Kielland in Karlsbad.

Eine Erinnerung(1).
Von Freiherrn v. Schlicht
in: „Berliner Tageblatt” vom 9.Apr. 1906 und
in: „Musu Laiki” vom 8.Apr. 1906.


Ich lernte Alexander Kielland kennen, als er vor fünf Jahren in Karlsbad zur Kur weilte. Lange schon ehe unser gemeinsamer Arzt unsere persönliche Bekanntschaft vermittelte, war mir seine Erscheinung morgens bei der Brunnenpromenade aufgefallen. Breitschultrig wie nur wenige, ein Riese an Körpergröße, überragte er alle anderen Kurgäste um mehr als Haupteslänge. Nur schwer bewegte sich der gewaltige Körper, von winzig kleinen Füßen getragen, vorwärts, und das Auffallende seiner ganzen Erscheinung wurde noch erhöht durch eine lederne wasserdichte Mütze, eine Art Berliner Ballonmütze, die er bei jedem Wind und Wetter, aber auch bei dem schönsten Sonnenschein trug. Im vollsten Gegensatz zu seinem mächtigen Körper stand das Gesicht, das Gesicht eines Kindes mit großen hellen Augen, die gütig und froh in die Welt schauten.

Wegen seines Leidens machte er sich keine Sorgen, oder er zeigte es wenigstens nicht. Er befolgte die Ratschläge seines Arztes, soweit es ihm paßte und lebte im übrigen so, wie er es für gut fand. Vor allen Dingen aber kämpte er trotz aller Ermahnung gar nicht gegen die ihn fortwährend befallende Schlafsucht an. Dieses Schlafen war krankhaft, und der absolute Mangel an Bewegung trug die Schuld daran, daß er täglich schwerer wurde. Wie oft habe ich nicht versucht, wenn wir des Morgens bei Pupp zusammen gefrühstückt hatten, ihn zu einem Spaziergang zu bewegen? Sich schwer auf seinen starken Stock stützend, versprach er ganz brav zu sein und sich unterwegs nicht auszuruhen. Aber schon auf der ersten Bank ließ er sich dann doch nieder. „Nur eine Minute,” bat er, und nach einer halben Minute war er schon fest eingeschlafen. Und wenn ich dann allein meinen Weg fortsetzte, fand ich ihn bei meiner Rückkehr auf einer anderen Bank schlafend vor. Er schlief sich so von Bank zu Bank, wie er es selbst nannte, und war ganz stolz, wenn er auf diese Art und Weise sechs oder gar sieben Bänke zurückgelegt hatte.

Eines Tages hatten wir uns verabredet, am Abend zusammen in ein Variété zu gehen, aber als ich noch in seinem Hotel mit ihm darüber sprach, was wir bis dahin unternehmen könnten, sagte er plötzlich:

„Wissen Sie was? Ich gehe jetzt zu Bett.”

Ich sah nach der Uhr.

„Schön,” stimmte ich ihm bei, „es ist jetzt fünf, um halb sieben lassen Sie sich wecken, und kurz nach sieben hole ich Sie hier mit dem Wagen ab.”

Aber er schüttelte den Kopf.

„Wenn ich mich jetzt hinlege, bleibe ich auch bis morgen früh liegen.”

„Kielland,” rief ich, „das ist doch nicht Ihr Ernst, Sie können doch nicht 14 Stunden nach der Reihe schlafen.”

Da lachte er hell auf, und ich sehe ihn noch vor mir, wie er mich mit seinen lustigen Augen schelmisch anblickte:

„Doch, das kann ich sehr gut, das habe ich in Stavanger gelernt. Sehen Sie, da bin ich Bürgermeister, und solange ich den schwarzen Rock anhabe, bin ich der erste Beamte der Stadt, der für alle Menschen, die irgend etwas auf dem Herzen haben, zu sprechen sein muß. Sobald ich mir aber mein langes weißes Nachthemd anziehe, bin ich nicht mehr der Bürgermeister von Stavanger, dann bin ich ein müder Mensch, der zu Bett geht und für niemand zu sprechen ist. Und da ich mich nicht gern ärgere, habe ich es mir angewöhnt, viel häufiger das Nachthemd als den schwarzen Rock zu tragen,”

Ich wüßte keine andere Geschichte, die so charakteristisch für Kielland wäre wie diese kleine Anekdote, für ihn selbst und für sein Wesen. Wer einmal mit ihm zusammen war, der kannte ihn durch und durch, jede Verstellung war ihm fremd. Natürlich sprach ich oft mit ihm über seine Bücher, und ich habe nie einen Schriftsteller kennen gelernt, der so bescheiden war wie er. Oft wurde er ganz rot und verlegen wie ein Kind, wenn ich diese oder jene Stelle, die mir aus seinen Schriften besonders in Erinnerung geblieben war, zitierte. Dann konnte er sich aber auch wieder darüber beklagen, daß er keinen gutzahlenden deutschen Verleger finden könne, und daß man ihn in Deutschland so oft übersetze, ohne ihm auch nur einen Pfennig dafür zu zahlen. Auch mir gegenüber erklärte er, er würde nie wieder etwas schreiben:

„Was ich auf dem Herzen hatte, habe ich mir heruntergeschrieben; aber meine Bücher haben segensreich dadurch gewirkt, daß sie in dem Schulwesen und auch in dem Gottesdienst manches bei uns änderten. Ich habe nichts mehr zu sagen; und nur schreiben, damit andere Leute ein Buch zu lesen haben: das liegt mir nicht, dazu bin ich auch zu bequem.”

Nun hat er kurz vor seinem Tode doch noch einmal die Feder zur Hand genommen und seinen zahlreichen Freunden den Napoleon geschenkt, ein Buch, dessen Eigenart vielleicht nur der ganz zu schätzen weiß, der den Dichter persönlich kannte.

Uebrigens war Kielland schon einmal totgesagt. Es war in der Ueberbrettl-Zeit. Ich hatte damals versprochen, im Dredener Zentraltheater, wo Wolzogen damals spielte, etwas vorzulesen. Am Mittag desselben Tages brachte die Zeitung die Nachricht, daß Kielland in Karlsbad plötzlich gestorben sei. Ich war auf das tiefste erschüttert und wollte die Vorlesung erst absagen, hielt aber dann doch mein gegebenes Versprechen. Ich fand freundlichen Beifall, ganz besonders helles Lachen ertönte aber aus der linken Proszeniumsloge. Neugierig wandte ich meinen Blick dahin, um zu sehen, wer sich da so gut amüsiere, aber das Buch fiel mir aus den Händen, als ich dort Kielland sitzen sah, denselben Alexander Kielland, von dessen Tode ich mittags gelesen hatte. Wie ich meine Vorlesung zu Ende brachte, ist mir auch heute noch ein Rätsel. Aber ich las weiter, und je weiter ich las, desto heller klang sein frohes Lachen, als wollte er mir dadurch zurufen: „Jawohl, ich lebe noch, und ich denke auch noch gar nicht daran zu sterben.”

Nun ist er doch dahin gegangen. Er, der so gern schlief, schläft jetzt den ewigen Schlaf, und niemand wird ihn mehr wecken.


Fußnote:

(1) Vergleiche hierzu auch die Autobiographie Schlichts. (zurück)


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