Der Händedruck.

Von Freiherrn von Schlicht.
in: „Berliner Tageblatt” vom 17.Dez. 1906,
in: „Seine Hoheit” und
in: „Ihre Durchlaucht der Regimentschef


Das Linieninfanterieregiment von Dingsda strahlte ob der ihm widerfahrenen Auszeichnung: es hatte bei der Rekruten­einstellung einen Flügelmann bekommen, dem schon der alte Schäfer des Dorfes, in dem das Wunderkind das Licht der Welt erblickte, drei Stunden nach dessen Geburt prophezeite: „Der kommt später zur Garde!” In Wirklichkeit aber hatte der Schäfer nicht die wirkliche Zukunft prophezeit, sondern nur das, was der glückliche Vater gern hören wollte, und ein blanker Taler, der ihm für seine Worte in die Hand gedrückt wurde, bewies ihm aufs neue, daß es stets praktisch ist, nur das zu sagen, was man sagen soll.

Dem Neugeborenen war die Garde prophezeit, und so wuchs er denn unter dem ganz besonderen Schutz des Himmels auf, der Allerhöchste hatte ihm eine besondere Gnade beschert — und diese Gnade hieß: Garde. Gibt es für einen königstreuen Staatsbürger — und wer ist das heutzutage nicht? — ein größeres Glück, als Soldat zu sein, noch dazu bei der Garde?! Rekruten­vereidigung im Lustgarten, Seine Majestät hoch zu Roß, die königlichen Prinzen in der Front, die hohen und höchsten weiblichen Herrschaften vom Fenster des Schlosses aus dem Schauspiel zusehend — ja, kann ein heranwachsender königstreuer Staatsbürger sich etwas Schöneres wünschen, als diesen feierlichen Augenblick mitzuerleben? Nur wahrhaft große Charaktere können einer so glänzenden Zukunft entgegensehen, ohne dabei — zwar nicht an ihrer Ehre, wohl aber an ihrem Verstande — Schaden zu nehmen.

Hans Müller, der spätere Gardis, konnte es nicht; er wurde schwach auf der Brust, wie man es beim Militär nennt, wenn einer seine fünf Sinne nicht beisammen hat.

Hans Müller war in seiner Jugend das Wunderkind. Alle sahen in ihm nur den späteren Gardisten, alle warben um seine Gunst, und selbst der Volk­sschul­lehrer, der bei einem ganz gewöhnlichen Linien­regiment in einer elenden Garnison zur Uebung eingezogen gewesen war, hatte vor dem späteren Gardisten eine solche Ehrfurcht, daß er es nie wagte, jene Stelle mit dem Rohrstock zu bearbeiten, die später beim Militär — wenigstens bei Tage — stets mit einer der auf Kammer befindlichen fünf Hosen bekleidet sein würde.

Hans Müller wuchs heran unter der besonderen Protektion aller Behörden: der Dorfschulze ließ ihn nicht aus den Augen und ermahnte ihn von seinem zehnten Lebensjahre an täglich, ein braver Mensch zu werden und bis an sein Lebensende den Fahneneid zu halten, den er eines Tages im Lustgarten schwören würde.

Der Landrat, der selbst bei der Garde gedient hatte und einem der feudalen Regimenter noch jetzt als Leutnant der Reserve anzugehören die Ehre und die Auszeichnung hatte, ließ sich, so oft er im Dorfe zu tun hatte, den angehenden Gardisten herbeiholen und schenkte ihm ein Fünfzig­pfennigstück, das er in die Sparbüchse werfen solle für spätere Zeiten, denn die Garde sei teuer. Dann ermahnte auch er ihn immer aufs neue, ein braver Mensch zu werden und bis an sein Lebensende den Fahneneid zu halten, den er später in Berlin im Lustgarten schwören würde, während die Damen und die jungen Prinzen des kaiserlichen Hauses vom Fenster ihres Schlosses aus dem feierlichen Schauspiel zusahen.

Auch der Herr Regierungspräsident, ja, sogar der Herr Oberpräsident ließen sich auf einer Dienstreise den späteren Gardisten vorstellen. Seine Exzellenz gab ihm einen harten Taler für die Sparbüchse und ermahnte ihn, später ein guter Mensch zu werden und bis an sein Lebensende den Fahneneid zu halten, den er später in Berlin im Lustgarten unter den Augen Seiner Majestät schwören würde.

Ja, noch mehr: Exzellenz reichte ihm sogar die Hand.

Hans Müller hätte kein Patriot sein müssen, wenn dieser Händedruck einer Exzellenz ihm nicht den letzten Rest seines Verstandes genommen hätte — er bekam den Größenwahnsinn. Und wenn sich da einer darüber verwundert, so sei daran erinnert, daß in der heutigen Zeit noch ganz andere Charaktere als Hans Müller sich vor jedem hohen Herrn tief beugen, und daß das Rückgrat im deutschen Vaterlande immer mehr anfängt, eine Sehenswürdigkeit zu werden.

Hans Müller hatte den Größenwahnsinn. Er wurde noch dümmer, als er schon war, er lernte noch weniger als früher und wurde sogar noch fauler, obgleich ihm das eine große Schwierigkeit bereitete. Und der Lehrer wagte es noch weniger als bisher, den faulen Bengel zu prügeln, denn Exzellenz hatte ihm die Hand gegeben, und das war eine Auszeichnung, die ihm selbst in einer nun bald zwanzigjährigen treuen Dienstzeit noch nie zuteil geworden war. Aber gerecht, wie er war, erkannte er neidlos an, daß er auf den Händedruck Seiner Exzellenz ja auch keinen Anspruch hatte, denn er war ja nur ein einfacher Volks­schul­lehrer, Hans Müller aber war späterer Gardist. — —

Dieses Jahr hatte Hans Müller sich zum Militär stellen müssen, und sämtliche Aushebungs­kommissionen hatten laute Rufe der Bewunderung ausgestoßen, als er in seiner ganzen nackten Schönheit vor ihnen stand: Herrgott war der Bengel gewachsen, sein Körper war so ebenmäßig entwickelt, als hätte er vom Tage seiner Geburt an „gemüllert”(1), um diese prachtvolle Form zu erhalten.

Der mit dem ersten Preis gekrönte Ochse kann auf einer Viehausstellung nicht mit mehr Interesse und Begeisterung betrachtet, beklatscht und befühlt werden, als der junge Rekrut es wurde.

Daß der zur Garde mußte, war allen sofort klar. Aber dann kam er doch zu einem Linienregiment, denn der Bedarf der Garde war schon mehr als reichlich gedeckt.

Das Regiment von Dingsda war auf sein Erscheinen von einem Mitglied der Kommission vorbereitet. Man hatte ihn mit Ungeduld erwartet, ja, sein zukünftiger Leutnant hatte täglich für sein Leben und die Gesundheit seiner Gliedmaßen gebetet, damit die schlanke Edeltanne — wie der Herr von der Kommission ihn genannt hatte — sich nicht durch irgendeinen Unglücksfall doch noch in einen „krummen Hund” verwandeln möge, den er dann wieder geradebiegen solle. Und sein Gebet wurde erhört: Hans Müller kam gesund an, noch schöner, als man erwartet hatte. Das war ein Flügelmann, wie das Regiment ihn schon lange verdient hatte. Auf diesen Mann würden bei den Besichtigungen die Augen aller Vorgesetzten mit Begeisterung ruhen, und die Herzen der hohen Herren würden gnädig und mild gestimmt werden . . . .

„Aber, meine Herren,” wandte sich dann freilich der Herr Oberst mit erhobener Stimme an die um ihn herumstehenden Offiziere: „Meine Herren, ein solcher Flügelmann verlangt und fordert es, daß die anderen Leute des Regiments ihm in keiner Weise nachstehen! Ich werde deshalb bei der Rekruten­besichtigung in diesem Jahre ganz besonders hohe Anforderungen stellen und noch schwerer zu befriedigen sein als sonst! Ich ermahne deshalb die Herren Leutnants, sich die denkbar größte Mühe zu geben, die Herren Hauptleute ermahne ich, den Herren Leutnants nicht zu viel Freiheit und Selbständigkeit zu lassen, und ich bitte und ersuche die Herren Bataillons­kommandeure, mit aller Strenge darauf zu achten, daß die Ausbildung der einzelnen Kompagnien eine durchaus einheitliche wird.”

Alle, die das hörten, bekamen einen Schrecken; das konnte ja ein genußreicher Winter werden!

Die Dressur begann, und am meisten beschäftigte sich diese Dressur mit dem Flügelmann des Regiments, denn so schön er auch gewachsen war, einem erfahrenen Unteroffizier gegenüber ist der liebe Herrgott doch ein Stümper, und wahrhaft schön kann der Mensch erst durch die vorschriftsmäßig militärische Haltung werden. Aber der Flügelmann wurde nicht schöner. Im Gegenteil: seine Haltung ließ nach, er ließ den Kopf hängen, und alle Ermahnungen, „Kopf hoch!” hatten keinen Erfolg. Das hatte seinen guten Grund.

Hans Müller fühlte sich in seiner tiefsten Würde gekränkt: er hatte Gardist werden sollen, er war zu Größerem geboren, Seine Exzellenz der Herr Oberpräsident hatte ihm persönlich die Hand gedrückt — und nun war er doch ganz gemeiner Linieninfanterist geworden! Allerdings Flügelmann, aber er wollte lieber bei der Garde der dritte als bei der Linie der erste sein. Und wie hatte er sich auf seine Vereidigung gefreut! Der Kaiser sollte hoch vom Pferde herab eine Rede an ihn halten, an ihn, Hans Müller, und an seine Kameraden, die kaiserlichen Prinzen sollten in der Front neben ihm genau so still stehen wie er selbst, und die Kaiserin und die Damen des Hofstaates und die kleinen Prinzen und Prinzessinnen sollten vom Fenster ihres Schlosses aus dem feierlichen Schauspiel beiwohnen. Wozu war er denn geboren, wenn er diesen Tag doch nicht erleben sollte? Man hatte ihn nie anders als den „Gardisten” genannt, nun konnte er sich doch gar nicht auf Urlaub zuhause sehen lassen! Die Mädchen würden ihn auslachen, die jungen Leute würden ihn verspotten. Seine Eitelkeit erlaubte ihm diese Niederlage nicht.

Und deshalb beschloß er zu sterben. Er wußte sich eine scharfe Patrone zu verschaffen und schoß sich mit dem Dienstgewehr in den Mund.

Die sofort eingeleitete strenge Untersuchung ergab nur die bereits allen bekannte Tatsache, daß er tot war. Warum er gestorben war, wußte kein Mensch.

Der Flügelmann war tot. Ein Ersatzmann wurde für ihn ausgehoben. Der war aber keineswegs würdig, sein Nachfolger zu werden. So avancierte der zweite Mann der ersten Kompagnie zum Flügelmann.

Der war zwar auch keine Schönheit, aber er ging wenigstens an, und daß er nicht so schön war, hatte auch sein Gutes: der Herr Oberst schraubte seine Anforderungen zurück, die Stabsoffiziere brauchten nicht mehr jeden Tag auf dem Kasernenhof zu erscheinen, die Hauptleute konnten ihren Leutnants wieder die Ausbildung allein überlassen, und die brauchten sich jetzt nicht mehr „um jeden Dreck” selbst zu bekümmern — wozu waren denn die Unteroffiziere da?

So war der Flügelmann nicht umsonst gestorben. Ihm selbst hatte der Tod die Befreiung von einem Leben gebracht, das ihm seinen ehrgeizigen Wunsch, die Vereidigung im Berliner Lustgarten vor den Augen Seiner Majestät, versagt hatte, und seinem Regiment hatte er dadurch die Ruhe wiedergegeben. Das Schreien, Schimpfen, Fluchen und Schelten auf dem Kasernenhofe hörte auf. Denn die höchsten Vorgesetzten, die am strengsten jede Mißhandlung verbieten, sind durch die hohen Anforderungen, die sie jeden Tag stellen und immer noch höher hinaufschrauben, auf der anderen Seite die alleinige Veranlassung, wenn doch einmal etwas passiert.

Der Flügelmann war tot. Und das schützte manchen Kameraden vor manchem Rippenstoß. Der Oberst hatte leicht befehlen, daß der krümmste Kerl nach genossener Ausbildung der schlanken Edeltanne gleichen sollte. Denn es ist ja das Vorrecht der Vorgesetzten, daß sie befehlen können, was sie wollen. Und je weniger sie selbst wissen, wie ihre Befehle ausgeführt werden können, um so mehr überlassen sie das ganz dem Ermessen der Untergebenen, um ihnen die Selbstständigkeit des Handelns und damit die Freude am Schaffen nicht zu rauben. — — —


Fußnote:

(1) Siehe den Hinweis auf: „J.P.Müller, Mein System” in „Die Empfangszentrale”. (zurück)


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