Heimkehr.

Erzählung aus dem Offiziersleben von Graf Günther Rosenhagen
in: „Hamburger Nachrichten”, belletristisch-literarische Beilage, vom 24.3., 31.3. und 7.4.1895 und
in: „Point d'honneur”.


In den Räumen des Marine­offiziers­kasinos herrschte heute ein besonders reges Leben und Treiben. Galt es doch ein letztes Zusammensein mit den Kameraden, die morgen in aller Frühe schon den Hafen verlassen und die Reise nach Australien antreten sollten, um die dort seit mehreren Jahren auf S.M.Schiff „Jacht” stationierten Offiziere abzulösen. Drei Jahre sollte voraussichtlich das Kommando dauern, es konnte kürzer, es konnte aber auch länger werden und man war bemüht, die Kameraden zu trösten und ihnen über die wenigen, ihnen hier noch zur Verfügung stehenden Stunden hinwegzuhelfen. Selbst der leidenschaftlichste Seemann tritt nur schweren Herzens eine längere Reise an, ist er erst an Bord und läßt sich den Wind um die Nase wehen, dann ist alles wieder gut. Aber der Abschied! So arm ist niemand, daß er nicht doch noch ein Herz besitzt, das in Liebe und Treue seiner gedenkt und den Augenblick des Wiedersehens herbeisehnt. Drei Jahre! Es ist eine lange, lange Zeit, wie oft zertrümmert nicht schon eine einzige Minute alle unsere Hoffnungen und Erwartungen, was kann, was wird sich nicht alles in drei Jahren ereignen? Man weiß, was man beim Abschied zurückläßt, wer aber kann sagen, was man noch vorfindet? Unruhe und Ungewißheit um das Schicksal unserer Lieben ergreifen uns, wir möchten die Zukunft ergründen können und doch wie glücklich sind wir nicht in unserer Ahnungslosigkeit, getragen von der nie erlöschenden Hoffnung.

An dem unteren Ende der Tafel hatten sich die jüngeren Offiziere mit ihren gleichaltrigen scheidenden Freunden zusammengesetzt und laut und lustig ging die Unterhaltung dort hin und her. Nicht, als ob nicht auch sie sich des Ernstes des Augenblicks bewußt gewesen wären, als ob sie sich leichtsinnig und sorglos von ihren Lieben trennten, aber es war nun einmal nicht möglich, ernst zu bleiben, wenn der allgemein beliebte Mannsfeldt die Unterhaltung an sich gerissen hatte. Das war immer der Fall, sobald die Kameraden zusammen waren; sein nie versiegender Humor, seine unerschöpfliche Phantasie, sein Sinn für alles Komische und Heitere, seine unglaubliche Zungenfertigkeit und das vollendete Mienenspiel, mit dem er jedermann genau zu kopieren verstand, ließen die Anwesenden stets bald verstummen und ihm mit dem größten Vergnügen zuhören. Er war der erklärte Liebling aller, die ihn kannten, immer heiter und lustig, er nahm alles, was ihm entgegenkam, von der leichten Seite und war doch weit davon enternt, leichtsinnig zu sein. Wider den Willen seines Vaters hatte er nach vollendeter Maturitäts­prüfung die Seemannscarriere ergriffen, aber der eiserne Fleiß, den er entwickelt, die vorzüglich absolvierten Examina, das Lob, die hohe Anerkennung und die vielfachen Auszeichnungen, die ihm zu teil wurden, hatten den Vater allmählich mit dem Beruf seines Sohnes ausgesöhnt und ihn endlich mit Stolz und Freude auf sein einziges Kind blicken lassen.

Auch jetzt lehnten sich die Zuhörer in ihren Stühlen zurück und wahre Lachsalven waren es, die Mannsfeldt für die soeben vollendete, meisterhafte Schilderung eines kleinen Erlebnisses belohnten.

„Mannsfeldt, Menschenskind, wie kommst du nur auf so blödsinnige Einfälle?” fragte endlich einer der Kameraden und die Antwort nicht abwartend, fügte er hinzu: „Wie werden wir dich alle vermissen. Von dem Tage an, da wir zusammen als Seekadetten eintraten bis heute hin bist du uns ein allezeit treuer und lieber Freund gewesen. Beliebt wie kaum einer, hast du es verstanden, uns über so manche traurige, ernste Stunde hinwegzuhelfen. Wir werden dich alle entbehren, deiner stets in treuester Anhänglichkeit gedenken und den Tag herbeisehnen, da du wieder unter uns weilst. Laß es dir hiermit gesagt sein, vielleicht freust du dich, es aus meinem Munde zu hören, wenn nicht, so war es wenigatens gut und ehrlich gemeint.”

In Mannsfeldts noch vor kurzem lustigem, fröhlichen Gesicht zuckte es gar eigentümlich.

„Kinder, ich bitte euch, macht mir das Herz nicht schwerer als es mir so wie so schon ist! Ich bin ein Seemann mit Leib und Seele, ich kenne kein herrlicheres Vergnügen als auf dem Wasser zu sein, mit keinem Fürsten möchte ich tauschen. Aber verwünscht sei der Mensch, der das Wort ,Abschied' ersann! Mir graut's, wenn ich nur daran denke. Oft schon bin ich hinausgefahren, gar manchesmal habe ich im Hafen schon den Anker gelichtet auf lange Zeit, aber noch nie wurde mir die Trennung und der Abschied so schwer wie jetzt. Woran es liegt, vermag ich nicht zu sagen, vielleicht ist die letzte Rückkehr daran schuld, daß mir jetzt bei dem Worte ,Abschied' das Blut in den Adern erstarrt.”

Mannsfeldt schwieg und sah in Gedanken versunken vor sich hin, auch die Freunde schwiegen und wagten nicht, ihn in seinen Träumen zu stören. Wußten sie doch, wo seine Gedanken weilten. Als er zum letztenmal hinausgefahren war, nur auf kurze Zeit, nur auf dreiviertel Jahr, hatte er seinen Vater in strotzender Gesundheit, in rüstiger Kraft verlassen. Mit einem Scherzwort auf den Lippen hatten sie sich getrennt, und dennoch war das Unglaubliche geschehen. Ein Herzschlag machte dem Leben des im besten Alter stehenden Mannes ein Ende, und als der Sohn heimkehrte, hatte er nur den Erdhügel küssen können, der des Vaters Grab bedeckte. Und noch ein Wunderbares war geschehen: der Vater hatte in derselben Stunde die Augen geschlossen, da der Sohn fern der Heimat mit einem Kameraden, der sich im Jähzorn an ihm vergriffen, mit den Waffen in der Hand auf Leben und Tod kämpfte, dieselbe Stunde, die das Leben des Sohnes beschirmt, hatte dem Leben des Vaters ein Ende gemacht.

„Weine nicht, Mannsfeldt,” bat ein älterer Kamerad und legte tröstend seine Hand auf die Schulter des Freundes, „fasse Mut und laß den Kopf nicht sinken. Viel ist dir noch geblieben. Du hast noch eine Mutter, um die wir dich alle beneiden, die beste, die edelste der Frauen, die die Erde trägt.”

Mit einer gewaltsamen Bewegung kämpfte Mannsfeldt seine Erregung nieder: „Ich danke dir für deine Worte, daß du mich an die Mutter erinnerst, sie aber gerade ist es, um die ich mich sorge, für die ich fürchte! Auch sie ist nicht mehr jung, des Vaters plötzlicher Tod hat sie zu sehr erschüttert, eine innere Stimme sagt mir, daß ich auch sie nicht wiedersehen werde.”

„Aber Mannsfeldt, wie magst du nur so etwas denken und sagen! Noch nie fand ich deine Mutter wohler als gerade jetzt.”

Von allen Seiten redete man auf ihn ein, man versuchte ihn zu trösten und seine Sorgen zu verscheuchen, aber es währte gar lange, bis die Wolken von seiner Stirn wichen und er wieder ganz der Alte war.

„Und nun, Kinder, laßt uns den Abschiedstrunk trinken, das letzte Glas! Ihr wißt, ich kann nicht länger bleiben, so gerne ich auch noch unter euch weilte. Aber der letzte Abend gehört der Mutter, sie würde es mir nie verzeihen, wenn ich nicht käme — und nun das letzte Glas: Auf ein frohes, glückliches Wiedersehen!”

Auf einen Zug leerte er den vor ihm stehenden großen Pokal, der bis oben hin mit perlendem Champagner gefüllt war, tiefaufatmend setzte er ihn wieder nieder: „Und nun lebt wohl, gedenket mein, wie ich eurer stets gedenken werde.” Die Freunde umringten ihn, um noch ein letztes Wort, einen letzten Händedruck mit ihm zu wechseln, aber gewaltsam brach er sich Bahn und eilte hinaus. Er hätte es nicht fertig gebracht, ohne Rührung von ihnen Abschied zu nehmen, und er durfte nicht weich sein, wenigstens heute abend nicht, seine Mutter durfte nicht merken, wie schwer ihm die Trennung wurde.

Er legte mit Hilfe der Ordonnanz Mütze und Säbel an und betrat durch den Kasinogarten die Straße. Er hatte erst wenige Schritte gemacht, als er sich bei Namen rufen hörte und eilige Schritte hinter sich vernahm. Er wandte sich um und erblickte seinen Kameraden Kroener, der gleich ihm ins Ausland kommandiert war und morgen früh mit ihm zusammen die Reise antrat.

„Hast auch du dich losgerissen?” fragte Mannsfeldt, während sie zusammen den Weg von dem außerhalb der Stadt gelegenen Kasino zu dieser hin einschlugen, „sie meinen es so gut, die lieben Jungen, und sie ahnen nicht, wie schwer sie einem das Herz machen.”

Eine Weile schritten sie schweigend nebeneinander her, jeder mit seinen Gedanken bei den Kameraden weilend, dann fragte Mannsfeldt plötzlich:

„Und wo willst du den heutigen Abend zubringen?”

„Bei dem guten Doktor, bei wen sonst? Du weißt, es sind die einzigen Menschen, die sich meiner stets mit wahrhaft rührender Liebe und Anhänglichkeit angenommen haben.”

„Und was wird schön Agnes, des Doktors liebreizendes Töchterlein, zu dem Abschied sagen?”

„Wie kommst du zu dieser Frage?”

„Nun, nun,” lachte Mannsfeldt, „werde nur nicht böse. Wie ich darauf komme? Sehr einfach, man munkelt allerlei.”

Kroener war stehen geblieben und stampfte zornig mit dem Fuß auf die Erde: „Es ist ein infames Klatschnest, nichts kann mnan hier geheim halten.”

„Oho, lieber Freund,” neckte Mannsfeldt, „die Sache fängt an, interessant zu werden, also nun heraus mit der Sprache, was kann man nicht geheim halten?”

„Nun, wenn du es denn doch schon halb und halb weißt — ich habe mich gestern mit Elsbeth verlobt.”

„Menschenkind, und das sagst du mir erst jetzt! Glaubst du wirklich, diese Unterlassungssünde dereinst vor Gott und den Menschen verantworten zu können? Es ist unglaublich, verlobt sich der Mensch und sagt mir, seinem besten Freunde, nicht ein einziges Wort! Na warte, mein Junge, das will ich dir aber gedenken. Nun aber komm an mein Herz und laß dir gratulieren,” und unbekümmert um etwaige neugierige Blicke drückte er den Freund an sich.

„Weißt du, mein Lieber,” begann Mannsfeldt, als sie ihren Weg weiter fortsetzten, „ich beneide dich und doch wiederum freue ich mich, daß ich nicht an deiner Stelle bin. Versteh mich recht. Welch schöneres Glück kann dir der Himmel bescheren als eine Braut, und kein anderer Mensch hat ein eigenes Nest so nötig, wie der Seemann, wenn er von einer langen Reise heimkehrt! Aber eine ungünstige Stunde ist es, nach meiner Meinung, in der du dich verlobtest: eine lange, lange Trennung steht euch bevor. Ist es recht von dir, jetzt ein Mädchen an dich zu ketten, mußtest du nicht warten, bis du zurückgekehrt warst?”

Ueber des Freundes Gesicht flog ein glückseliges Lächeln: „Was du mir da sagst, habe auch ich mir selbst vorgeworfen. Wer aber kann die Liebe zurückhalten, wenn sie mit aller Gewalt in uns hinaufsteigt? Wer kann das? Und wenn es wirklich jemand vermöchte, so beseelt ihn nicht jene heiße, leidenschaftliche Liebe, die, ohne die Vernunft sprechen zu lassen, alles für sich fordert. Wer selbst im Augenblick der höchsten Liebe mit dem Verstande rechnet und überlegt, der liebt nicht.”

„Lieber Freund, wenn es so mit dir bestellt ist, verzeih mir meine Worte,” bat Mannsfeldt, „und erlaube mir, daß ich mit dir deiner Braut meine Aufwartung mache, um auch ihr meinen Glückwunsch zu Füßen zu legen. Noch eine Viertelstunde habe ich Zeit, bis ich meine Mutter bei den Verwandten treffe, laß mich sie mit dir und den Deinen zusammen verleben.”

Sie hatten die Stadt erreicht und bogen nach wenigen Minuten von der Hauptstraße in eine Nebengasse, die in steilem Abfall nach der Wohnung des Doktors führte. Bald gelangten sie an das Häuschen, das mitten in einem, im üppigen Rosenschmuck prangenden Garten lag. Sie durchschritten den mit Kies sauber bestreuten schmalen Weg und eine Sekunde später durchschrillte der helle Ton der elektrischen Glocke das Haus. Ein Mädchen kam, um die Thür zu öffnen und die beiden Freunde stiegen die breite Treppe hinauf, die zu den Wohnzimmern der Doktorfamilie führte. Mit einem Freudenschrei stürzte schön Agnes, wie die im lieblichsten Schmuck der Jugend und Schönheit blühende Tochter allgemein hieß, dem Verlobten entgegen, aber sie verstummte plötzlich und eine flammende Röte überflutete ihr Gesicht, als sie neben ihrem Bräutigam des Fremden ansichtig wurde.

„Brauchst dich nicht zu ängstigen,” lachte Kroener, indem er die noch immer Verlegene an sich zog und einen Kuß auf ihre Stirn drückte, „es ist ein guter Freund, von dem ich dir schon viel erzählte, der Mannsfeldt, der lustige Bruder, mit dem ich mich nun drei Jahre unter uncivilisierten Männern und Frauen herumtreiben soll.”

Sie reichte ihm freundlich die Hand: „Ich danke Ihnen, daß Sie noch in der letzten Stunde zu uns kommen. Ich freue mich, den Genossen und Begleiter meines Verlobten doch noch persönlich kennen zu lernen, zumal Sie mir aus seinen Erzählungen und Schilderungen schon lange nicht mehr unbekannt sind.”

„Wie Sie mir, mein gnädiges Fräulein,” erwiderte Mannsfeldt lachend. „Schon auf der Marineschule schnitzte Kroener dem strengen Verbot entgegen Ihren Namen in sämtliche Tische und Bänke, auf dem Schulschiff war ,Agnes' das einzige Wort, das wir zuweilen von ihm zu hören bekamen, und als wir auf dem Mittelmeer zusammen einen Orkan bestanden, wären wir beinahe Ihretwegen alle untergegangen und aus der Verlobung wäre dann leider Gottes nichts geworden.”

„Meinetwegen?” fragte sie erstaunt und ungläubig.

„Ja, hat er das Ihnen denn nie erzählt? Vergebens suchten wir zu ergründen, was das sonst so seetüchtige Schiff so wenig widerstandsfähig mache, endlich hatten wir es erblcikt. Im Zwischendeck stand eine Riesentonne, die war bis oben gefüllt mit den Thränen, die er Ihretwegen vergossen, sie wogen zu schwer.”

„So, nun hör' aber auf,” bat Kroener, und Elsbeth sagte mit einem lächelnden Blick zu ihrem Verlobten:

Eine Viertelstunde später verließ Mannsfeldt, von allen Bewohnern bis an die Gartenpforte begleitet, die Wohnung des Doktors und eilte dem Haus seiner Tante, der einzigen Schwester seines verstorbenen Vaters, zu. Dort wollte er mit seiner Mutter zusammentreffen und gemeinsam wollten sie den letzten Abend mit den Verwandten verleben. Gar sonderbar hatte ihn das kurze Zusammensein mit seinem Freunde und dessen glückstrahlender Braut berührt, er konnte die Erinnerung an die lachenden, im seligsten Glück und ernster Freude strahlenden Gesichter nicht bannen, immer wieder stiegen sie vor seinem geistigen Auge auf. Ein ihm bisher gänzlich unbekanntes und fremdes Gefühl bemächtigte sich seiner. Das des Neides. Warum ist nicht auch dir ein solches Glück beschieden? Das war die Frage, die sein Innerstes beschäftigte. Wie schön, wie unsagbar schön mußte es sein, sich im Besitz einer über alles geliebten Braut zu befinden, zu wissen, daß es auf der Welt ein Wesen gab, das nichts anderes dachte und sann, als nur des Geliebten. Er schalt sich undankbar, hatte er denn nicht seine Mutter, die außer ihm keinen Gedanken hatte, die sich nur mit ihm und seinem Wohlergehen beschäftigte? Genügte die Mutterliebe ihm plötzlich nicht mehr, daß er sich nach einer Braut sehnte? Sein Freund war elternlos, er bedurfte eines Wesens, das ihn liebte. Aber hatte er nicht selbst noch die Mutter, konnte ihn jemand noch tiefer, noch inniger lieben, giebt es auf der Welt noch eine Liebe, die dieser gleicht oder sie sogar übertrifft?

Tief in Gedanken versunken hatte er den Weg, den er in der letzten Zeit fast täglich gegangen war, zurückgelegt, er hatte auf nichts geachtet, ja, selbst die Grüße seiner bekannten nicht erwidert und war erstaunt, als er plötzlich aufsehend bemerkte, daß er schon am Ziele sei. Es war ein altes Patrizierhaus, von außen unansehnlich und des künstlerischen Schmuckes entbehrend, das in keiner Weise erwarten ließ, wie viele große, schöne Räume und welchen Reichtum an alten kostbaren Sachen es in seinem Innern barg.

Eilig durchschritt er die große weite, mit mächtigen Quadersteinen ausgelegte Vordiele.

„Meine Mutter schon hier?” fragte er das bei dem Oeffnen der Hausthür herbeieilende Mädchen, während er Mantel, Säbel und Mütze an dem in die Wand eingeschlagenen Garderobenhalter aufhing.

„Die gnädige Frau ist noch nicht gekommen.”

„Und wo sind die Damen?”

„Ich glaube im Garten, ich werde sofort nachsehen.”

Aber Mannsfeldt winkte sie zurück.

„Lassen Sie nur, ich werde sie schon allein finden. Aha, da sind sie ja schon.”

Von der großen Hausdiele aus führte eine Glasthür in den Garten, der zwar nicht groß, aber reinlich und sauber gehalten, mitten in der Stadt ein viel beneideter Besitz war. Schon durch die Glasscheiben sah Mannsfeldt das Kleid einer Dame schimmern.

Mit wenigen eiligen Schritten durchmaß Mannsfeldt den kleinen Garten und befand sich einen Augenblick später seiner Cousine gegenüber. Sie saß in einer dicht zugewachsenen Kastanienlaube und schien sein Kommen überhört zu haben. Das Buch, in dem sie gelesen, war achtlos ihrer Hand entglitten und lag zu ihren Füßen. Sie hatte den schönen, von tiefschwarzem Haar dicht umrahmten Kopf auf die schlanke weiße Hand gestützt, während sich ein unbeschreiblich wehmütiger Schmerz in ihren selten großen, braunen Augen widerspiegelte. Betroffen blieb Mannsfeldt bei ihrem Anblick stehen, noch nie war ihm seine Cousine so schön erschienen, wie in diesem Augenblick. Sie stand nicht mehr in der ersten Jugend, sie zählte achtundzwanzig Jahre und ihre einstige strahlende Schönheit, durch die sie alle Welt entzückt und bezaubert hatte, war fast verblichen. Was aber auch die Zeit ihr nicht hatte rauben können, war der wundervolle Glanz ihrer Augen, in denen sich ihre ganze Seele widerzuspiegeln schien und die seltsamerweise desto glänzender und feuriger wurden, je mehr ihre Sehschärfe infolge einer früheren Krankheit abnahm.

Er hatte sich der noch immer unbeweglich Dasitzenden leise genähert und klopfte sie auf die Schulter. Mit einem leichten Aufschrei fuhr sie zusammen: „Ernst, du?”

Ihre Stimme zitterte, eine jähe, fahle Blässe überzog ihr Gesicht, ihre schlanke, zarte Gestalt bebte und ihre Augen füllten sich mit Thränen.

„Nanu,” fragte er erstaunt, „auch bei dir Thränen, wohin ich heute komme, weinen die Menschen, selbst mein guter Bursche, ein ebenso dummer wie braver Kerl, brüllt schon den ganzen Tag, sag' was bedeutet dies, ist irgend ein Unglück geschehen, sprich, weswegen weinst du, kann ich dir helfen?”

Er hatte seinen Arm um ihre Schultern geschlungen und wollte ihr scherzend die Augen trocknen, aber sie wehrte ihm ab.

„Laß, Ernst, laß.”

Er ließ die erhobene Hand niedersinken und sah sie verwundert an.

„Ilse, ich bitte dich, sag' mir, weswegen du weinst?”

Da sah sie ihn an mit einem Blick, in dem eine Welt von Liebe lag und leise sprach sie: „Ernst, weißt du es denn wirklich nicht, weshalb ich traurig bin?”

Von seinen Augen fielen die Schuppen: War er denn blind gewesen all die Jahre, sie liebte ihn und er war jahraus jahrein neben ihr hergegangen, ohne etwas davon zu bemerken? Mächtig stürmte der Gedanke auf ihn ein, sein Herz begann unruhig zu schlagen, ihre Blicke ließen sein lebhaftes Blut rascher fließen, — war es Wahrheit, was sich ihm hier bot? Des Freundes Glück stieg wieder vor seiner Seele auf, sollte auch ihm ein solches grenzenloses Glück beschieden sein? Schwer nur fand er Worte.

„Ilse, ich bitte dich, sag', weinst du, weil ich von dir gehe, weinst du — weil du mich liebst?”

Zögernd und unsicher klang die Frage, aber mit einem Freudenschrei umfaßte sie den Geliebten und schlang ihre Arme um seinen Hals.

„Ja, Ernst, ich liebe dich. Seit Jahr und Tag denke ich nur an dich, ich liebe dich mit der ganzen Kraft meiner Seele, ich liebe dich, wie nur immer ein Weib einen Mann lieben kann. Und nun sag' auch du mir, daß du mich liebst, daß der Traum, den ich seit vielen Jahren träume, sich nun doch noch erfüllt, daß das Glück, das ich mir, ach so lange schon ersehnte, nun mir doch noch zu teil wird, sag' mir, daß auch du mich liebst.”

Sie hatte ihn zu sich herabgezogen, sie bedeckte sein Gesicht und seinen Mund mit glühenden, flammenden Küssen; ihr heißer Atem, der berauschende Duft ihres Haares, die Leidenschaft und die schrankenlose Hingabe, die aus ihren Blicken sprach, ließen das Blut in seinen Schläfen hämmern.

„Ja, Ilse, ich liebe dich, wie sehr, das weiß ich erst seit diesem Augenblick. Wahrlich, lange hat es gedauert, bis ich erkannte, was ich in dir besitze, daß du mir mehr bist als meine Cousine, meine treueste Freundin, daß du das Weib bist, nach dem ich mich schon so lange vergeblich umgeschaut habe, daß du mein Ein und Alles bist — meine Braut.”

Seligen Antlitzes, mit verklärten Zügen, lauschte sie ihm:

„Deine Braut — wie süß das klingt. O, sag' mir noch einmal das schöne Wort, laß es noch einmal an mein Ohr erklingen, das Glück ist zu groß, als daß ich es fassen und begreifen könnte. Sag' mir noch einmal, daß du mich liebst.”

Er war aufgesprungen und hatte sie in stürmischem Verlangen umschlungen:

„Ja, Ilse, ich liebe dich, du meine herzallerliebste kleine Braut.”

Ein Wonneschauer durchdrang ihren Körper, in seligem Vergessen lehnte sie ihren Kopf an seine Brust und duldete willenlos seine stürmischen Liebkosungen.

Da nahten Schritte, die beiden Liebenden lösten sich aus ihrer Umarmung und gingen Hand in Hand den Kommenden entgegen: es waren die beiden Mütter, die schon im ganzen Hause vergeblich nach ihren Kindern gesucht hatten.

„Also hier finden wir euch endlich,” tadelte scherzend und mit dem Finger drohend Frau von Mannsfeldt ihren Sohn, während dieser zuerst seiner Mutter und dann seiner Tante zärtlich die Hand küßte, „aber Kinder, wie seht ihr denn aus, was ist hier vorgefallen?”

Ernst ergriff Ilses Hand, die er für einen Augenblick losgelassen, und trat mit ihr vor seine Mutter hin:

„Mutter, freue dich über das Glück deines Sohnes — wir haben uns soeben verlobt.”

Ilse hatte sich an die Brust ihrer Mutter geworfen und sie mit beiden Armen umschlungen: „Mutter, so ist es doch noch wahr geworden, was wir so lange ersehnt haben, auch dein innigster Wunsch ist erfüllt — Ernst gehört mir, wie ich ihm.”

Aus das höchste erschrocken und verwirrt stand Frau von Mannsfeldt neben ihrem Sohne, jede Farbe war aus ihrem Gesicht verschwunden und schwer ging ihr Atem: „Ernst, ist dies alles ein Scherz oder ist es Wahrheit, was du sprichst?”

„Mutter, es ist mein Ernst. Viele, viele Jahre bin ich blind gewesen, nun aber, noch zur rechten Zeit, bin ich sehend geworden. Ja, ich liebe Ilse und ich habe mich mit ihr verlobt, wir haben uns gefunden, um uns nie wieder zu lassen. Gieb auch du uns deinen Segen und sage mir, daß du meine Wahl billigst.”

Lange sah die Mutter forschend in die Augen ihres Sohnes; dann endlich sprach sie: „Du weißt, ich kenne und liebe Ilse wie meine Tochter und glücklich der Mann, der sie dereinst heimführt, er könnte keine Bessere erwählen! Für dich und mich aber hätte ich eine andere Braut gewünscht: zu nahe sind wir einander bekannt und verwandt, neues Blut und neues frisches Leben muß durch die Ehe in das Haus des Mannes kommen. So hätte ich zu dir gesprochen, wenn du mich vorher um meinen Rat befragt hättest, nun aber, da ich der vollendeten That gegenüberstehe, gebe ich euch meinen Segen: Schweren Herzens, ich gestehe es offen, sehe ich euch vereint vor mir stehen, aber das Glück, das aus euren Augen spricht, heißt die Stimme der Vernunft, die sich in mir regt, schweigen. So werdet denn so glücklich, wie ihr es erhofft und verdient, und möchtet ihr nie diese Stunde bereuen.”

Aber während sie ihre Hände segnend auf das Haupt ihrer Kinder legte, die vor ihr niedergekniet waren, sah sie trüben Blickes in die Zukunft und sie sah düstere Wolken sich am Horizont auftürmen.

*         *         *

Die anstrengende Arbeit, die verschiedenen Eindrücke, die fremde Länder und anders gesittet, anders lebende Menschen auf den empfänglichen Sinn ausüben, dazu die freundliche, gastfreie Aufnahme bei den Deutschen draußen, die nur zu froh sind, die Landsleute an ihrem Tisch zu sehen, hatten die Jahre in rasch wechselnden Bildern verstreichen lassen. Auch das Kommando zur Rückkehr war eher erfolgt, als die Freunde in ihren kühnsten Träumen zu hoffen gewagt hatten — man war auf der Heimreise, bevor das Bewußtsein der langen Trennung auf den Gemütern lastete und das Heimweh drückend geworden war. Seit vier Tagen lag S. M. S. „Jacht” nun schon vor Malta, um frische Kohlen zu übernehmen. Auch hier war das Schiff mit feuriger Begeisterung und aufrichtiger Freude begrüßt worden. Die englischen Kameraden, die auf der Insel stationierten und nur zu dankbar für die geringste Abwechslung auf dem langweiligen Eiland waren, hatten die Heimkehrenden mit offenen Armen empfangen. Die vier Tage hatten sich zu ebenso vielen Festen gestaltet und Offiziere wie Mannschaften des heimatbewimpelten Schiffes stimmten in der seligen Erwartung auf die Lieben als die Fröhlichsten in den Freudentaumel ein.

Ein großes Gartenfest in dem Hause eines Deutschen, der selbst vor vielen Jahren in der deutschen Marine als Einjähriger gedient hatte und nun hier als reicher, angesehener Handelsherr ansässig war, hatte die Reihe der Festlichkeiten beschlossen und noch in der Nacht sollte die Weiterreise stattfinden. Die Boote waren unter dem nicht endenwollenden Jubel der Bevölkerung von Land abgestoßen, um die Offiziere wieder an Bord ihres Schiffes zu bringen.

Kroener und Mannsfeldt verließen als die Letzten das Festland und betraten wenige Minuten später ihre gemeinsame Koje.

„Und ein Narr bist du doch,” schloß Kroener soeben eine längere erregte Auseinandersetzung, „und ein Narr bleibst du auch, wenngleich dir das Wort nicht sonderlich gefallen mag. Wie du es über dein doch sonst nicht so unempfindliches und unempfängliches Herz bringst, den Augen dieser Südländerin gegenüber kalt zu bleiben, verstehe ich beim besten Willen nicht. Einen Stein hätte sie mit ihren Blicken erweicht, nur dich nicht. Wär' ich an deiner Stelle gewesen, ich wüßte, was ich gethan hätte. Nur deinen kleinen Finger brauchtest du auszustrecken, so war sie dein mit ihren Schätzen und Reichtümern, mit denen du dir ein kleines Fürstentum kaufen kannst. Noch ist es Zeit, schicke einen Boten zu ihr hinüber, sie sagt Ja, ich schwöre es dir. Wenn wir heimgekehrt sind, nimmst du dir Urlaub, heiratest und baust dir von ihrem Geld ein Schiff, wie es stolzer und schöner noch kein Meer gesehen und getragen hat. Dann bringst du sie zu uns und versetzt durch die Schönheit deiner Frau das ganze civilisierte Deutschland in Erregung.”

Wider Willen lachend, hatte Mannsfeldt den Ausführungen seines Freundes zugehört, dann sagte er:

„Laß gut sein, Lieber, ich danke dir für deinen guten Rat, aber ich bedaure, von demselben keinen Gebrauch machen zu können.”

„Sagt' ich es nicht, daß du ein Thor bist,” rief Kroener erzürnt, während er die Galauniform ablegte und in seinen Kleiderkasten verschloß, „thue was du nicht lassen kannst! Aber wenn ich dich nicht kennte und nicht wüßte, daß ein Mensch wie du sich erst als achtzigjähriger Silber- und Murmelgreis verlobt, möchte ich fest glauben, daß du daheim in deutschen Landen ein Mädchen hast, das deiner harrt.”

„Wie meintest du?” fragte Mannsfeldt zurück. Er hatte sich halb entkleidet auf sein Bett gelegt und die Augen geschlossen.

„Ich habe von zwölf bis vier Uhr Wache, da gilt es, munter zu sein. Laß mich bis dahin noch einen Augenblick schlafen, denn dieser letzten Tage Müh' war groß.”

Wenige Minuten später verkündeten regelmäßige tiefe Atemzüge, daß er bereits fest schlief und kopfschüttelnd wendete sich Kroener ab.

„Er gefällt mir schon lange nicht mehr, irgend etwas muß ihn quälen und beunruhigen. Sollte es, wie er mir kürzlich sagte, wirklich nur die Furcht sein, seine Mutter nicht wiederzusehen? Sollte es doch vielleicht eine der Schönen hier unten seinem Herzen angethan haben, daß er manchmal noch lustiger und heiterer als sonst, dann aber ganz plötzlich ernst und traurig ist? Ich verstehe ihn nicht mehr und glaubte, ihn doch so gut zu kennen.”

Drei Wochen waren seit diesem Abend vergangen, mit voller Kraft und Geschwindigkeit durchschnitt das Schiff das Meer. Nur noch acht Tage, dann durfte man hoffen, die Heimat in Sicht zu bekommen, nur noch eine Woche, dann waren drei Jahre vergangen. Drei Jahre! eine unabsehbar lange Zeit, wenn sie vor uns liegen, ein kurzer Augenblick, wenn sie verflossen sind.

Auf allen Gesichtern und in allen Mienen spiegelte sich die Freude über die dicht bevorstehende Heimkehr. Freudiger und flinker denn je verrichtete die Mannschaft ihren Dienst, aufgeregter und gespannter denn je waren alle, wenn die Post an Bord kam und Briefe aus der Heimat brachte. Je mehr man sich dem lang ersehnten Augenblick des Wiedersehens nähert, um so unwahrscheinlicher erscheint er uns: wir fürchten, daß noch im letzten Augenblick eine höhere Macht dazwischen tritt; umso größer wird die Angst und Furcht, daß vielleicht noch die letzte Minute alle unsere Hoffnungen und Erwartungen zu Schanden macht.

„Briefe aus der Heimat, Mannsfeldt, eins, zwei, drei, weiß Gott, vier Stück! Hier, nimm sie hin!”

Mit diesen Worten betrat Kroener die Koje, in der er den Freund dumpf vor sich hinbrütend fand.

„Ich danke dir.”

Fast mechanisch ergriff er die Briefe und legte sie, nachdem er flüchtig die Handschriften geprüft hatte, uneröffnet neben sich hin.

Tadelnd stand ihm der Freund gegenüber.

„Und du nennst dich einen guten Sohn und läßt auch nur eine Sekunde die Zeilen ungelesen! Wahrlich, ich begreife dich nicht, du solltest dich schämen! Was für uns alle eine Festtag, den wir seit Wochen ersehnen, betrachtest du als etwas Selbstverständliches. Als ob es denn so sein müßte, daß die Deinen daheim alle wohl und munter sind! Und wenn sie es nicht wären —”

„Dann gäbe es kein Wiedersehen, wer weiß, was besser wäre.”

Es klang eine solche Verzagtheit, eine solche Verzweiflung aus diesen Worten, daß der andere erschrocken zusammenfuhr und den Freund anblickte, als wisse er nicht, ob er richtig verstanden habe. Aber der saß noch immer unbeweglich, den Kopf auf die Hand gestützt, nur die Brauen hatten sich noch fester zusammengezogen und die Falten hatten sich noch tiefer in die Stirn eingegraben.

„Mannsfeldt, versündige dich nicht und sprich nicht Sachen, an die du selbt nicht glaubst, und die du weder vor Gott noch vor den Menschen verantworten kannst. Laß mich dich erinnern an die Tage, da wir den Hafen verließen und du in einer müßigen Stunde die Sekunden zähltest, die zwischen dem Abschied und dem Wiedersehen lagen. Du konntest den Augenblick nicht erwarten, da wir wieder in den Hafen einlaufen würden. Weißt du es wohl noch?”

„Ja, ja,” antwortete er gedrückt und zögernd, „das war damals, aber nun —”

Er stockte und sah zögernd vor sich hin.

„Aber nun? Was ist geschehen, daß das Nun nicht deine Erwartungen, deine Hoffnungen erfüllt? Sag' mir, was dein Herz bedrückt und was dich quält. Du bist ein anderer geworden in den drei Jahren, wenn du es auch nicht eingestehen willst und äußerlich der Alte geblieben zu sein scheinst. Dein Humor ist verschwunden, fast schäme ich mich, mit dir heimzukehren. ,Was hast du denn mit Mannsfeldt gemacht, man kennt ihn ja garnicht wieder? Hast du ihn so schlecht gehütet und er war doch unser aller Liebling?' So werden die Freunde fragen und ich muß ihnen die Antwort schuldig bleiben. Du hast dich verändert. Glaubst du, daß ich dich nicht schon lange heimlich beobachtet habe, daß ich es nicht hörte, wenn du dich nachts ruhelos auf deinem Bett hin und her warfst? Glaubst du, ich hätte dein Stöhnen und Seufzen nicht vernommen? Ich war bisher zu stolz, Vertrauen zu fordern, da du es mir nicht freiwillig entgegenbrachtest, jetzt aber, da ich sehe, wie du leidest, verlange ich dein Vertrauen. Und nun sprich, was quält dich?”

Aber Mannsfeldt schüttelte den Kopf: „Laß, kein Mensch kan mir helfen, keiner mir eine Antwort geben auf die Frage, die mir keine Ruhe läßt.”

„Wenn ich dir auch nicht helfen kann, vermag ich vielleicht dich zu trösten. Hart und grausam gegen uns selbst ist es, wenn wir den Schmerz in der eigenen Brust verschließen. Das höchste Glück und das tiefste Weh: beides vermögen wir allein nicht zu ertragen.”

Kroener schwieg und reichte seinem Freunde die Hand, in die dieser zögernd einschlug: „Du magst recht haben,” antwortete er, „auch mich trieb es schon oft zu dir zu sprechen, aber ein unbestimmtes Etwas ließ mich stets im letzten Augenblick wieder schweigen. Laß mich noch diese Briefe lesen, ich muß ihren Inhalt kennen, um ganz klar sehen zu können, denn ich will dir alles sagen, nur um Eins bitte ich dich schon jetzt: sei hart und streng gegen mich, wie du es gegen dich selbst sein würdest, aber auch gerecht.”

Mannsfeldt hatte die Briefe geöffnet und begann sie zu lesen, während Kroener in der engen Koje sich auf den Bettrand gesetzt hatte und mit seinen Blicken gespannt an den Zügen des Freundes hing, und da war es ihm, als ob aus seinem Gesicht jede Farbe wiche und eine Totenblässe das Rot aus den Wangen vertriebe. Aber er wagte nicht zu fragen, wohl eine halbe Stunde verrann, bis Mannsfeldt die Briefe wieder in das Couvert steckte: „Nun ist's vorbei,” murmelte er leise vor sich hin und dann sich an Kroener wendend, sprach er:

„Denke zurück an den letzten Abend, den wir vor unserer Abreise an Land verlebten. Nachdem ich dich und deine Braut verlassen, ging ich zu meinen Verwandten, um dort mit meiner Mutter zusammenzutreffen. Ich fand sie noch nicht vor, ich ging in den Garten, um sie zu erwarten und traf dort meine Cousine Ilse in Kummer und Schmerz aufgelöst. Ich fragte sie, weshalb sie weine, da gestand sie mir, daß sie mich liebte — und eine Viertelstunde später war ich verlobt.”

„Und das sagst du mir erst jetzt? Drei Jahre hast du mir dein Glück verschwiegen, nicht mit einer Silbe hast du je etwas davon erwähnt, war das recht?”

Aber Mannsfeldt winkte ihm, zu schweigen. „Bitte, unterbrich mich nicht, laß mich weiter erzählen. Schweren Herzens gab meine Mutter uns ihren Segen, nur zu gut kannte ich den Grund ihres Zögerns: hatte doch mein Vater stets gesagt, daß eine Verbindung zwischen so nahen Verwandten eine Sünde sei, wenngleich das Gesetz sie gestatte; daß sie der Natur widerspräche und daß nur zu oft die traurigen Folgen nicht ausblieben. Aber die Mutter überwand ihre Bedenken, galt es doch mein Glück!”

Er lachte bitter auf. „Mein Glück, wie schön das klingt! Aber das Glück, das ich erhofft und ersehnt, ist verflogen und ist der furchtbarsten Enttäuschung gewichen. Drei Jahre sind seit dem Tage verflossen, an dem ich meine Braut zum erstenmale in die Arme schloß, und nun schaudert's mich, wenn ich das Wort höre, wenn ich an ihre Liebkosungen denke, wenn ich mir den Augenblick des Wiedersehens vorstelle!

„Was sich leise in mein Herz hineinschlich, was ich nicht glauben wollte und konnte, wogegen ich mich sträubte mit aller Kraft und aller Energie, was ich mir selber nicht einzugestehen wagte, ist eine Thatsache geworden, gegen die sich noch weiter aufzulehnen ein Wahnsinn wäre: ich liebe meine Braut nicht, ich hege für sie die verwandtschaftlichen Gefühle, die jeder Vetter für seine Cousine empfindet, ich liebe sie, wie ich meine Schwester lieben würde, wenn der Himmel sie uns nicht wenige Wochen nach der Geburt wieder genommen hätte — aber ich liebe sie nicht, wie der Verlobte seine Braut lieben muß.

„Und nun stürmen die Zweifel auf mich ein, rauben mir meine Ruhe und entfesseln die wildesten Kämpfe in meiner Brust: Muß ich Ilse heiraten, kann ich nicht noch zurück? Muß ich für das Wort, das ich, wie mir nun klar geworden, in der Uebereilung sprach, mein ganzes ferneres Leben büßen?”

Er schwieg und sah erwartungsvoll den Freund an, dessen Züge einen ernsten, strengen Ausdruck angenommen hatten.

„Und du bist sicher, daß deine Braut dich liebt, daß nicht auch sie vielleicht bereut, was sie sprach?”

„Ob sie mich liebt? Lies diesen Brief, er sagt Dir mehr als viele dicke Bände. Ob sie mich liebt? Aus ihren Briefen erst habe ich erfahren, daß sie nie einen anderen Gedanken gehabt hat als mich, daß sie gar Manchem ihre Hand verweigerte, daß sie sich immer sagte: mich oder keinen, daß die ganze Ursache ihres Leidens, das sie blaß und elend machte, nur ihre Liebe zu mir war. Auch du kennst Ilse, solche Mädchen lieben nur einmal, dann aber ist es entweder ihr Leben oder ihr Tod.”

„Und rührt dich nicht so viel Liebe, Treue und Anhänglichkeit, vermögen sie nicht dein Herz gütig und milde zu stimmen, Gleiches mit Gleichem zu vergelten?”

Mannsfeldt stöhnt laut auf: „Was du mir sagst, habe ich mir selbst schon unzählige Male vorgeworfen. ich habe mich schlecht und undankbar gescholten, ich habe versucht, mich zur Liebe zu zwingen, um einsehen zu müssen, daß Liebe sich nicht erzwingen läßt.

„Und doch gab ich mein Wort: ihr und allen, nie würde ich den Schritt bereuen. Jetzt ist die Reue da. Hilf mir, was soll ich thun?”

Er war aufgesprungen und durchmaß mit großen Schritten den kleinen Raum: „Du weißt nicht, wie mich die Gedanken quälen, wie mir vor der Heimkehr graut! Wie soll ich ihr, die mich voll Sehnsucht erwartet, gegenübertreten, was soll ich ihr sagen, wie soll ich mich benehmen? Jedes Wort, das ich zu ihr spreche, ist eine Lüge, jeder Kuß, den ich ihr gebe, ein Betrug. Und sie wird mir alles glauben, sie baut auf mich, wie auf einen Felsen. Soll ich ihr den Himmel rauben, habe ich ein Recht dazu, ihr zu nehmen, was ich ihr freiwillig gab? Sie würde hinwelken und sterben, wenn sie erführe, wie es in meinem Innern aussieht, nur mit mir wird sie leben.”

„Und hast du ihr nie Andeutungen gemacht, ihr nie geschrieben, daß deine Neigung erloschen?”

„Nie. Schilt mich feige, ich habe es nicht über mich gebracht. Wie oft habe ich den Brief, der ihr alles sagen sollte, nicht begonnen, aber mir fehlte der Mut und die Kraft. In Gedanken sah ich dann ihre Blicke auf mich gerichtet und dann glaubte ich wieder, sie zu lieben. Mit den Briefen, die ich ihr schrieb, belog ich mich und sie, entflammte durch sie ihre Leidenschaft mehr und mehr und es war mir dann, als wären meine Worte Wahrheit. Es konnte ja auch nicht sein, es war ja undenkbar, daß die Liebe zu ihr nicht wiederkehren, nicht wieder neu auflodern sollte. So verschob ich es von Tag zu Tag, bis heute, da es zu spät ist.”

„Glaubst du wirklich, daß sie den Mangel deiner Liebe nicht empfinden und nicht fühlen würde, daß sie glücklich wäre, auch wenn sie wüßte, daß du es nicht bist?”

„Liebe ohne Treue, sie ist ein vernichtender Konflikt; Treue ohne Liebe, Ehre für den, der sie giebt, Beleidigung für den, der sie empfangen muß. So las ich kürzlich.

„Aber Ilse würde es nie als Beleidigung empfinden, weil ihr die Veranlassung dazu, die Erkenntnis, fehlen würde. Auf alle möglichen und unmöglichen Dinge und Ursachen würde sie kommen, wenn sie wirklich jemals merken sollte, daß ich ein anderer geworden bin. Nie aber würde sie in ihrer grenzenlosen Leidenschaft darauf verfallen, daß mein Herz nicht ihr gehört. Klar steht es vor mir: Eine Trennung ist ihr Tod, eine Vereinigung meine Verzweiflung. Aber ich gab mein Wort bei klarem Bewußtsein dessen, was ich that: Was die Ehre fordert, widerstrebt dem Gefühl, was das Gefühl verlangt, widerstrebt der Ehre; nur der Himmel kann den Zwiespalt in meinem Herzen lösen.”

Wieder schwieg er und hielt in seiner Wanderung inne. Er stand unmittelbar vor seinem Freunde, mit Ungeduld dessen Rat und Hilfe erwartend.

Der aber war von seinem Platz aufgesprungen und hatte seine Hand auf die Schulter des Kameraden gelegt.

„Du hast mich um meine Meinung gefragt, nicht länger will ich sie dir vorenthalten. Setze dich zu mir.

„Was du versprochen hast, mußt du halten, als Offizier und als Ehrenmann. Ein Frauenherz ist kein Spielzeug, das man sich heute erwirbt und morgen, wen man seiner überdrüssig, wieder von sich wirft. Die Liebe ist das höchste Gut, über das eine Frau zu verfügen hat, sie giebt sie erst nach langen Zögern und Bedenken, dann aber auch voll und ganz, und sie verlangt, daß der, dem sie sie giebt, sich ihrer würdig zeigt.

„Dein Schwur fesselt dich, was du versprichst, mußt du erfüllen. Was dir Sorge und Angst bereitet, was dich ein Wiedersehen fürchten läßt, ist die Sorge um dein eigenes liebes ,Ich'. Wie jeder Schmerz entspringt auch der deine dem krassesten Egoismus. Denke und klage aber nicht nur deinetwegen, denke auch an deine Braut.

„Du selber sagst: sie wird glücklich werden mit dir. Deine Pflicht ist es, ihr das Glück zu geben, das zu verlangen nach deinen Worten ihr Recht ist. Drei Jahre lang hast du durch deine Briefe den Glauben an die Wahrheit deines Gelöbnisses in ihr wach gehalten, ja noch mehr, du hast diesen Glauben mehr und mehr befestigt. Grausam wäre es, ihr jetzt die Hoffnung zu rauben, jetzt, da alles, wie sie schreibt, zur Hochzeit gerüstet, da der Tag der Trauung bereits festgesetzt ist. Ziehst du dich jetzt noch zurück, so vernichtest du die gesellschaftliche Stellung deiner Braut für lange Zeit, wenn nicht für immer. Erwäge das wohl. Du gehst über kurz oder lang wieder hinaus in die weite Welt, das Mädchen sitzt daheim mit ihren Sorgen und Gedanken. Drei Jahre lang hast du sie an dich gekettet; du kannst und darfst sie jetzt nicht wieder von dir stoßen. Du hast dir den Rückzug abgeschnitten. Für dich giebt es nur ein Vorwärts und ich glaube, es wird dir nicht schwer werden, denn Ehre und Pflicht gebieten es dir und wenn diese sprechen, muß jede andere Stimme schweigen. Ich wiederhole das Wort, das du vorhin anführtest: Treue ohne Liebe, Ehre für den, der sie giebt.

„Die Ueberzeugung zu beglücken muß dich für das Bewußtsein entschädigen, nicht selbst glücklich zu sein. Mit der Zeit wird auch deine Liebe wieder erwachen, denn ein Gefühl, das, wenn auch nur einmal und wenn auch für einen noch so kurzen Augenblick unser Inneres ganz durchdrungen und beseelt hat, kann wohl nachlassen und vorübergehend einschlummern, aber es erstirbt nie.”

„Kroener, habe Mitleid mit mir,” bat Mannsfeldt verzweiflungsvoll, „Unmögliches verlangst du von mir, ich kann nicht.”

Aber kein Erbarmen prägte sich in den Zügen des Kameraden aus: „Mannsfeldt, ich verstehe dich nicht mehr. Man kann alles, wenn man will und wenn man muß. Du mußt, wenn du nicht ehrlos dastehen willst. Und nun laß uns das Gespräch beenden, um nie wieder darauf zurückzukommen. Ein Mann wie du kann wohl einmal für einen Augenblick unschlüssig sein, welchen Weg er einschlagen soll, aber er wird doch schließlich den wandeln, auf den Ehre und Pflicht ihn hinweisen.

„Jetzt aber komm', laß uns in das Kasino gehen und einer Flasche den Hals brechen auf das Wohl unserer Lieben, und wenn du dann das Grübeln nicht lassen kannst, so male dir einmal den Schrecken aus, den schön Agnes empfinden würde, wenn ich plötzlich vor sie hinträte und spräche: ich liebe dich nicht mehr. Ueber so etwas kann man doch nur lachen, nicht wahr?”

Kroener hatte einen leichten, scherzhaften Ton angeschlagen und es gelang ihm endlich, die Falten und Sorgen von der Stirn seines Freundes zu verscheuchen. Mit rührender Liebe nahm er sich des Kameraden an und verwundert blickten die übrigen Offiziere auf die beiden, die sonst so solide, heute abend fast des Guten zu viel thaten. Bis spät in die Nacht saßen sie zusammen und als sie endlich ihr Lager aufsuchten, gab Mannsfeldt dem Freunde die Hand: „Kroener, ich danke dir für deine Worte, die du vorhin zu mir sprachst. Klar und deutlich steht es vor mir, was ich zu thun habe,” und scherzend fügte er hinzu: „nichts ist für den Menschen besser und bekömmlicher, als wenn ihm von Zeit zu Zeit einmal der Text gelesen wird, es ist das beste Mittel gegen alle Grillen und alle thörichten Gedanken.”

Unaufhaltsam setzte das Schiff die Heimreise fort, der letzte Hafen war angelaufen, drei Tage nur noch, dann war die Heimat erreicht. Man war emsig thätig, alles für den bevorstehenden Augenblick zu rüsten, vom frühen Morgen bis zum späten Abend wurde mit nie ermüdendem Fleiß geputzt, gescheuert und gewaschen, wie aus dem Ei gepellt, sollte S. M. S. „Jacht” erscheinen, wenn im Hafen die Anker in die Tiefe fielen und sie sich den Blicken der sie Erwartenden zeigte. Drei Tage nur noch, eine kurze Zeit! Mit lustigem, fröhlichen Gesange verrichtete die Mannschaft ihre Arbeiten, wohin man sah und hörte, begegnete man heiteren Gesichtern, munterem Lachen. Auch Mannsfeldt hatte ganz seine frühere Ruhe und seinen alten Humor wieder gewonnen und bei jedem Zusammensein mit den Kameraden hallte die Messe wieder von dem Gelächter, das er durch die unerschöpfliche Quelle seiner heiteren Einfälle hervorrief.

Zum letztenmal hatten sich heute die Offiziere zu dem gemeinsamen Mittagessen versammelt, auch der Kommandant hatte seine Einsamkeit, zu der ihn auf den Kriegsschiffen das Gesetz und die Wahrung der Autorität verurteilt, verlassen, um mit seinen Offizieren, mit denen er gar manchem Sturm, gar mancher Gefahr getrotzt hatte, zusammen zu speisen, um ihnen für ihre treue Pflichterfüllung zu danken. Man hatte sich schon an der Tafel niedergelassen, verwundert über Mannsfeldts Ausbleiben, der, sonst ein Muster an Pünktlichkeit, heute auf sich warten ließ, als die Thür geöffnet wurde und ein Matrose hereintrat, der nach dem Arzte fragte.

„Ist irgend etwas Besonderes vorgefallen?” fragte der Kommandant, während er den Arzt, der sich sofort erhoben hatte, mit einem freundlichen Nicken des Kopfes und einem „Auf Wiedersehen” verabschiedete.

„Es ist ein Unglück geschehen, Herr Admiral, Herr Lieutenant von Mannsfeldt —”

„Nun, was ist mit ihm?”

„Ein Revolver hat sich entladen, er ist tot.”

Mit jähem Sprung fuhren die Offiziere von ihren Sitzen empor und einen Augenblick später umstanden sie das Lager ihres Kameraden. Das heitere, fröhliche und sorglose Lächeln war aus seinen Zügen verschwunden und war einem finsteren, bitteren Ausdruck gewichen.

„Wie ist es gekommen?” fragte der Admiral, „wer vermag Auskunft zu geben?”

Wie es gekommen? Sie alle, die um den Toten herumstanden, hatten es mit angesehen, und doch vermochte keiner es zu sagen. Lieutenant von Mannsfeldt war dienstlich mit der Waffenabnahme beschäftigt gewesen, er hatte jeden Revolver, bevor er ihn dem Büchsenmacher zur etwaigen Reparatur übergab, genau geprüft und revidiert und da mußte irgend ein Revolver noch geladen gewesen sein. Er hatte die Waffe in der Hand gehabt und der Vorschrift gemäß den Abzug untersucht. Da plötzlich war ein Schuß losgegangen und lautlos war Lieutenant von Mannsfeldt zusammengebrochen.

Das war alles, was man erfuhr. Niedergeschmettert und entsetzt umstanden die Untergebenen ihren Offizier, den sie alle liebten, dem sie alle mit besonderer Freude gefolgt waren, weil sie seine Gerechtigkeit und Tüchtigkeit kannten.

Unfähig, das Furchtbare zu fassen und zu begreifen, umstanden die Kameraden den Toten. Daß gerade er, der Liebling aller, es sein mußte, den das Geschick noch in der letzten Stunde ereilte, jetzt, angesichts der Heimat, nur noch wenige Meilen entfernt von den Lieben, die ihn erwarteten und alles zu seinem Empfang rüsteten, unbekannt mit dem furchtbaren Unglück, das soeben über sie hereingebrochen war! Wehmütig schauten alle in das stille, blasse Gesicht und gar manche Thräne floß über die harten, wetterfesten Züge.

Heimkehr. Mit einem Schlage war alle Freude verflogen, aller Jubel verstummt. Leise, als fürchteten sie sich, den Schlummer des Todes zu stören, entfernte sich einer nach dem anderen, nur die Totenwache blieb zurück, um dem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen.

Kopfschüttelnd und in Gedanken versunken, betraten die Offiziere wieder die Messe. Der Admiral war es, der zuerst das Schweigen brach:

„Ich kann es nicht fassen und begreifen, daß Mannsfeldt, der sonst so Vorsichtige, Tüchtige und Gewissenhafte so leichtsinnig gewesen ist. Wäre es bei ihm nicht vollständig ausgeschlossen, so wäre ich fest versucht zu glauben, daß sein Tod nicht nur ein Zufall, sondern Absicht war. Und doch sinne ich vergebens darüber nach, was gerade ihn, dem seine Kenntnisse die glänzendste Carriere in Aussicht stellten, zu diesem Schritt hätte veranlassen sollen. Ich kann und will es nicht glauben. Oder vermögen vielleicht Sie, meine Herren — Sie, Herr Lieutenant Kroener, wohnten ja mit dem Verstorbenen zusammen — können Sie uns vielleicht Aufschluß geben?”

Aller Augen waren auf Kroener gerichtet, aus dessen Gesicht jede Farbe gewichen war. Einen Augenblick zögerte er, als besinne er sich, dann antwortete er fest und bestimmt:

„Nein, Herr Admiral. Noch vor wenigen Tagen hat Mannsfeldt weit und ausführlich mit mir über sich und seine Zukunft gesprochen. Er verschwieg mir nichts, ich halte einen Selbstmord für vollständig ausgeschlossen, ich vermag keinen Grund hierfür anzugeben.”

Alle atmeten erleichtert auf, es war, als wenn von ihnen allen ein schwerer Alp gewichen wäre.

Vierundzwanzig Stunden später lief das Schiff in den Heimatshafen ein. Dicht gedrängt, zu vielen Hunderten, staute sich die Menge am Bollwerk und beobachtete mit Ferngläsern alle einlaufenden Schiffe. Endlich hatten die Seeleute die Takelage erkannt, dort, „die dritte von links, das ist sie,” und ein donnerndes Hoch erscholl. Aber noch war das Schiff zu weit entfernt, um den Gruß zu hören und zu erwidern. Wohl eine Stunde konnte noch vergehen, ehe die Anker fielen und ihnen, die drei Jahre auf diesen Augenblick gewartet hatten, deuchte diese Stunde eine Ewigkeit.

Und auf einmal ging das Wort von Mund zu Mund: „Sie haben einen Toten an Bord, seht ihr es nicht, sie haben die Heimatsflagge Halbmast, das ist das Zeichen.” Und wohin das Wort drang, da verbreitete es Entsetzen und bange Angst und lähmte die Gemüter. Wer war der Tote? Wen von ihnen, die hier erwartungsvoll standen, würde das harte Geschick betreffen? Wer von ihnen, der da hoffte, einen Lebenden begrüßen zu können, würde nur noch einen Toten küssen dürfen? Wer war der Arme, der angesichts der Heimat von dem finsteren Tode bezwungen worden war? Keiner wagte zu sprechen, die furchtbarste Unruhe und Ungewißheit hatte sie alle ergriffen: scheu blickten sich die Leute gegenseitig an, als wollte einer in dem Gesicht des anderen lesen und ergründen, was doch für sie alle noch ein furchtbares Geheimnis war. Aber die nächsten Minuten mußten Gewißheit bringen, mit voller Kraft durchschnitt der Kiel das Wasser, wenige Minuten nur noch, dann war es entschieden. Und die Ungewißheit, die quälende Angst und der entsetzliche Zweifel ließen die Herzen erbeben, ließen innige Gebete zum Himmel hinaufsteigen.

Die mächtigen Anker rasselten in die Tiefe, der gefürchtete Augenblick war da. Starren Auges blickte die Menge auf das Schiff, als wollte sie mit ihren Augen die dicken Balken, die das Geheimnis bargen, durchdringen. Nicht wie sonst erschütterten Hurrarufe die Luft, feierliche Stille lag über allen und die heilige Scheu, die jeder in der Nähe des Todes empfindet, hatte sie ergriffen.

Man sah die Matrosen am Bord hin und her eilen, man unterschied Kommandorufe, man bemerkte die Leute, die in den Raaen und Tauen herumkletterten und endlich ein Boot zu Wasser ließen. Mit raschen Ruderschlägen trieben die Matrosen es ans Land und ließen den ersten Offizier den festen Boden betreten. In einem Augenblick war er umringt, er las die stumme Frage, die keiner auszusprechen wagte, auf allen Gesichtern. Fragenden, forschenden Auges sah er sich um, endlich erblickte er die, die er suchte. Er schritt auf sie zu und still und ehrfurchtsvoll öffnete sich die Menge.

„Gnädige Frau, ich wollte zu Ihnen.”

Mit starken Armen umfaßte er die Wankende und führte sie und ihre Begleiterin hinab zu dem Boot, das dem Schiff entgegenflog. Keiner von ihnen sprach, wortlos erstiegen sie die Schiffstreppe und einen Augenblick später umschlang Ilse mit ihren Armen den Geliebten. Sie küßte ihn immer wieder von neuem und warf sich in fassungslosem Schmerz über ihn , als wollte sie ihn durch ihre Liebkosungen wieder zum Leben erwecken, als wollte sie noch einmal den Schlag seines Herzens hören — seines Herzens, das ihr gehörte und doch nicht ihr eigen war.


Ich habe Zweifel an der Autorschaft von Schlicht. D.Hrsgb.

[Sprachbesonderheiten:
—   kein "zur Antwort geben",
— "gar eigentümlich, gar manchesmal, gar lange, gar sonderbar, gar Manchem, gar manchem, gar mancher, gar manche"]


zurück zur

Schlicht-Seite