Die Hochzeitsreise

Von Freiherr von Schlicht
in: „Reclams Universum” Jahrgg. 38, Heft 44, Seite 537-540 und
Heft 45, Seite 549-551, vom 1.Aug. 1922 und
in: „Die Lore”


Der D-Zug Berlin—Halle—München, mit dem der trotz seiner erst fünfunddreißig Jahre schon rasend beschäftigte Rechtsanwalt Fritz Wohlert und seine junge Frau ihre leider nur für wenige Tage berechnete kurze Hochzeitsreise nach München antreten wollten, hatte in H., das nicht nur beinahe eine Großstadt, sondern zugleich ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt war, zehn Minuten Aufenthalt; so brauchten sie beide nicht gleich mit ihrem vielen Handgepäck in die erste beste offen stehende Tür eines der Korridorwagen zu steigen, um sich dann während des Weiterfahrens ihren Platz zu suchen, sondern sie konnten in aller Ruhe draußen den Zug entlanggehen und von dort in jedes Abteil hineinsehen, bis sie nun ein zufällig ganz leeres Halbkupee mit nur zwei Plätzen entdeckten, so daß die ebenso junge wie hübsche Frau Ilse ihrem Mann glückstrahlend zurief: „Fritz, an ein solches Glück habe ich nicht zu glauben gewagt. Sieh nur, dort sind wir allein und werden auch allein bleiben.”

Zärtlich drückte Frau Ilse, während der Kofferträger auf ihren Wink hin die beiden großen Handtaschen und die kleineren Sachen in das Abteil trug, den Arm ihres Mannes, aber anstatt daß der sich mit ihr gefreut und ihre kleinen Zärtlichkeiten erwidert hätte, schlug er sich nun plötzlich mit der Hand vor die Stirn, daß ihm fast der Hut heruntergefallen wäre, um ihr gleich darauf ganz entsetzt zuzurufen: „Um Gottes willen, das Telegramm nach Königsberg habe ich doch vergessen, aber das kommt nur von dem Heiraten; darüber vergißt man ja die wichtigsten Dinge.”

„Aber Fritz!” meinte die hübsche Frau Ilse halb lachend, halb gekränkt.

Doch ihr Mann hörte nicht auf sie, sondern bat: „Steig du nur schon ein, Ilse, ich selbst muß unbedingt noch das Telegramm aufgeben.”

Mit ihren beiden kleinen Händen umklammerte sie seinen Arm: „Fritz, bleibe bei mir, du hast ja zum Telegraphieren keine Zeit mehr.”

Ihr Mann lachte hell auf: „Beinahe noch sechs Minuten, und das nennst du keine Zeit? Solange brauche ich ja nicht einmal, um die Freisprechung eines Schwerverbrechers vor den Geschworenen zu erzielen. Also nimm schon Platz, Ilse, ich komme sofort zurück, das Telegraphenbureau ist ja gleich hier oben auf dem Bahnsteig.”

Da war er auch schon fort, und Frau Ilse nahm dem Wunsch ihres Mannes gemäß ihren Platz ein, schon um dadurch zu verhindern, daß vielleicht irgendein anderer Reisender auch nur den Versuch machen werde, in dasselbe Abteil einsteigen zu wollen. Und damit nicht etwa einer der draußen auf dem Korridor Vorübergehenden es täte, begann sie gleich damit, das eine und das andere aus ihrer Handtasche herauszunehmen und es auf die beiden Sitze zu legen, bis sie nun plötzlich ganz entsetzt halblaut aufschrie und gleichzeitig völlig fassungslos auf einen der Sitze fiel, denn jetzt merkte sie es erst: der Zug hatte sich langsam und lautlos in Bewegung gesetzt. Der Zug fuhr, und ihr Mann, ihr über alles geliebter Fritz, war nicht bei ihr! Der mußte mit der Aufgabe des Telegramms nicht rechtzeitig fertig geworden sein, und der Zug war ohne ihn abgefahren. Aber nein, gestand sie sich gleich darauf, das war unmöglich und undenkbar. Ihr Mann war ganz bestimmt im Zuge, er war im letzten Augenblick vielleicht nur in einen anderen Wagen, dessen Tür noch offen stand, eingestiegen und würde nun den Korridor entlanggehen, bis er sie hier nach wenigen Minuten gefunden hatte.

Und wie süß und wie schön würde dann der erste Kuß nach der ersten, wenn auch nur kurzen Trennung während ihrer Ehe schmecken.

Auf diesen Kuß freute sie sich nun so, daß sie sich beinahe wünschte, es möge ziemlich lange dauern, bis ihr Fritz sich seinen Weg durch alle die vielen Mitreisenden, die da draußen herumstanden, gebahnt habe, damit die Freude des Wiedersehens dann von seiner Seite womöglich noch größer als die ihrige. Doch als ihr Fritz dann immer und immer noch nicht kam, fing sie abermals an, nervös und unruhig zu werden, bis plötzlich eine innere Stimme zu ihr sagte: Dein Fritz kommt auch nicht mehr. Gerade als er aus dem Bahnpostamt wieder auf den Bahnsteig trat, ist ihm der Zug vor der Nase davongefahren.

Die hübsche Frau Ilse war trotz ihrer Jugend alles andere als unselbständig, unerfahren oder gar dumm, aber trotzdem verlor sie bei dieser Erkenntnis, die da eben über sie kam, vollständig den Kopf und nicht nur das, sie brach in leidenschaftliche Tränen aus und fragte sich immer wieder: was nun? Was nun, denn so etwas war doch wohl noch nie oder doch wohl nur selten vorgekommen, daß eine junge Frau ihre Hochzeitsreise oder wenigstens einen Teil derselben allein ohne ihren Mann machte.

Bis sie sich gleich darauf eingestand: daran bist du aber ganz allein schuld. Warum hast du deinem Fritz erlaubt, das Telegramm noch aufzugeben, oder warum bist du da nicht mit ihm gegangen?

Nun fuhr sie allein auf ihre Hochzeitsreise, allein, ohne ihren Fritz, und würde ihre Hochzeitsnacht damit verbringen, in ihrer Einsamkeit die bittersten Tränen zu vergießen.

Und bei dem Gedanken an alle die Tränen, die sie heute nacht weinen würde, weinte sie schon jetzt so herzzerbrechend vor sich hin, daß sie es ganz überhörte, als der Schaffner bei ihr eintrat, um sich ihre Fahrkarte auszubitten.

„Aber ich habe doch keine,” stotterte sie, als sie endlich begriff, um was es sich handelte, entsetzt und erschrocken zugleich, „unsere beiden Billetts hat doch mein Mann in seiner Paletottasche.”

„Und wo finde ich Ihren Herrn Gemahl, gnädige Frau?” erkundigte sich der Beamte liebenswürdig. „In einem Raucherabteil oder im Speisewagen?”

„Mein Mann ist doch gar nicht mitgekommen,” schluchzte Frau Ilse verzweifelt auf, und dann erzählte sie dem Schaffner alles, nur nicht, daß sie sich ohne ihren Fritz auf der Hochzeitsreise befände, denn das brauchte der ja nicht zu wissen.

Schon durch ihre Tränen gerührt, hörte der Schaffner ihr voller Aufmerksamkeit zu, bis er schließlich meinte: „Das tut mir Ihretwegen aufrichtig leid, gnädige Frau, aber ohne eine Karte kann und darf ich Sie nicht fahren lassen. Sie müssen unbedingt ein Billett nachlösen, den Betrag für das andere erhalten Sie natürlich von der Eisenbahndirektion zurückerstattet, Sie brauchen es nur einzusenden und dabei zu erwähnen, daß Sie es aus diesem und jenem Grunde nicht benutzt haben.”

Aber die hübsche Frau Ilse hörte in ihrem Kummer und in ihrer Verzweiflung kaum auf das hin, was der freundliche Beamte ihr da alles erklärte, sondern sie suchte zunächst in ihrer großen Handtasche, dann in ihrer kleinen und schließlich in ihrer Manteltasche nach Geld, aber dann fiel es ihr plötzlich ein, sie hatte ja so gut wie gar kein Geld bei sich. Die Reisekasse hatte natürlich ihr Fritz und sie selbst hatte nicht einmal fünfzig Mark bei sich.

„Ja, gnädige Frau, das reicht bei den heutigen Preisen natürlich nicht annähernd, nicht einmal für die dritte Klasse, am allerwenigsten für die erste, die Sie benutzen,” meinte der Schaffner kopfschüttelnd, um dann hinzuzusetzen: „Da wir keine vierte Klasse im Zug haben, wird wohl leider nichts anderes übrigbleiben, als daß Sie das Billett nur bis zur nächsten Station, auf der wir halten, also bis Naumburg nachlösen und daß Sie von dort entweder wieder nach Hause fahren, oder daß Sie sich dorthin telegraphisch Geld schicken lassen, wenn Sie dort nicht in einem Hotel auf Ihren Herrn Gemahl warten wollen, bis der Sie abholt.”

„Aber der weiß doch gar nicht, daß ich dort habe aussteigen müssen,” jammerte Frau Ilse.

„Dann müßten Sie ihm natürlich irgendwie Nachricht geben, gnädige Frau, vorausgesetzt, daß Ihr Herr Gemahl nicht von allein so klug ist —”

„Bitte sehr, mein Mann, ein sehr gesuchter Rechtsanwalt, ist sogar ganz außerordentlich klug,” nahm Frau Ilse ihren Fritz in Schutz.

„Um so besser, gnädige Frau, dann wird Ihr Herr Gemahl es sich allein sagen, daß Sie ohne Fahrkarte und ohne Geld nicht nach München fahren können, sondern daß Sie auf der ersten Station ausgestiegen sind und dort auf ihn warten. Da brauchen Sie ihm also nicht einmal zu telegraphieren.”

„Das hätte auch kaum einen Zweck, denn ich wüßte gar nicht, an welche Adresse ich das Telegramm senden sollte,” meinte Frau Ilse, die sich bei dem Gedanken, daß ihr Fritz sie sicher in Naumburg vermutete und dort noch heute mit ihr zusammentreffen würde, allmählich wieder etwas beruhigte.

Doch der Schaffner fand keine Zeit, auf ihre letzte Bemerkung etwas zu erwidern, denn plötzlich erschien zur Kontrolle ein höherer Beamter in Begleitung des Zugführers, denen der Schaffner den vorliegenden schwierigen Fall in allen Einzelheiten meldete und die dann beide auch ihrerseits der jungen hübschen Frau, die ihnen ebenfall leid tat, nach besten Kräften mit ihren Ratschlägen zur Seite standen, ganz besonders, nachdem Frau Ilse ihnen nun doch halb lachend, halb weinend erzählt hatte, sie habe erst heute vormittag um elf Uhr geheiratet und befände sich jetzt ganz mutterseelenallein auf ihrer Hochzeitsreise.

Frau Ilse unterhandelte mit den drei Beamten, die für sie und ihre schwierige Lage ein solches Interesse bezeigten, daß sie darüber die anderen Reisenden ganz vergaßen, daß sie sich nur mit ihr unterhielten, daß sie ihr alle drei in Naumburg bei dem Aussteigen behilflich waren und daß sie alle Frau Ilse dem Bahnhofsvorsteher warm an das Herz legten, damit der ihrem Manne, wenn der mit dem nächsten Zug nachkam und nach ihr fragte, gleich jede gewünschte Auskunft geben und ihm mitteilen könne, daß seine junge Frau auf ihre Empfehlung hin in dem Hotel Atlantik abgestiegen sei.

Frau Ilse war wenigstens vorläufig versorgt und aufgehoben, aber trotzdem fragte sie sich natürlich immer wieder: was mag mein guter Fritz nur machen und wie mag der sich nach mir sehnen? Und dann fragte sie sich weiter: was mag er nur gesagt haben, als er nach Aufgabe des Telegramms wieder auf den Banhsteig trat und dort sah, daß der Zug ohne ihn abgefahren war?

Aber ihr Fritz hatte da zunächst gar nichts gesagt, sondern lediglich eine ganze Weile mit einem ihm sonst absolut nicht liegenden fürchterlich dummen Gesicht vor sich hingestarrt, bis er sich endlich wieder auf sich selbst besann, um gleich darauf auf den ihm persönlich bekannten Bahnhofsvorsteher mit der Frage zuzustürzen: „Wann geht der nächste Zug nach München?”

„Morgen vormittag um acht Uhr zwanzig,” lautete die Antwort.

Anstatt auf den Tisch, der nicht da war, schlug der Rechtsanwalt dröhnend mit der Faust in die Luft. Dann aber brauste er auf: „Das geht nicht, das geht unter gar keinen Umständen. Ich habe in einer privaten Angelegenheit in München ganz außerordentlich wichtig zu tun und da kann ich doch nicht einfach gezwungen werden, das, was vorliegt, zu versäumen, und das einzig und allein, weil erst wieder in sechzehn Stunden, oder wie lange es sonst ist, ein Zug geht. Eine solche Bummelei ist einfach unerhört, ich werde die Eisenbahndirektion auf dem Klagewege dafür verantwortlich und schadenersatzpflichtig machen.”

Daß er das nicht könne, sah er, kaum nachdem er es ausgesprochen, natürlich selbst ein, aber trotzdem hatte sein Schelten etwas genützt, denn der Vorstand meinte: „Wenn es Ihnen nicht darauf ankommt, Herr Rechtsanwalt, einen kleinen Umweg zu machen, und wenn Sie den Bummelzug benutzen wollen, können Sie schon heute abend elf Uhr vierzig fahren. Viel Zweck hätte das allerdings nicht, denn eher als mit dem morgen früh fahrenden Schnellzug kämen Sie auch nicht an. es hätte für Sie nur den Vorteil, daß Sie hier nicht erst wieder zu übernachten brauchten. Jetzt aber entschuldigen Sie mich bitte, der Dienst ruft.”

Was nun? fragte sich der Rechtsanwalt, als er wieder allein war, und dann fragte er sich, wo er hier übernachten solle, wenn er erst den Morgenzug benutzte? Allein, ohne seine junge Frau, in seiner Wohnung, damit es morgen die ganze Stadt wußte, er habe seine Hochzeitsnacht allein in seinen vier Wänden gefeiert? Das war ausgeschlossen, schon damit nicht morgen mittag an allen Stammtischen faule Witze über ihn gerissen würden. Es blieb also nur eins, er mußte sich bis zum Abend mögllichst unsichtbar machen und dann doch den Bummelzug benutzen, damit er hier wenigstens in der Nacht nirgends gesehen wurde. Aber nein, entschied er sich plötzlich, ich werde doch morgen früh den Schnellzug benutzen, aber die Nacht unter gar keinen Umständen hier in der Stadt verbringen, sondern in —

Um diese schwierige Frage zu entscheiden, zog er sein Kursbuch aus der Tasche, und wenig später war sein Entschluß gefaßt. Es ging in kaum zwei Stunden ein Bummelzug bis Jena. Den wollte er benutzen, schon damit er gleich heute möglichst weit von Hause fortkäme, dann in Jena übernachten und von dort aus morgen mit dem D-Zug nach München weiterfahren. Allerdings würde das Übernachten ohne den Schlafanzug und ohne alle Toilettesachen seine Unannehmlichkeiten haben, aber es mußte einmal ausnahmsweise auch so gehen, denn seine große Handtasche, die augenblicklich mit seiner Ilse nach München fuhr, konnte er ja leider nicht herbeizaubern.

Aber ja, triumphierte er gleich darauf, das konnte er doch. Nichts auf der ganzen Welt war einfacher, und dann bekam er nicht nur sein Gepäck, sondern namentlich seine geliebte kleine Ilse schon heute wieder. So stürzte er erneut in das Telegraphenzimmer und gab dort eine dringende Depesche auf: Frau Rechtsanwalt Wohlert im D-Zug Nr. 46 Berlin-Halle-Münschen, Abt. I. Klasse Nichtraucher. Station Jena. Bitte Jena aussteigen und mich im Hotel Atlantik erwarten. Bin heute abend neun Uhr siebenunddreißig dort. Hurra! Dein Fritz.

Dieses Telegramm würde bei der Ankunft des Zuges in Jena auf dem Bahnsteig laut usgerufen werden und nicht nur das, der Beamte würde auch durch den ganzen Zug gehen und in jedes Abteil hineinrufen: „Dringendes Telegramm für Frau Rechtsanwalt Wohlert.” Da mußte seine Ilse es also erhalten.

Und Frau Ilse hätte das Telegramm auch todsicher bekommen, wenn sie nicht schon in Naumburg ausgestiegen wäre und wenn in diesem Falle Naumburg nicht vor Jena gelegen hätte.

So aber saß Frau Ilse in ihrem Hotel in Naumburg und wartete weinend und schluchzend auf ihren Fritz, der nicht gekommen war, den aber rührte beinahe der Schlag, als er bei seiner Ankunft in dem Jenaer Hotel erfuhr, daß seine Ilse nicht da sei, obgleich ihr Zug doch bereits vor Stunden angekommen war, und zwar, wie er auf Befragen erfuhr, ganz pünktlich, denn der hatte dem Hotel andere Gäste gebracht.

Dafür aber, daß seine Ilse nicht da war, gab es, als sich der Rechtsanwalt das ihm zunächst völlig Unverständliche in Ruhe überlegte, nur eine Lösung: Die Ilse war, obglich sie das Telegramm erhalten, nach München weitergefahren, um ihn dadurch dafür zu bestrafen, daß er zum Abgang ihres gemeinsamen Zuges nicht pünktlich wieder zur Stelle gewesen war und sie hatte allein abfahren lassen Das sollte er nun damit büßen, daß sie ihn wenigstens während des ersten Tages ihrer Hochzeitsreise allein ließ.

Mit dieser für ihn ja allerdings sehr wenig erfreulichen Erkenntnis war er endlich, nachdem er sich stundenlang ruhelos in den Kissen herumgewälzt, im Begriff einzuschlafen, als er im letzten Augenblick mit einem jähen Ruck emporfuhr und sich, aufrecht in seinem Bett sitzend, sagte: „Nein, die Ilse ist nicht nach München gefahren, das konnte sie gar nicht, den eben fällt es dir erst wieder ein, du hast ja ihr Billett in deinem Paletot, und zum Überfluß hatte sie dir auch noch ihr ganzes Geld gegeben, damit es ihr bei diesen traurigen und unsicheren Zeiten nicht vielleicht doch irgendwie gestohlen würde.

Nein, bis München ist sie nicht durchgefahren,” entschied er, nachdem er ich nochmals alles ruhig überlegt hatte, „folglich gibt es nur zweierlei: entweder hat Ilse unterwegs irgendwo aussteigen müssen und ist von da aus mit dem nächsten Zug wieder zu ihren Eltern zurückgefahren, oder Ilse hat im Zug zufällig irgendeinen Bekannten gefunden, der sich ihrer annahm und ihr das nötige Reisegeld zur Verfügung stellte.”

Wo war seine Ilse und wo fand er sie wieder? Sollte er am Vormittag auf gut Glück nach München fahren, um dort vielleicht zu erfahren, daß seine Frau noch nicht angekommen sei, oder um dort vielleicht nur ein Telegramm des Inhaltes vorzufinden: Erwarte dich voller Ungeduld bei meinen Eltern, zu denen ich gleich gestern zurückfuhr und bei denen ich abgestiegen bin, da ich in unsere Wohnung, zu der du die Schlüssel hast, nicht hinein konnte.

Nein, ehe er nach München fuhr, mußte er erst wissen, ob seine Ilse auch bestimmt dort sei. So schickte er denn bei Morgengrauen ein dringendes Telegramm nach München an das Hotel Atlantik, in dem er für sich und seine Ilse schon längere Zeit Zimmer bestellt hatte. Die Depesche lautete: Erbitte Jena, Hotel Atlantik, telegraphisch dringende Rückantwort, ob meine Frau bei Ihnen eingetroffen. Wenn ja, bitte ihr mitzuteilen, daß ich heute abend sieben Uhr zwölf D-Zug dort eintreffe.

Und dann schickte er zur Vorsicht ein anderes Telegramm an seinen Schwiegervater, den Geheimrat Wangenheim in H.: Erbitte Jena, Hotel Atlantik, dringende telegraphische Rückantwort, ob Ilse bei Euch oder ob Euch ihr sonstiger augenblicklicher Aufenthalt bekannt. Alles andere mündlich. Fritz.

Aber dieses Telegramm war nicht das einzige, das der Herr Geheimrat und seine Gattin erhielten. Gerade, als der Bote mit dieser Depesche die Treppen zu ihnen hinaufstieg, kam ein anderer Bote die Treppe herunter, und der hatte ihnen auch ein Telegramm überbracht, das aber lautete: Brauche umgehend telegraphisch dringend wenigstens fünfhundert Mark, am liebsten tausend, nach Naumburg, Hotel Atlantik. Alles andere mündlich. Eure zum Sterben unglückliche Ilse.

„Da haben wir es ja,” wetterte der sehr cholerisch veranlagte pensionierte Herr Geheimrat, der gerade mit seiner Gattin beim Morgenkaffee saß, „da haben wir es. Nun bekomme ich, der da immer prophezeite und behauptete, Ilse würde mit ihrem Mann kreuzunglücklich werden, schon jetzt recht. Aus dem Telegramm geht klar hervor, daß es schon gestern unmittelbar nach der Abfahrt zwischen den beiden nicht nur zu einem Zwist, sondern zu einem vollständigen Bruch gekommen sein muß, der eine Ehescheidung zur Folge haben wird. Handelte es sich lediglich um einen kleinen Streit, wie er selbst zwischen ganz jungen Eheleuten vorzukommen pflegt, wäre die Ilse doch natürlich nicht in Naumburg ausgestiegen.”

„Aber wie ist es nur möglich, daß ihr Mann unser Kind hat aussteigen lassen, daß er es nicht mit Gewalt zurückhielt?” schluchzte die Frau Geheimrat fassungslos unter Tränen.

Darauf wußte der Herr Geheimrat zunächst keine Antwort, dann aber fiel sie ihm ein: „Die Sache ist doch furchtbar einfach, Mathilde,” klärte er seine Frau auf. „Unmittelbar nach dem Streit, nein, nach dem Bruch, wird sich ihr Mann mit seiner Zigarre in ein Raucherabteil oder in den Speisewagen gesetzt haben, um seiner Frau, unserer Ilse, wie er das sicher nannte, Zeit zu lassen, sich wieder auf sich selbst zu besinnen und um das Unrecht, in dem sie sich nach seiner Überzeugung befand, einzusehen. Na, und als er dann nach einer ganzen Weile wieder zu unserer Ilse zurückging, um es ihr dadurch zu erleichtern, ihn um Verzeihung zu bitten, mußte er es einsehen, daß unser Kind sich glücklicherweise doch nicht alles von ihm gefallen läßt, denn da war Ilse schon ausgestiegen, und zwar in Naumburg, ohne daß er etwas davon bemerkt hätte.”

Und gleichfalls zur Bekräftigung dieser Annahme kam in diesem Augenblick das zweite Telegramm mit der Anfrage ihres Schwiedersohnes: Wo ist Ilse?

„Na, wie stehe ich nun da, obgleich ich sitze?” triumphierte der Geheimrat, als er das Telegramm seines Schwiegersohnes gelesen hatte. „Es ist genau wie ich sagte. Ohne zu ahnen, daß Ilse ausgestiegen war, ist der Herr Rechtsanwalt ruhig weitergefahren, hat erst in Jena bemerkt, daß die Ilse fehlt, und telegraphiert nun wahrscheinlich schon seit vielen Stunden nach allen Himmels­richtungen, um sie wiederzufinden.”

„Und hoffentlich wirst du ihm nun gleich Ilses Adresse telegraphisch mitteilen,” warf seine Frau, immer noch in Tränen aufgelöst, ein.

Aber der Herr Geheimrat richtete sich stolz auf und erklärte: „Nein, das werde ich nicht tun. Du weißt, im Gegensatz zu dir bin ich von Anfang an gegen diese Ehe gewesen und habe nur sehr schwer meine Einwilligung gegeben. Ich hätte es viel lieber gesehen, wenn Ilse den Regierungsrat Pfannschmitt aus dem Ministerium erhört hätte. Na, vielleicht geht dieser mein Wunsch doch noch in Erfüllung, wenn diese Ehe erst wieder geschieden worden ist, denn, daß es zwischen den beiden, wie ich es schon einmal sagte, nicht zu einem kleinen Streit, sondern zu einem ernstlichen und nicht wieder heilbaren Bruch gekommen ist, unterliegt für mich keinem Zweifel. Oder hast du es schon einmal gehört, Mathilde, daß ein junges Ehepaar sich bereits während der Hochzeitsreise trennt?”

„Nein,” schluchzte Frau Mathilde, und sie wollte noch manches andere sagen, aber sie brachte kein Wort weiter über ihre Lippen.

Dafür aber war der Herr Geheimrat vollständig Herr der schwierigen Situation und erklärte kategorisch: „Ich habe mir die Sache eben überlegt und mein Entschluß ist gefaßt. Unserem sauberen Herrn Schwiegersohn werde ich telegraphieren: „Ilses Aufenthalt ist mir zwar bekannt, verweigere jedoch darüber jede Auskunft. Alles Weitere, namentlich Einleitung sofortiger Scheidung, behalte ich mir vor.” Mit unserer Ilse aber spreche ich persönlich. Ich gehe gleich zur Bank und hole mir dort noch Geld, obgleich es mir schleierhaft ist, wofür unsere Ilse soviel gebraucht. Dann fahre ich mit dem nächsten Zug nach Naumburg und komme mit unserem Kind zurück. Alles Weitere findet sich dann.”

Sobald er gefrühstückt und sich angezogen hatte, machte sich der Geheimrat auf den Weg und begab sich zunächst zur Post. um dort ein dringendes Telegramm nach Jena aufzugeben.

Eine reichliche Stunde später hatte der Rechtsanwalt das in Händen, und trotz der verzweifelten Stimmung, in der er sich befand, mußte er über die ihm angedrohte Einleitung der Ehescheidung hell auflachen, denn zu einer solchen lag doch wirklich keine Veranlassung vor. Dann aber schimpfte er gotteslästerlich, daß sein Schwiegervater ihm die Adresse seiner Frau vorenthielt. Was lag da vor und wie sollte er sie nun erfahren? Selbst ein erneutes, noch so ausführliches Telegramm wäre, wie er es genau im voraus wußte, bei dem alten Geheimrat völlig zwecklos. Deshalb gab es nur eins, er mußte seinen Schwiegervater in einer persönlichen Aussprache ganz einfach zwingen, ihm zu verraten, wo seine Fau sei. Vielleicht, nein hoffentlich und sehr wahrscheinlich traf er die Ilse ja auch bei ihren Elter an.

Doch ein Blick in das Kursbuch belehrte ihn darüber, daß in den nächsten Stunden kein Zug nach H. ging. Aber wenn auch kein Zug geht, sagte er sich plötzlich, so fährt doch ein Auto. Mit dem konnte er, wenn er dem Chauffeur ein hohes Trinkgeld versprach, und wenn der wie der Teufel darauflos fuhr, in drei Stunden an Ort und Stelle sein. So setzte er sich denn gleich mit einem Fuhrgeschäft telephonisch in Verbindung, bewilligte, ohne zu handeln, den geforderten wahnsinnigen Preis und sauste eine halbe Stunde später auf der Chaussee dahin.

Der Chauffeur fuhr nicht nur wie ein Teufel, sondern wenigstens wie ein dreifacher, trotzdem aber dauerte die Fahrt länger, als er es angenommen, und als er, der Herr Rechtsanwalt, dann endlich vor dem Hause seiner Schwiegereltern hielt und atemlos die Treppe hinaufstürmte, traf er weder den Geheimrat noch seine Ilse an, sondern nur seine Schwiegermutter, die bei seinem unerwarteten Anblick beinahe in Ohnmacht fiel, bis sie ihm dann gestand, daß ihr Mann nach Naumburg gefahren sei, um ihr Kind wieder nach Hause zu holen. Als Dank für diese Mitteilung erwartete sie natürlich, ihr Schwiegersohn würde ihr ausführlich erzählen, was es denn zwischen ihm und der Ilse gegeben habe, doch der rief ihr als Antwort nur ein „nichts” zu, dann stürmte er die Treppe wieder hinunter, warf sich in das Auto und befahl dem Chauffeur: „Los, nach Naumburg!”

„Nanu?” meinte der verwundert, „der Herr sind wohl Detektiv und hinter einem Verbrecher her?” Und vergnügt grinsend setzte er hinzu: „So 'ne Fahrt habe ich mir schon lange gewünscht, wenn ich es im Kientopp sah, wie Webbs(1) im Auto hinter einem Verbrecher herjagte.”

Eine Minute später fuhr das Auto los, um bald darauf, als die Chaussee erreicht war, in einem Tempo dahinzusausen, daß dem Rechtsanwalt zuweilen etwas sonderbar zumute wurde, weil er sich sagte: Wenn ihr die Geschwindigkeit beibehaltet, kann die Sache unmöglich gut ablaufen. Es braucht nur ein Reifen zu platzen, dann saust ihr in den Graben und brecht euch beide erbarmungslos das Genick. Deshalb war er auch wiederholt drauf und dran, dem Chauffeur zuzurufen, er möchte wenigstens etwas langsamer fahren, aber der hätte bei der vermeintlichen Jagd, die sie auf einen Verbrecher machten, doch nicht auf ihn gehört, denn der schien es sich in den Kopf gesetzt zu haben, die wildeste Autofahrt, die er jemals im Kino gesehen, jetzt in der Wirklichkeit noch weit zu überbieten. Außerdem aber sah er selbst es leider zu spät ein, daß es vorhin wohl praktischer und ratsamer gewesen wäre, nicht gleich darauflos zu fahren, sondern erst einen Augenblick bei der Post haltzumachen und seiner Frau nach Naumburg in einem dringenden Telegramm zu melden, daß er auf dem Wege zu ihr sei und daß sie seine Ankunft im Hotel unbedingt abwarten solle, denn was dann, wenn der Geheimrat Schwiegervater etwa vor ihm dort eintraf und seine Ilse wieder mit nach Hause nahm? Das aber, nachdem die Ilse ihm alles erzählt hätte, natürlich nicht, um die Scheidungsklage gegen ihn anzustrengen, sondern einfach, weil er ihr erklären würde, gib die Hoffnung auf, mein Kind, auf dieser Hochzeitsreise triffst du mit deinem Mann doch nicht mehr zusammen.

Aber er, der junge Ehemann, wollte mit seiner Frau zusammentreffen. So erhob er sich jetzt von seinem Platz und rief dem Chauffeur, anstatt ihn zu ermahnen, langsamer zu fahren, mit der ganzen Kraft seiner Lunge zu: „Los zum Donnerwetter, los, wir kommen ja nicht von der Stelle. Schalten Sie meinetwegen die tausendste Geschwindigkeit ein, aber nur vorwärts, vorwärts, sonst kommen wir sicher zu spät.”

Und der junge Ehemann kam sogar viel zu spät, denn anstatt gegen Mittag kam er erst am Nachmittag vor dem Hotel in Naumburg an, denn zu einer guten Autofahrt gehört ja nun einmal bekanntlich immer wenigstens eine Panne und er hatte sogar eine gründliche gehabt, dessen [sic! D.Hrsgb.] Beseitigung auf offener Landstraße beinahe zwei Stunden in Anspruch nahm.

Nun hielt er aber glücklich vor dem Hotel, und mit einem Satz sprang er heraus, um dem ihm zur Begrüßung entgegenkommenden und ihm längst persönlich bekannten Wirt ohne weiteres zuzurufen: „Auf welchem Zimmer ist meine Frau?”

„Auf gar keinem,” lautete die Antwort, „die Frau Gemahlin ist vorhin mit dem D-Zug nach München abgereist.”

Einen Augenblick stand der Rechtsanwalt da, als sollte ihn der Schlag rühren, dann aber sprang er mit einem großen Satz wieder in das Auto und rief dem Chauffeur zu: „Ankurbeln — losfahren — München.”

Aber der Chauffeur streikte und erklärte bestimmt und energisch, das ginge nicht, das hielte der Motor, den er vorhin nur notdürftig zusammengeflickt, nicht aus.

„Ja, was mach ich denn da aber?” fragte der Rechtsanwalt ganz verzweifelt, nachdem er wieder aus dem Auto herausgeklettert war. Dann erkundigte er sich: „Wo ist denn mein Schwiegervater, der Herr Geheimrat?”

„Der ist, als er Ihre Frau Gemahlin nicht mehr antraf, bereits um zwei Uhr siebenundzwanzig beruhigt wieder nach Hause gefahren, da ich in der glücklichen Lage war, ihm jede gewünschte Auskunft zu geben.” Und die gab der liebenswürdige Wirt nun auch ihm, als er bald darauf bei seinem Essen und bei einer guten Flasche Wein saß. Da erfuhr der junge Ehemann, warum seine Ilse gestern in Naumburg ausgestiegen sei und hier übernachtet habe, warum sie den Eltern telegraphierte und warum sie Geld erbat, bis der Wirt dann fortfuhr: „Ich kenne Sie doch schon lange Jahre, Herr Rechtsanwalt, und wußte doch auch, daß Sie gestern heirateten. Infolgedessen fiel es mir natürlich gleich auf, als gestern abend eine Frau Rechtsanwalt Dr. Wohlert bei mir abstieg, und als ich dann heute früh durch meine Angestellten von dem Telegramm Kenntnis erhielt, das die Dame nach H. absandte, suchte ich sie auf und bot ihr meine Hilfe an. Da erzählte die gnädige Frau mir ihr Mißgeschick und wie Sie sicher schon längst in München wären und sie voller Ungeduld erwarteten, während sie selbst hier bei mir, weil sie kein Geld hätte, festsäße. Natürlich stellte ich ihr sofort jeden Betrag, den sie sich nur wünsche, zur Verfügung, und ohne das von Hause erbetene Geld erst abzuwarten, ist sie dann mit dem ersten Zug zu Ihnen nach München gefahren, und ich selbst habe sie zur Bahn begleitet.”

„Das haben Sie, wie Sie jetzt hoffentlich selbst einsehen, ganz außerordentlich schlau gemacht, Verehrtester,” meinte der Rechtsanwalt nicht ohne Ironie.

„Das habe ich auch, Herr Rechtsanwalt,” verteidigte sich der Wirt, „denn daß Sie jetzt plötzlich bei mir angeautelt kämen, konnte ich doch unmöglich wissen. Aber nun erzählen Sie mir bitte, wie Sie denn eigentlich hierherkommen.”

Das tat der junge Ehemann denn auch, und als er von dem Telegramm sprach, das er an die Eltern seiner Frau sandte, erinnerte er sich plötzlich wieder der dringenden Depesche, die er am frühen Morgen an das Münchener Hotel schickte und dessen Antwort er nicht abgewartet hatte. Na, daß seine Ilse, als seine Anfrage in München einlief, noch nicht dort war, wußte er ja jetzt, und so war es schließlich auch ganz gleichgültig, was die Leute zurücktelegraphierten. Trotzdem aber ließ er sich jetzt für alle Fälle telephonisch dringend mit dem Hotel in Jena verbinden, und als er den Anschluß hatte, ließ er sich von dem Wirt, den er dazu ermächtigte, das inzwischen für ihn eingelaufene Telegramm vorlesen. Das aber lautete: Frau Gemahlin noch nicht eingetroffen, könnten aber weder sie allein noch Sie beide heute bei uns aufnehmen, da wir gestern abend zwölf Uhr vergebens reservierte Zimmer infolge großen Andrangs anderweitig fortgeben mußten. Raten, Reise vorläufig zu verschieben, wegen starken Fremdenandranges.

„Aber seine Hochzeitsreise kann man doch nicht verschieben, man ist doch beinahe gesetzlich verpflichtet, die im unmittelbaren Anschluß an seine Hochzeit zu machen,” tobte der Rechtsanwalt, der erregt im Zimmer auf und ab lief, bis er dem Wirt nun zurief: „Das ist ja eine schöne Geschichte! Meine Frau kommt heute abend in München an, findet mich im Hotel nicht vor und findet dort auch keine Unterkunft. Da muß die Ärmste vielleicht noch stundenlang im Auto von einem Gasthof zum anderen oder von einem Pensionat zum anderen fahren, bis man sie schließlich irgendwo aufnimmt. Und wenn ich ihr dann nachgereist bin, kann ich erst alle Gasthäuser und alle Pensionate absuchen, bis ich meine Frau endlich gefunden habe, und wenn mich das Pech weiter so verfolgt wie bisher auf unserer Hochzeitsreise, finde ich meine Frau schließlich in einem christlichen Hospiz in einem kleinen Zimmer mit einem Bett, und ich muß mich vielleicht erst als Ehemann legitimieren, bis man mir erlaubt, auch nur die Schwelle des Zimmers zu überschreiten. Und legitimieren kann ich mich nicht, denn ich habe meinen Trauschein vor meiner Abreise meinem Bureauvorsteher zur Aufbewahrung übergeben. Also was macht man da? Halt,” triumphierte er, „ich hab's. Ebenso wie gestern an den Zug nach Jena, schicke ich nun ein dringendes Telegramm an die Station Nürnberg, daß meine Frau dort aussteigen und mich im Hotel Atlantik erwarten soll. Damit ich dann aber nicht lediglioch auf gut Glück hinterherfahre, sondern sie dort auch wirklich treffe, bitte ich meine Frau, mir sofort dringend hierher zu telegraphieren, daß sie meine Depesche erhielt und daß sie den Zug auch tatsächlich in Nürnberg verlassen hat.” Und voller Ungeduld setzte er hinzu: „Wo ist das Kursbuch? Wann ist der Zug in Nürnberg, und wann kann ich ihr nachfahren?”

„Das weiß ich zufällig aus dem Kopf,” gab der Wirt zur Antwort, „der Zug ist heute kurz vor sechs in Nürnberg, und Sie selbst können, wenn Sie nicht morgen früh mit dem D-Zug fahren wollen, heute abend neun Uhr dreizehn den Bummelzug benutzen, erreichen in Saalfeld den Schnellzug und sind morgen gegen fünf Uhr an Ort und Stelle.”

„Schön ist etwas anderes,” knurrte der Rechtsanwalt vor sich in, dann aber fügte er sich, um nicht noch einen weiteren Tag seiner ohnehin so kurzen Hochzeitsreise zu verlieren, in die miserable Verbindung. Zehn Minuten später ging das dringende Telegramm zur Station Nürnberg und dieses Mal erhielt Frau Ilse auch die Depesche, und eine halbe Stunde vor Abgang seines eigenen Zuges hielt der Rechtsanwalt die Rückantwort in Händen: Bin Nürnberg ausgestiegen, wohne Hotel Atlantik.

Mit dem Bummlzug fuhr der Rechtsanwalt am Abend seiner jungen Frau nach, und so voller Ungeduld wie er an jenem Abend ist wohl kaum je zuvor ein Reisender nach Nürnberg gefahren.


Fußnoten:

(1) „Stuart Webbs” war der Held einer Kriminalfilm-Serie, die zwischen 1913 und 1929 entstand. Siehe dazu den Artikel „Stuart Webbs” auf Wikipedia.de. (Zurück)

ReclamsUniversum-1.jpg
„Reclams Universum” XXXVIII, 42

zurück zur

Schlicht-Seite