ein, sie würde es ihm bald schenken müssen, wenn sie nicht ebenso wie die arme Paula vielleicht jahrelang den Verkehr mit ihrem Mann vollständig entbehren und dadurch vielleicht einem Liebhaber in die Arme getrieben werden wollte.

Wie sie ihren Mann haßte, wie sie ihn über alles haßte, ihn, den sie aus der selbstlosesten Liebe heraus geheiratet hatte.

Aber trotzdem, wie war es nur möglich, daß sich diese ihre grenzenlose Liebe in einen noch viel größeren Haß hatte verwandeln können?

Gewiß, in erster Linie war einzig und allein er daran schuld, aber dennoch, wie konnte sie ihn nur so hassen?

Darüber dachte sie nicht nur in der Nacht noch lange weiter nach, sondern die Frage beschäftigte sie auch noch am nächsten Tage fortwährend, aber sie fand darauf keine Antwort, so daß sie, schon um sich zu zerstreuen und um endlich auf etwas andere Gedanken zu kommen, des Nachmittags ein Buch zur Hand nahm und in dem herumblätterte, bis sie auf eine Stelle stieß, die sie interessierte und die sie deshalb immer wieder las, denn da hieß es:

Haß und Liebe sind oft Zwillinge, sie sehen einander zuweilen zum Verwechseln ähnlich.

Hassen kann man nur einen Menschen, den man liebte oder den man, wenn auch ohne es zu wollen und ohne es zu wissen, immer noch liebt, denn die Liebe ist die Voraussetzung eines jeden Hasses.

Seine Feindeverachtet man oder man wünscht ihnen alles Böse und alles Schlechte, aber man haßt sie nicht.

Wie oft haßt man nicht einen Menschen, weil man ihn entweder nicht lieben darf oder weil man ihn nicht lieben will.

Haß ist oft eine Art Liebesersatz, denn auch er erregt wollüstige Gefühle.

Solche und ähnliche Aussprüche ließ der Verfasser des Buches an der von ihr aufgeschlagenen Stelle seinen Helden in Oscar Wildes etwas paradoxer Manier tun, und da, als sie die Worte gelesen und als sie die geistig verarbeitet und verdaut hatte, da wußte sie endlich, warum sie ihren Mann gestern gehaßt hatte, warum sie ihn heute haßte und warum sie ihn noch lange hassen würde: nicht, weil sie befürchtet hätte, in anderen Umständen zu sein, nicht, weil er angeblich aus Liebe zu ihr seine Ansichten über den Kindersegen änderte und sich schon jetzt ein Kind von ihr wünschte, nicht, weil sie lediglich seinetwegen keine ernsthafteren Versuche gemacht hatte, den reichen Herrn von Kleinen einzufangen, nicht, weil er gleich gestern das gemeinsame Schlafzimmer aufgab, ohne es erst abzuwarten, ob das auch wirklich nötig gewesen wäre, nicht, weil er die getrennten Schlafräume auch in Zukunft beibehalten und ihr Schlafzimmer vorläufig nicht betreten würde, nicht, weil sie befürchtet hatte, schon nach neun kurzen Monaten im Wochenbett sterben zu müssen, ach nein, deshalb nicht, und es wäre doch auch lächerlich und ihrer unwürdig, wenn sie ihren Mann wegen solcher Bagatellen auch nur eine Sekunde hätte ernstlich hassen wollen.

Ach nein, deshalb haßte sie ihn nicht — sondern einzig und allein aus Liebe.


Fußnoten:

(1) recte wohl: „ausräumen und einpacken”. (Zurück)

(2) In der Buchfassung heißt es nur: „frieden” anstatt „zufrieden” Wohl eine Nachlässigkeit des Setzers und des Korrektors. (Zurück)

(3) Ist dieser doch etwas ungewöhnliche Ausdruck bewußt so gewählt oder ist es ein „Freudscher Versprecher”? (Zurück)


zurück zur

Schlicht-Seite
© Karlheinz Everts