Die vierte Kategorie.

Satire von Freiherr von Schlicht,
in: „Parade-Haare”


Der Dicke war Sportsman geworden, das war die große Neuigkeit, die das ganze Offizierkorps in Aufregung versetzte. Von jedem andern hätte man das geglaubt, nur von dem Dicken nicht. Der war, wie er das seiner Korpulenz schuldig zu sein glaubte, das lebendige Phlegma, und er betrachtete es geradezu als eine Verirrung der Natur, daß er trotzdem hatte Infanterieoffizier werden müssen. Als Kadett freilich war er noch ein ganz magerer kleiner Kerl gewesen, auch als Fähnrich hatten ihm die Uniformen auf Kammer noch gepaßt, aber dann war es auf einmal über ihn gekommen — er nahm nach der Meinung seiner Vorgesetzten mehr an Körpergewicht als an Weisheit zu und alle Ermahnungen, den Spieß umzudrehen und andersherum stark zu werden, blieben ohne Erfolg.

Und dieser Dicke, der früher jeden Menschen für einen Idioten erklärt hatte, der auch nur einen einzigen Schritt mache, zu dem er nicht durch das Reglement und durch seinen Fahneneid verpflichtet sei — der war unter die Sportleute gegangen und hatte sich ein Paar neue, tadellos blanke Schlittschuhe gekauft.

Ja noch mehr, man sah ihn täglich mit diesen Schlittschuhen, die er an einem ganz neuen Lederriemen über den linken Arm trug, durch die Straßen der Stadt gehen.

Aber trotzdem hatte man ihn noch nie auf einer der verschiedenen Eisbahnen, die von den Offizieren der Stadt besucht wurden, laufen sehen.

Er fand dafür stets eine Ausrede: Das eine Mal war es ihm auf der Bahn zu voll gewesen, oder das Eis hatte nichts getaugt, man hatte nicht genügend Bahn gefegt, die Musik war so miserabel gewesen, daß man es nicht hätte anhören können — kurz und gut, an einer Ausrede fehlte es ihm nie.

Niemand begriff, warum er sich täglich auf der Eisbahn zeigte. Hätte man nicht gewußt, wie der Dicke nicht nur im allgemeinen, sondern auch im besonderen über das weibliche Geschlecht dachte, dann wäre die Lösung ja sehr einfach gewesen. Das Wort: Où est la femme? hätte alles erklärt. So aber begriffen sie nicht, was plötzlich in den Dicken gefahren war, und der begriff sich, wie er behauptete, am allerwenigsten. In Wirklichkeit aber wußte der Dicke ganz genau Bescheid: Er war verliebt, richtiggehend verliebt.

Vor ungefähr vierzehn Tagen hatte er „sie” an der Seite einer Freundin zur Eisbahn gehen sehen, und er verstand sich auf weibliche Schönheiten. Er hatte zwar bei den Kameraden den Ruf, sich nichts aus dem weiblichen Geschlecht zu machen, und zwar dachten die deshalb so, weil er nicht jede Blume pflückte, die er am Wege fand. Dazu besaß er einen zu guten Geschmack. Vor allen Dingen aber verdankte er sein Renommee dem Umstand, daß er niemals von seinen Liebesaffären sprach.

In Wirklichkeit aber hatte der Dicke für das andere Geschlecht einen sehr ausgeprägten Sinn, und „ihr” Anblick allein hatte genügt, sein Herz höher schlagen zu lassen. Hübsch war sie gewesen und ein paar Augen hatte sie! Er trank in Gedanken jedesmal zur Abkühlung ein Glas Wasser, wenn er nur an die Augen dachte. Und doch haßte er das Wasser. Er trank es nur mit Whisky und dann war das Wasser Soda. Donnerwetter, die Augen! Vor allen Dingen aber der Schick! Wo mochte sie das Eiskostüm nur aufgetrieben haben? Hier in der Stadt gewiß nicht. Wie das saß und ihre schöne schlanke und doch volle Figur zur Geltung kommen ließ. Dazu der Gang und die Haltung — da konnte das strengste militärische Auge keinen Fehler entdecken.

Der Dicke teilte das weibliche Geschlecht in drei Kategorien: Solche, die sich küssen lassen, ohne sich etwas dabei zu denken, solche, die bei jedem Kuß gleich an die Heirat denken, und schließlich solche, die sich um so weniger denken, je öfter sie geküßt werden.

Im allgemeinen schwärmte er für die dritte Kategorie am meisten, aber er schwur sich, „sie” auch dann weiter zu lieben, wenn sie Heiratsgedanken hätte. Er suchte sie Tag aus, Tag ein, bis ihm endlich das Glück günstig war. Sie stand in ihrem bildhübschen Sportkostüm, die Schlittschuhe an einem Riemen tragend, auf der Eisbahn und sah dem kunstvollen Lauf ihrer Freundin zu.

Der Dicke sah sich um: Kameraden, die ihn hätten foppen können, waren nicht da; so wollte er denn seinen ganzen Mut zusammennehmen und sich ihr gleich vorstellen. Aber so ohne weiteres ging das doch nicht, er konnte nicht einfach sagen: „Meine Gnädigste, gestatten Sie, daß ich mich Ihnen bekannt mache.” Nein, etwas anders mußte er es schon anfangen. Da kam ihn ein rettender Gedanke. Wenn er auch von dem Schlittschuhlaufen keine Ahnung hatte, so konnte er doch wenigstens noch glitschen. Das hatte er in seiner Jugend und auch später mit solcher Ausdauer betrieben, daß er es unmöglich inzwischen verlernt haben konnte. Er würde sie dabei anstoßen, sie um Entschuldigung bitten und das Weitere ergab sich dann ganz von selbst. Aber statt dessen fiel er ihr plötzlich zu Füßen, unwillkürlich suchte er nach einem Halt und sie lag neben ihm.

„Aber, Herr Leutnant!”

Mit jugendlicher Elatizität sprang er empor und hob sie auf: „Ich bitte tausendmal um Verzeihung, meine Gnädigste, ich bin untröstlich, hoffentlich haben Sie sich nicht wehe getan, darf ich Ihnen behilflich sein, Ihr Kleid zu säubern, pardon, ich vergaß noch ganz, mich Ihnen vorzustellen, mein Name ist Stern, Leutnant Stern, wenn Sie mir irgend eine Strafe auferlegen wollen — ich büße so gerne.” Aus seinen Zügen sprach anscheinend wirkliche Verzweiflung, das stimmte sie milde. Sie beruhigte ihn mit einigen Worten darüber, daß sie sich nichts getan habe, und bald befanden sie sich mitten im Gespräch.

„Sie laufen gern Schlittschuh, Herr Leutnant?” erkundigte sie sich jetzt.

Der Dicke log darauf los: „Leidenschaftlich, gnädiges Fräulein, aber wie selten kommt man dazu, dem schönen Sport in Ruhe und Muße huldigen zu können? Sie sehen es ja bei Ihre Freundin, neugierige Menschen stehen da herum, und je besser man läuft, desto mehr wird man angestarrt. Und wie selten hat man Platz, sich frei bewegen zu können; gerade wenn man einen Sport nicht nur liebt, sondern ihn beherrscht, muß man ihn um seiner selbst willen auch so ausüben, daß der Sport auch des Sportes würdig ist.”

Das war zwar Unsinn, was er da sagte, aber im ersten Augenblick hörte es sich doch beinahe sehr klug an.

Sie stimmte ihm lebhaft bei: „Genau so denke ich.”

„Wirklich?” rief er erfreut. „Da müßten wir uns beide einmal zu einer Stunde hier verabreden, in der wir die Bahn ganz frei finden.”

Für einen Augenblick wurde sie etwas verlegen, dann sah sie ihn mit einem langen Blick prüfend an.

„Schön,” sagte sie dann endlich, „es sei, aber selbstverständlich muß meine Freundin mich begleiten.”

„Selbstverständlich,” wiederholte er, obgleich er das eigentlich gar nicht selbstverständlich fand. Tag und Stunde des Rendezvous wurden verabredet. Am nächsten Mittag zog seine Kompagnie auf Wache, da hatte er am übernächsten Vormittag keinen Dienst und konnte schon um zehn auf der Bahn sein.

Glückstrahlend verabschiedete er sich endlich von ihr — sie war von ihrer Freundin Toni genannt worden, und es kam ihm so vor, als hätte er noch nie einen so schönen Namen gehört. Vor allen Dingen hatte er noch nie eine Toni geküßt. So viele Mädchennamen jetzt auch plötzlich in seiner Erinnerung wach wurden, und es waren sehr viele, eine Toni war noch nicht darunter gewesen.

In seine Freude auf das bevorstehende Wiedersehen mischte sich aber nur zu bald die traurige Gewißheit, daß er sich bei dem gemeinsamen Schlittschulaufen bis auf die Knochen der Unsterblichkeit blamieren würde. Aber auch da war die Rettung bald gefunden. —

Pünktlich auf die verabredete Minute war er am übernächsten Morgen zur Stelle, und schon nach kurzem Warten erschien Fräulein Toni, aber, ebenso wie er, ohne Schlittschuh. „Ich komme nur, Herr Leutnant, um Ihnen zu sagen, daß ich nicht kommen kann. Meine Freundin ist verhindert, und allein können wir doch nicht laufen.”

Er stimmte ihr anscheinend bei. „Das wäre wohl nicht gut gegangen, aber ein Zufall fügt es, daß auch ich heute nicht hätte laufen können. Mein linker Schlittschuh hat mit einem lauten Knax seine Feder ausgehaucht. Mit dem Laufen ist es also definitiv nichts; was meinen Sie aber, wenn wir statt dessen etwas spazieren gingen, wenn auch nicht gerade hier auf dem Eise?”

Sie sah ihn erzürnt an. „Was denken Sie von mir, Herr Leutnant, und außerdem — wenn uns jemand zusammen sieht.”

„Es sieht uns keiner,” beruhigte er sie, und nach kurzem Sträuben willigte sie ein. „Aber höchstens eine Viertelstunde.”

„Höchstens.”

Gleich darauf schritten sie nebeneinander dahin. Sie trug auch heute ihr entzückendes Sportkostüm, sie sah nach der Meinung des Dicken noch reizender aus als sonst; er hörte deutlich, wie sein Herz lauter schlug, und wie es kam, wußte er selbst nicht, aber mit einem Mal blieb er stehen und küßte sie auf den Mund. Gleich darauf bekam er einen furchtbaren Schrecken.

Und auch sie Bekam es mit der Angst; ängstlich sah sie sich nach allen Seiten um, dann rief sie scheltend: „Nicht küssen, doch nicht hier, wenn uns jemand sieht.”

In den Augen des Dicken leuchtete es freudig auf; die Erkenntnis war über ihn gekommen. „Wenn ich Sie vielleicht bitten dürfte, nach dem Spaziergang ein Glas warmen Tee bei mir zu trinken — in meinem Hause wohnt auch eine Modistin, Sie können ganz beruhigt sein, es sieht Sie niemand.”

„Und wenn mich trotzdem jemand sieht?” fragte sie ängstlich.

Da wußte er, daß sie kommen würde.

Sie kam, und nicht nur einmal. Regelmäßig kam sie nachmittags, um den Tee bei ihm zu trinken, und dann sprachen sie von allem möglichen, sie erzählte ihm ihr ganzes Leben. Sie entstammte einer sehr angesehenen Familie, rein und unberührt wollte sie später dem Mann, der sie heiratete, gegenübertreten können. Nur küssen wollte sie vorher, viel küssen, heiß und leidenschaftlich. „Denn nicht wahr, Dicker, das Küssen allein ist doch keine Sünde?”

Jedesmal, wenn sie kam, trug sie ihr Sportkostüm, immer hatte sie die Schlittschuhe in der Hand, aber trotzdem wurde nie wieder von dem Schlittschuhlaufen gesprochen, nicht etwa, weil sie die Eisbahn nicht mehr liebte. Im Gegenteil, für die schwärmte sie geradezu, denn da machte sie jede Eroberung, die sie machen wollte, und der Dicke hatte ihr gleich gefallen. Nicht weil sie ihn liebte, sondern weil sie gleich bei der ersten Begegnung gemerkt hatte, daß er hier der einzige Herr war, der sie nicht in die Verlegenheit bringen würde, sich zu blamieren. Sie war die schlechteste Läuferin, die man sich denken konnte, aber ihr Kostüm war so schick und es stand ihr so ausgezeichnet. Und darum ging sie jeden Tag aufs Eis.

Drei Wochen verlebten die beiden mit Küssen und Kosen, dann kam der Abschied. Toni mußte zurück zu ihren Eltern nach Berlin, trotz aller Bitten durfte sie den Besuch bei ihrer Freundin hier nicht länger ausdehnen, obgleich sie immer wieder nach Haus schrieb: „Ihr wißt nicht, wie lieb wir uns haben, und Ihr solltet es nur einmal sehen, wie reizend namentlich die Nachmittags­stunden sind, wenn wir da am Teetisch zusammensitzen und plaudern.”

Toni fuhr ab, und der Dicke blieb traurig zurück. Nur eins vermochte ihn schließlich zu trösten, er hatte seine Kentnisse erweitert, er teilte das weibliche Geschlecht fortan nicht mehr in drei, sondern in vier Kategorien.

Und in diese vierte gehörten alle diejenigen, die sich bei dem Küssen sehr viel denken und sich trotzdem nichts dabei denken.

Und der Dicke fand, daß die jungen Damen dieser Kategorie, wenn auch nicht um sie zu heiraten, so doch pour passer le temps die amüsantesten wären.


zurück zur

Schlicht-Seite