Ein L'hombre-Abend.

Humoreske von Graf Günther Rosenhagen.
in: „Deutsches Heim” 19.Jahrgg. Nr.31 S. 493-494
(Sonntagsbeilage zur „Berliner Zeitung”) vom 5.5.1895,
in: „Humoresken” und
in: „Humoresken und Erinnerungen”


Bei meiner Tante Auguste war an jedem Dienstag Abend große L'hombre-Partie, und mit sehr gemischten Gefühlen entsprachen wir stets der Einladung. Für unsere Eltern gab es auf der ganzen, weiten Welt kein schöneres Vergnügen, als diese Spielabende, aber für uns Kinder waren sie der Inbegriff allen Schreckens. Vergebens war an solchen Tagen unser Bitten und Flehen, zu Hause bleiben zu dürfen, vergebens schützten wir Schularbeiten und Gott weiß welche andere Gründe vor, vergebens klagten wir über Kopf-, Hals- und Brustschmerzen, es war Alles umsonst, wir mußten hin, damit der Familiensinn in uns immer mehr geweckt und befestigt würde.

Mit dem Glockenschlag sieben Uhr überschritten wir die gastliche Schwelle oder richtiger gesagt, wurden wir über die Schwelle gezogen. Um sieben Uhr zehn Minuten begann die L'hombre-Partie, die mit dem Glockenschlag halb Zehn aufhören sollte, ich sage sollte, denn ich habe es nie erlebt, daß die Spieler pünktlich waren.

Während unsere Eltern in dem Spielzimmer saßen, unterhielten wir uns in dem großen Saal, der durch eine dicke Portière von dem Nebenzimmer getrennt war. Woran es lag, weiß ich nicht, aber sobald wir den Saal betreten hatten, war unsere ganze gute Laune verschwunden; selbst wenn wir uns noch so ernsthaft vorgenommen hatten, uns zu amüsieren und lustig zu sein, es ging thatsächlich nicht. Eine grenzenlose Oede und Leere starrte jedem Eintretenden entgegen, und doch war der Saal mit fürstlichem Luxus ausgestattet, und die uralten Tapeten, die Liebes- und Leidensgeschichten von Paul und Virginie darstellend, waren eine der größten Sehenswürdigkeiten unserer an Alterthümern und Schätzen überreichen Stadt.

Wir setzten uns auf das Sopha und auf die mit rothem Plüsch bezogenen Lehnstühle und sahen uns gegenseitig an; der Saal war immer kalt, mochte der Ofen auch noch so sehr glühen, und bei jedem Wort, das man sprach, erschrak man vor dem eigenen Athem und dem Hauch, in den man sofort gehüllt war. Deshalb sprachen wir lieber gar nicht , sondern dachten uns unser Theil.

Von Zeit zu Zeit kam Tante Auguste zu uns in das Zimmer gestürzt; sie war eine kleine, unendlich labhafte und redselige Person, die nicht einen Augenblick still sitzen konnte und keinen Satz und keine Bemerkung zu Ende sprach, weil ihr imzwischen schon immer wieder etwas Neues, unendlich Wichtiges einfiel.

„Kinnings, Kinnings, unterhaltet Ihr Euch aber auch gut?” war ihre stehende Redensart, mit der sie uns erfreute, und als gehorsame Neffen und Nichten, die wir waren oder wenigstens sein sollten, antworteten wir stets unisono: „Aber Tante Auguste, wie kannst Du nur denken, daß wir uns bei Dir nicht gut unterhalten!” Und erschrocken über den Klang unserer Stimmen schwiegen wir wieder, bis Tante Auguste von Neuem in der Thür erschien. Oft warteten wir ihre Frage gar nicht erst ab, sondern riefen ihr schon von Weitem die Antwort entgegen, und auf das Höchste verwundert, schüttelte die Gute dann ihre Locken: „Aber Kinnings, Kinnings, woher wißt Ihr denn, was ich Euch fragen wollte?”

Ebenso lebhaft wie bei uns wurde im Nebenzimmer die Unterhaltung geführt, man hörte keinen Ton, nur zuweilen verkündete Tante Augusten's Stimme: „Spadille, Manille und alle vier Mohren.” Mir waren und mir sind auch heute noch diese Worte böhmische Dörfer, aber sie müssen von großer Bedeutung für das Spiel sein, denn jedes Mal entspann sich nach dieser Ankündigung eine lebhafte Unterhaltung, begleitet von dem Klimpern der Geldstücke — Tante Auguste gewann immer, dafür war sie aber auch die Reichste in unserer ganzen Familie. Dann war wieder Ruhe im Land, bis die vier Mohren aus Venedig eine neue Verschwörung anzettelten.

Wir Kinder träumten indessen ruhig weiter und zauberten vor unser geistiges Auge die herrlichsten Dinge: Im Traum beantworteten wir alle Fragen unseres Lehrers, hatten den lateinischen Aufsatz schon fix und fertig und hatten die Gleichung mit den vier Unbekannten richtig gelöst. Alle zehn Minuten sahen wir nach der Uhr, es mußte doch einmal halb Zehn werden. Endlich tönte von dem nahe gelegenen Kirchthurm der Schlag, der uns Alle aus dem Halbschlaf erweckte, aber die Hoffnungen und Wünsche, die wir an diesen Augenblick knüpften, erfüllten sich nie. Die Spieler ließen sich nicht im Geringsten stören, wieder verging eine Viertelstunde nach der andern, meistens wurde es halb elf, häufig auch elf Uhr, bis wir zu Tisch gingen und vollständig ausgehungert, wie wir waren, über die gefüllten Schüsseln herfielen.

Um so größer war daher eines Abends unser Erstaunen, als mit dem Glockenschlag halb zehn in dem Nebenzimmer eine lebhafte Debatte entstand. Neugierig lauschten wir und unterschieden die Worte: „Hier bleiben, weiter spielen, Unsinn, nach Hause gehen, wer giebt,” und so ging es in buntem Durcheinander. Bei dem Gedanken, bald etwas zu essen zu bekommen, näherten wir uns freudig erregt dem Eingang und betheiligten uns als eifrige Zuhörer an dem Streit.

Der Fall, der entschieden werden sollte, war aber auch kein so ganz einfacher.

Meine Tante Bertha hatte ihrem Dienstmädchen befohlen, sie um halb zehn Uhr abzuholen, und was das Wichtigste war: sie hatte ihr fest versprochen, gleich mit nach Hause zu kommen und sie nicht warten zu lassen, denn das Mädchen war stark erkältet und bedurfte nach Aussage des Arztes der Ruhe. Um zehn Uhr sollte sie sich schlafen legen und eine tüchtige Portion Kamillenthee trinken.

„Was man verspricht, muß man auch halten,” erwiderte Tante Bertha auf alle Einwendungen, „wenn ich krank bin, pflegt mich mein Mädchen, und wenn mein Mädchen krank ist, pflege ich sie, das erfordert schon die Nächstenliebe. Unmöglich kann ich von ihr verlangen, daß sie bis zwölf Uhr hier sitzt und auf mich wartet.”

„Aber so laß doch das Mädchen ruhig nach Haus gehen und bleib Du doch hier, sie wird sich ihren Thee auch allein machen können.”

„Aber ich habe ja dann keinen Hausschlüssel, wie komme ich nun in das Haus?”

„Kannst Du denn die Thür nicht offen lassen?” fragte die Tante Auguste. Aber entsetzt wies Tante Bertha dies Ansinnen zurück, selbst am Tage war die gute Dame etwas ängstlich, und bei dem Gedanken, in später Abendstunde einen Hausflur zu betreten, der nicht verschlossen gewesen war und auf dem sich vielleicht Räuber, Mörder und Diebe ein Stelldichein gegeben hatten, sträubten sich ihre falschen Locken. Wollte man sie also zum Spiel dabehalten, so mußte ein anderer Ausweg gefunden werden.

„Wie wäre es, wenn Du das Mädchen ruhig zu Bett gehen ließest und hinterher an der Hausglocke klingeltest, sie könnte Dir dann ja öffnen?”

„Gewiß, wenn sie es hört, aber wenn sie es nun nicht hört —

„Aber sie muß es doch hören,” bestätigten die Andern.

„Ja, das sagt Ihr so,” entgegnete Tante Bertha, „aber es wäre doch möglich, daß sie es nicht hört und was dann? Soll ich denn die ganze Nacht vor meinem Hause auf- und abpatrouillieren, mein schönes Bett in erreichbarer Nähe wissen und es doch nicht benutzen können? Und selbst wenn sie es hört — aber sie hört es nicht, ich kenne sie, man kann eine Kanone neben ihrem Bett abfeuern und sie rührt sich nicht, höchstens denkt sie, wer schiebt denn nebenan mit einem Stuhl. — Aber selbst wenn sie es hört, soll sie denn aus dem warmen Bett in den eiskalten Flur? Den Tod kann sie sich dabei holen und auf den Grabstein müßten wir dann schreiben: sie starb an den Folgen eines L'honbre-Abends.”

„Ja, was machen wir denn nur?”

Vergebens sannen die Alten über eine Lösung dieser schwierigen Lage nach, und wir Jungen hofften, daß der Ausweg nicht gefunden würde, denn mit Tante Bertha's Fortgang war die L'hombre-Partie gestört und dem Abendessen stand dann nichts mehr im Wege.

Aber die Noth macht erfinderisch. Plötzlich schlug Tante Auguste sich in ihrer Aufregung mit beiden Händen so stark an den Kopf, daß sie mit einem lauten „Au ” hintenüber taumelte. Besorgt eilten wir auf sie zu, aber sie hatte in ihrer Erregtheit den Schmerz schon wieder vergessen.

„Ich hab's, ich hab's,” rief sie freudestrahlend, „daß wir auch nicht gleich darauf kommen konnten! I da ist doch nichts einfacher auf der ganzen Welt — wie weit ist die Welt eigentlich, das möchte ich doch gerne bei dieser Gelegenheit einmal erfahren,” sie wandte sich an uns, „nun, Ihr müßt es doch in der Schule gehabt haben, wieviel Quadratmeilen sind es denn? Weiß es Keiner? Nein, na, ich möchte überhaupt wohl wissen, womit Ihr Euch heut zu Tage in der Schule beschäftigt! Als ich noch jung war—”

„Aber Tante Auguste, Du sagtest doch, Du hättest einen Ausweg gefunden,” wurde sie endlich unterbrochen.

„I natürlich, hab' ich Euch den denn noch nicht mitgetheilt?”

Ein allgemeines Kopfschütteln war die Antwort.

„Seht Ihr wohl, das kommt davon, wenn Ihr mich nie aussprechen laßt! Na denn ruf mal fixings Liel.”

„Liel, Liel, wer ist denn Liel?” fragten wir erstaunt.

Erregt fuhr Tante Auguste in die Höh': ” Hab' ich Euch das noch garnicht erzählt? Nein, aber so was! Denkt Euch, ich habe heute Morgen mein früheres Mädchen fortgeschickt. Wißt Ihr warum? Denkt mal darüber nach. Nein, denkt lieber nicht darüber nach, Ihr kommt doch nicht auf den richtigen Grund. Oder vielleicht doch? Rathet einmal.”

„Aber Tante Auguste,” flehte meine Mutter. Meine gute Mutter war, wenn der Spielabend zu Ende, immer vollständig nervös und schwur jedesmal die heiligsten Eide, daß sie nie wieder ein Haus betreten würde, in dem man frühzeitig zu Tode gequält würde. Aber sie ging trotz aller gegentheiligen Versicherungen doch immer wieder hin, die Liebe zum L'hombre war bei ihr also entschieden stärker, als die Liebe zum Leben.

„Ach so, ja,” unterbrach sie Tante Auguste, „wer ist Liel? Warum ist sie noch nicht hier?”

„Weil wir sie noch nicht gerufen haben.” Einen Augenblick später erschien sie.

„Also Liel, mein Döchting,” meldete Tante Auguste síe an, „was ich Dir sagen wollte, nun wirf Dir mal ein Tuch um und setz Dich man fixings einen Hut auf, oder Du brauchst Dir auch keinen Hut aufzusetzen, so kalt ist es ja nicht, sind wohl nur zwei Grad Kälte. Aber gegen Abend wird es ja allerdings immer ein bischen kälter, na, dann setzt' Dir doch man lieber einen Hut auf, es ist ja schließlich auch einerlei, die Hauptsache ist nur, daß es schnell geht. Dann läufst Du mit Marie” — Marie war das Mädchen von Tante Bertha — „nach Haus, läßt Marie die Hausthür zuschließen und bringst dann den Schlüssel wieder mit. Verstanden? Ja? Na, dann mach' man zu und beeil' Dich auch ein bischen.”

Liel verschwand und Tante Auguste erntete für ihre Findigkeit von Allen das höchste Lob; auf diesen einfachen Ausweg war kein Anderer gekommen, und nachdem nunmehr die Angelegenheit zu Aller Zufriedenheit gelöst war, wurde die L'hombre-Partie zu unserem Entsetzen mit erneuten Kräften wieder aufgenommen. Wir Jungen kehrten auf unsere Plätze zurück, um den unterbrochenen Schlaf zu beenden.

Nach einer halben Stunde — Tante Auguste hatte uns gerade durch ihre Frage aufgescheucht, erschien Liel wieder und legte vor ihre Herrin ein großes roth- und weißkarrirtes Taschentuch hin. Vewundert starrte die Hausfrau sie an: „Was ist dies, was heißt dies, was bedeutet dies?” sprudelte es frei nach Fritz Reuter über ihre Lippen.

„Aber ich sollte doch den Schlüssel wieder mitbringen!” sagte das Mädchen kleinlaut.

„Gewiß, gewiß, aber wo ist er?”

Inzwischen hatte Tante Auguste schon das Tuch aufgeknotet und den Schlüssel, dessen Bart abgebrochen war, herausgenommen.

„Wie ist das möglich, wie ist das gekommen, erzähl',” herrschte ihre Herrin sie an.

„Ja, ja doch,” erwiderte das Mädchen weinerlich, „da kann ich ganz und wahrhaftig nix dafür. Marie hat, wie Frau Konsul mich das sagte, die Hausthür abgeschlossen und mich dann den Schlüssel von oben wieder zugeworfen, und dabei muß er sich denn abgebrochen sein.”

„Ist solche Dummheit wohl zu glauben?” brauste Tante Auguste auf. „Warum hast Du Marie denn nicht einfach in das Haus hineingehen lassen und hinter ihr abgeschlossen?”

Sprachlos schaute Liel ihre Herrin an, und das grenzenloseste Erstaunen malte sich in ihren Zügen. Endlich löste sich die Erstarrung, die sie ergriffen hatte, und mit dem Anzeichen der größten Bewunderung und Hochachtung sagte sie kopfschüttelnd: „Nee, nee aber auch, wie sind Frau Konsul einmal klug.”

„Erst muß ich einen neuen Schlüssel haben,” erklärte Tante Bertha auf das Bestimmteste, nachdem sie sich von ihrem Schrecken erholt hatte, „eher gehe ich nicht nach Haus,” und Liel wurde sofort zum Schlosser geschickt, der sich für schweres Geld bereit erklärte, den Schaden gleich zu repariren.

Die Uhr war Eins, als der Schlüssel erschien, und nachdem zum zehnten Male die unwiderruflich letzten drei Runden gespielt waren, war es fast zwei Uhr, als wir auseinandergingen.

Uns Jungen thaten die Kinnbacken so weh, daß wir garnicht mehr gähnen konnten, und nur mit Mühe vermochten wir uns noch wach zu halten.

„Na, habt Ihr Euch auch gut unterhalten?”

„Aber Tante Auguste, welche Frage!”

Dann gingen wir heim, aber unterwegs habe ich mir selbst einen Schwur geleistet, den ich auch gehalten habe. Von jenem denkwürdigen Abend an holte ich Tante Bertha zu jeder L'hombre-Partie ab. Die Gute vermochte sich meine plötzliche Liebe und Aufmerksamkeit garnicht zu erklären und sie ahnte nicht, daß meine Sorge viel weniger ihr als ihrem Hausthürschlüssel galt.


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© Karlheinz Everts