Kaisermanöver!

Militärische Humoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Berliner Tageblatt” vom 9.9.1912 und
in: „Kaisermanöver”


Was seit Wochen in der Luft lag, ist nun zur Erde niedergefallen: die Infanterie­brigade hat nun doch noch den Befehl erhalten, an dem Kaisermanöver teilzunehmen; nur an den letzten Manövertagen, nicht an der Kaiserparade, die wird vorüber sein, wenn die Regimenter im Manövergelände eintreffen. Der längst erwartete Befehl ist eingegangen, aber niemand weiß eigentlich, welchem Umstand man den verdankt. Hat der hohe Generalstab sich verrechnet, ist er zu der Erkenntnis gekommen, daß die Kräfte von Rot und Blau doch zu verschieden sind, will er einen Kraftausgleich herbeiführen, oder soll die rote Partei, zu der die Brigade stoßen wird, von vornherein die Übermacht haben? Niemand weiß es, nicht einmal der Herr General. Der weiß nur eins: daß er im Grunde seines Herzens sehr wenig davon erbaut ist, sich nun vielleicht in dem plötzlich bevorstehenden Kaisermanöver abhalftern zu lassen. Vielleicht kommt es ja nicht dazu, aber wer sich am Morgen den Helm aufsetzt, um unter den Augen seines Kaisers zu kämpfen, kann nie wissen, ob ihm der Helm nicht am Abend sehr schnell vom Kopf genommen wird. Dem General ist gar nicht sehr behaglich zumute, aber trotzdem erläßt er an die beiden ihm unterstellten Regimenter einen Tagesbefehl: Hohe Ehre für die Brigade — — — große Auszeichnung, der sich ein Jeder würdig erweisen muß — — — höchstes Glück, das einem Soldaten widerfahren kann — — — Strapazen sind dazu da, um gern und freudig überwunden zu werden — — — der größten Anstrengung folgt die höchste Anerkennung — — — Worte des Lobes aus dem Munde des allerhöchsten Kriegsherrn — — Se. Majestät der Kaiser — Hurra, hurra, hurra !

Die beiden Regimentskommandeure, die dem Herrn General unterstellt sind, bringen diesen Tagesbefehl zur Kenntnis ihrer Offiziere und Mannschaften und ein jeder setzt noch einiges hinzu: Das Regiment wird sich der Ehre würdig erweisen — — — es wird — — — es soll — — — es muß — („damit der Oberst nicht den Abschied bekommt,” denkt ein jeder, der es hört, im stillen.) Der Herr Oberst spricht zu seinem Regiment, dann sprechen die Stabsoffiziere zu ihren Bataillonen, die Hauptleute zu ihren Kompagnien, die Leutnants zu ihren Zügen und die Unteroffiziere zu ihren Korporalschaften. Die drücken sich am deutlichsten aus: „Kerls, das sage ich Euch, wenn Majestät in seiner Gnade mir den Schweinehund machen sollte, weil einer von Euch einen schlechten Griff vom Stapel läßt, oder weil er sonst irgendwie unangenehm auffällt, dann gebe ich Euch den guten Rat, schießt Euch beizeiten tot, damit Ihr es hinterher nicht mehr nötig habt.”

Den „Kerls” schlottern die Knie; na, aber ganz so schlimm wird es schon nicht werden, und eins tröstet sie, ja noch mehr, eins läßt ihre Herzen freudig und höher schlagen, es geht in das Kaisermanöver, sie werden den Kaiser zu sehen bekommen. Gewiß, an der Parade nehmen sie ja leider nicht teil, aber trotzdem wird der Kaiser sich ihnen zeigen, oder das Gefecht wird sie in seine Nähe bringen, so daß er sie sehen muß und daß sie ihn sehen können. Selbst über die krummsten Burschen kommt so etwas wie wahre Soldatenbegeisterung, und die hält in den nächsten Tagen auch an, trotz der gewaltigen Bimserei, die jetzt losgeht. Der Dienst nimmt kein Ende; Griffe, Marsch und Wendung, Richtung, Fühlung, Vordermann, was es nur immer gibt, wird geübt, vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Und zwischendurch wird geflucht und getobt, wenn einmal etwas nicht klappt. Der ganze „Vorgesetzte” ist nervös, der Herr Oberst an der Spitze, und von dem Kopfe des Kommandeurs zieht sich die Nervosität bis in die Fußspitzen des jüngsten Unteroffiziers. Nur die Soldaten dürfen nicht nervös werden. Die müssen jederzeit ihr ruhiges Blut bewahren, damit sie sich bei den Griffen nicht vergreifen, damit sie nach der Kehrtwendung wie aus Marmor gemeißelt dastehen; keine Wimper darf zucken, kein Schulterblatt sich rühren, keine Fingerspitze sich bewegen.

Und es wird gebimst und gebumsen, bis es dann endlich in das Kaisermanöver geht. Eine endlos lange Eisenbahnfahrt bringt die Truppe in das Manövergelände. Endlich, nachdem man einen halben Tag und die ganze Nacht durchgefahren ist, kommt man an Ort und Stelle. Ein Adjutant wartet bereits, um den Befehl zu überbringen, die Brigade soll sofort den Vormarsch antreten.

Auf das Signal des Hornisten sind die Leute aus den Extrazügen herausgestiegen, haben sich die schweren Tornister umgehängt, den Helm auf den Kopf gesetzt, die Gewehre zur Hand genommen — ihretwegen kann es losgehen. Je eher, je lieber. Die Glieder sind von der langen Fahrt steif geworden, die Füße etwas angeschwollen, vom Schlafen war nicht die Rede, so ist der Kopf übernächtigt und wüst; na, das wird schon vorübergehen. Die Sonne steht hell am Himmel, es wird ein schöner, heißer Tag werden, und wenn die ersten Schweißtropfen fließen, dann werden die Gelenke schon wieder lose und der Kopf wieder frei werden.

Die Brigade tritt an, um dann endlich nach langem Marsch in das Gefecht einzugreifen. Schon während des Vormarsches hat alles nach dem Kaiser ausgespäht, jetzt tut man es erst recht, obgleich bekannt ist, daß der Kaiser sich heute bei der blauen Partei aufhält. Morgen will er zu den Roten kommen — morgen! Aber vielleicht kommt er trotzdem schon heute, es ist doch Kaisermanöver, da wollen die Leute ihren Kaiser doch auch sehen.

Aber der Kaiser kommt nicht. Morgen! Das Wort hält sie aufrecht. Die Sonne hat die Glieder und die Gelenke schon wieder geschmeidig gemacht, der Kopf ist frei. In hellen Strömen fließt der Schweiß, der Tornister drückt, die Füße schmerzen, vorwärts marsch. Der Feind geht zurück, die Verfolgung beginnt, es gilt, ihm womöglich den Rückzug zu verlegen. Eine stundenlange Umgehung ist erforderlich, bis dann endlich gegen Abend das Gefecht abgebrochen wird. Die Truppe erhält den Befehl, das Biwak zu beziehen. Nach weiteren zwei Stunden hat man den Platz erreicht. Man ist zum Umfallen müde, nur eine Begierde hält alle wach, der Hunger, der rasende Hunger. Und nun beginnt das Warten, bis die Proviantwagen kommen. Stunde um Stunde verrinnt, bis dann endlich — endlich —

Fast 10 Uhr ist es geworden, bis die Leute anfangen können, sich ihr Mittagessen zu kochen, und in die schönste Erbsensuppe hinein, wie der Blitz aus heiterem Himmel, erfolgt das Kommando: „An die Gewehre!” Der Feind greift an, die Suppe wird aus den Kochgeschirren auf die Erde geschüttet, die Kochgeschirre werden auf die Tornister geschnallt, das Gepäck wird umgehängt und dann los. Erst nach vier Stunden kommt man auf den Biwakplatz zurück. Die ausgegossene Suppe ist von der Erde aufgetrunken worden und die Proviantwagen sind abgefahren. Nur die Intendantur weiß wohin, aber kein Mensch weiß, wo die Intendantur ist. Mit leerem Magen legt man sich schlafen und mit einem noch leereren steht man wieder auf. Um 6 Uhr ist alles zum Abmarsch bereit und wartet auf den Befehl zum Antreten. Aber der Adjutant, der diesen Befehl überbringen soll, kommt nicht, man wartet und wartet, die Füße fangen an zu schmerzen, die Kniegelenke brennen, die müden Körper stützen sich schwer auf die Gewehre und auf die Degen und man hat nur den einen Wunsch: vormwärts, vorwärts. Aber es heißt trotzdem immer weiter zu warten, eine Stunde nach der anderen, bis dann endlich das Kommando kommt: „Brigade, Marsch!”

Gott sei Dank, Gott sei Dank! Mit steifgestandenen Gliedern tritt man an, man ist müde zum Umfallen, aber alles ist mit einem Male vergessen, als es plötzlich nach stundenlangem Marsch heißt: „Der Kaiser!”

Die Begeisterung kommt über die Truppe, wirklich echte Begeisterung. So hoch man nur kann, richtet sich ein jeder auf: Kopf in die Höhe, Brust heraus, das Gewehr richtig auf die linke Schulter gelegt, den Helm zurechtgerückt. Der Kaiser ist da! Der soll seine Freude daran haben, wenn seine Augen die Truppe sehen!

Aber der Kaiser sieht gar nicht hin. Von seiner glänzenden Suite gefolgt, den Träger der Kaiserstandarte hinter sich, galoppiert er dahin. Er ist viel zu weit entfernt, als daß man ihn erkennen kann, man weiß nur, der Kaiser ist da. Schon nach wenigen Minuten ist die glänzende Reiterschar verschwunden und müde klappen die Leute wieder in sich zusammen. Der Kopf sinkt auf die Brust, der Helm wird aus der Stirn geschoben, das Gewehr wieder bequem auf die Schulter gelegt und schwerfällig wird ein Fuß vor den anderen gesetzt, immer einer vor den anderen. Aus den Schritten, die sie zurücklegen, werden Meter und Kilometer und aus den Kilometern werden Meilen und es gibt immer noch kein Halt. Und dann mit einem Male wie aus der Erde gewachsen, ein Kavallerieregiment. Die Offiziere mit gezogenem Säbel voran, die Mannschaften mit eingelegten Lanzen hinterdrein, die Trompeten schmettern, die Rosse schnauben, die Lanzen klirren und dann, hurra, hurra, hurra!

Die Brigade ist, wie sich später bei der Kritik herausstellt, nicht durch eigene Schuld über den Haufen geritten, noch bevor sie daran denken kann, den Angriff zurückzuschlagen. Die Schiedsrichter kommen hinzu, gewiß, den General trifft nicht die leiseste Verantwortung, aber trotzdem ist die Brigade vorläufig außer Gefecht gesetzt und es heißt zurück. Zurück denselben langen Weg, den sie eben hiner sich hat.

Kehrt — Marsch! Noch tiefer sinken die Köpfe auf die Brust, noch nachlässiger wird die Haltung, die Füße gehorchen kaum noch mehr, aber was hilft das alles? Wieder wird ein Fuß vor den anderen gesetzt, immer einer vor den anderen und aus den Schritten und den Metern, die sie zurücklegen, werden Kilometer, und aus den Kilometern werden Meilen, bis dann endlich das Signal „Das Ganze halt” ertönt. Das Manöver ist zu Ende.

Wo ein jeder steht, wirft er sich auf die Erde, um gleich darauf einzuschlafen. Sie fühlen es nicht, daß die Körper auf harten, von der Sonne festgebrannten Erdschollen liegen, sie merken es gar nicht, daß ihnen die Sonne glühend heiß in das Gesicht scheint, sie schlafen wie die Toten.

Kaisermanöver! Und sie haben ihren Kaiser gar nicht gesehen! — —


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