Der ganze Vorgesetzte.

Von Freiherrn von Schlicht.
in: „Frankfurter Zeitung und Handelsblatt” vom 19.Sep. 1898,
in: „Das Manöverpferd”,
in: „Der schwerfällige Major” und
in: „Aus Heer und Marine”


„Unbegreiflich!”

Se. Excellenz, der Herr Divisions­kommandeur spricht's und heimlich schielt er nach seinem Adjutanten, einem General­stabs­offizier, als wolle er ergründe, was der dazu sage.

Aber der sagt gar nichts: die langen Beine in ebenso langen Riemen, die langen, schmalen Füße bis zum Absatz durch die Bügel geschoben, sitzt er auf seinem Gaul und dreht sich mit der größten Gemüthlichkeit eine Cigarette.

Se. Excellenz bemerkt dies mit einigem Unwillen. „Hm, hm, wollen Sie jetzt noch rauchen, jetzt wo die Entscheidung des Gefechts jeden Augenblick eintreten kann?”

Der Adjutant greift in die Satteltasche, holt die Schachtel Streichhölzer heraus und stößt gleich darauf leichte Rauchwolken in die Luft. „Warum soll ich nicht rauchen, Excellenz? Es sieht ja Keiner.”

Das ist stark, auf die Antwort war Excellenz nicht vorbereitet. Bei Gott, der Adjutant wird immer frecher, und doch hat Excellenz nicht den Muth, ihm grob zu werden — und was bisher selbst dem kommandirenden General nicht gelungen ist, gelang durch einen Zufall dem Adjutanten: er erkannte seinen Herrn und Gebieter. Während einer Beurlaubung seines Adjutanten hatte Excellenz einmal höchsteigenhändig einen Bericht, der vom Kriegsministerium eingefordert war, abfassen müssen, dreimal war dieser Bericht als unklar und unbrauchbar zurückgekommen und Excellenz hatte dann plötzlich einen sehr geistreichen Gedanken gehabt: Er verstauchte sich die rechte Hand und beorderte seinen Adjutanten telegraphisch zurück. Der kam und Herr und Diener sehen sich in die Augen und Excellenz sagte sich im Stillen: „Das hilft nun nichts, der hat dich erkannt und weiß, daß du ohne ihn eine mehr oder weniger große Null im militärischen Dasein bist.”

Von dieser Stunde an führte der Adjutant ein wahres Götterleben, der Vorgesetzte hatte nur den einen Gedanken, seinen Untergebenen bei guter Laune zu erhalten. Und mehr als je mußte Excellenz hierauf jetzt im Manöver bedacht sein — wenn da der Adjutant streikte, ihm nicht half, ihm womöglich gar schlechte Rathschläge ertheilte, dann war Excellenz einfach zur Strecke geliefert. Excellenz war ganz klein, der Adjutant riesig groß: „Es sieht ja Keiner.” Man sagt, die einzigen Menschen, denen die Fürsten nicht imponirten, wären ihre Kammerdiener — die einzigen Menschen, denen die Vorgesetzten zuweilen, allerdings auch nur zuweilen, nicht imponiren, sind die Adjutanten.

„Es sieht ja Keiner.” Se. Excellenz, der kommandirende Herr General war ja allerdings nicht in der nächsten Nähe, der befand sich augenblicklich bei der anderen Partei, aber war er, der Herr Divisions­kommandeur, denn „gar Keiner”? Hatte sein Adjutant denn nicht mehr den leisesten Respekt vor ihm? Das sollte anders werden — aber nur heute nicht, heute mußte der Adjutant noch bei guter Laune bleiben. Morgen aber waren die Manöver zu Ende und dann konnte der Adjutant sich auf Verschiedenes gefaßt machen.

„Wollen Euer Excellenz nicht auch eine Cigarette rauchen?”

„Danke,” brummt und knurrt der hohe Herr so unwillig, daß sein Adjutant ihn verwundert ansieht. „Dann nicht,” sagt er sich im Stillen und steckt die Cigarettendose wieder ein.

„Unbegreiflich, vollständig unbegreiflich,” fängt Excellenz jetzt wieder an, „seit zwei Stunden ist das Gefecht nun schon in vollem Gange. Der Kommandirende wird sich mit Recht darüber wundern, daß ich nicht zum Angriff vorgehe, daß ich keine Entscheidung herbeiführe. Aber was soll ich machen? Ehe ich nicht die Meldung habe, daß das rechte Seiten­detachement unter Major Aberg gegen die linke Flanke des Gegners vorgeht, kann ich nichts thun.”

Wieder schweigt Excellenz und sieht den Adjutanten an: der fühlt die moralische Verpflichtung in sich, seinen Herrn etwas zu trösten und sagt: „Dürfte ich Euer Excellenz einen Kognak anbieten?”

Aber auch hierfür dankt Excellenz. „Wenn ich nur wüßte, warum ich keine Meldung bekomme. Seit einer halben Stunde muß der Major doch schon das Wäldchen, von dem aus er zum Angriff vorgehen soll, erreicht haben. Wie wäre es, wenn wir einmal einen Meldereiter hinschickten oder wenn Sie selbst, lieber Emdorf, einmal hinritten, um sich genau über die Sachlage zu orientiren?”

Aber dieser Vorschlag findet bei dem Adjutanten absolut gar keine Gegenliebe. Er soll selbst reiten? Aber Excellenz, wie können Sie nur so etwas glauben. Er ruft sich einen Gefreiten herbei, instruirt den Mann und schickt ihn dann hinaus in die Welt: der mag sehen, wo er den Major findet.

Aber der findet ihn nicht — nach einer halben Stunde kommt er mit der Meldung zurück, daß der Major nicht da wäre, wo er sein sollte.

„Schafskopf,” ruft Excellenz, und es bleibt ungewiß, wen er damit meint, ob den Meldereiter oder den Major.

Wie es über ihn gekommen ist, weiß Excellenz selbst nicht, aber mit einem Male hat er Muth.

„Herr Major von Emdorf.”

Donnerwetter, das klingt dienstlich — die lange Gestalt des Adjutanten richtet sich im Sattel auf, die Cigarette fliegt in den Sand, die rechte Hand greift an den Helm. Schließlich ist die Excellenz ja immer noch Vorgesetzter — da ist nichts zu wollen.

„Euer Excellenz befehlen?”

„Reiten Sie, suchen Sie den Herrn Major, orientiren Sie sich und bringen Sie mir Meldung.”

„Zu Befehl, Euer Excellenz.”

Im Galopp stürmt der Gaul davon, über Gräben, Felder, Wiesen und Hecken geht der Weg, aber als der Adjutant da ankommt, wo er sein soll, sagt er sich: „Wie so Vieles bei dem Militär, war auch diese wilde Jagd überflüssig.”

Der Herr Major ist nicht da und die ihm unterstellten Truppen sind es noch weniger. Mit dem Glas wird die ganze Gegend abgesucht — es ist nichts zu sehen.

Als Excellenz diese Meldung erhielt, macht er, soweit dies überhaupt einer Excellenz möglich ist, ein sehr dummes Gesicht.

„Reiten Sie noch einmal, Herr Major,” wendet er sich an seinen Adjutanten, „Sie müssen das Detachement finden!”

Als der Adjutant diesen Befehl erhielt, macht er, soweit dies überhaupt einem Untergebenen möglich ist, ein sehr wütendes Gesicht — dann reitet er los, um seinen Unmuth zu zeigen, im sausenden Schritt.

Excellenz bleibt allein zurück und überlegt mit seinem scharfen Verstande die Frage: „Wo ist der Major mit seinem rechten Seiten­detachement?”

Ja, wo ist er? Ich weiß es: er hat sich verlaufen, aber er selbst ist daran ziemlich unschuldig. Als er am frühen Morgen von Sr. Excellenz den Spezialauftrag erhielt, marschirte er muthig, wie sich das für einen Stabsoffizier im Manöver gehört, mit seinem Bataillon von dannen. Der Punkt, wohin er sollte, war ihm angegeben und der Weg, den er marschiren sollte, auf der Karte bezeichnet. Karten lesen ist ein Kunststück, das nur Wahrsagerinnen verstehen — da der Herr Major mit einer solchen aber weder verwandt noch verschwägert war, überließ er das Lesen der Karte vollständig dem jungen Lieutenant, der die Spitze führte. Der marschirte lustig darauf los und als man endlich merkte, daß man sich verlaufen hatte, war es zum Umkehren zu spät. Kehrt machen gab es nicht — man mußte versuchen querfeldein nach dem befohlenen Punkt zu gelangen. Nur wer selbst einmal Soldat war, weiß, was es heißt, in einer Marschkolonne „querbeet” zu marschiren. Danke, Komma, das ist keine Freude. Der Herr Major befand sich in einer wahnsinnigen Aufregung, die dadurch nicht geringer wurde, daß er in dem morastigen Boden vom Pferd herunter und nun zu Fuß laufen mußte. Ein Segen für den jungen Lieutenant war es nur, daß der Bataillons­kommandeur, des Marschirens ungewohnt, weit hinter seiner Truppe zurückblieb — aber an liebenswürdigen Redensarten fehlte es auch so nicht. Nie sind die Berittenen schlechter zu sprechen, als wenn sie zu Fuß gehen müssen, und auf den armen Lieutenant redeten vier abgesessene Häuptlinge und ein Adjutant zu Fuß ein, von den anderen sechshundert Offizieren, Unteroffizieren und Mannschaften des Bataillons gar nicht zu sprechen.

Hinter einer Waldparzelle machte man endlich Halt, um wieder Ordnung in die Kolonne zu bringen — langsam kam Einer nach dem Anderen, als letzter kam der Herr Major. Aber wie sah er aus! Bei dem Versuch, über einen Graben zu springen, war er in den schlammigen Moorboden eingesunken, mühsam war er wieder hervorgeholt worden und nun stand er vor seinen Truppen wie ein kohlpech­rabenschwarzer Mohr. Während die Pferde herbeigeholt wurden, bemühte man sich, den Herrn Major etwas abzuwischen, leider fehlte es an Wasser, so war die Reinigung keine gründliche.

„Können wir antreten?” fragte der Kommandeur seine vier Hauptleute. „Alles in Ordnung?”

„Zu Befehl, Herr Major.”

„Stillgestanden. Das Gewehr —”

Aber das Kommando erstarb auf seinen Lippen, denn über das Manöverfeld schallte das Signal „Halt”. Das Manöver war für heute zu Ende.

„Die Herren mit dem langen Säbel.”

Im Galopp eilten die Herren zu seiner Excellenz, die Kritik begann.

„Ich wollte, diese Kritik währte ewiglich,” stöhnte der kleine Lieutenant Jedorf, der die Spitze und damit das Bataillon in das Unglück geführt hatte, „was soll ich thun, um ein Wiedersehen zwischen mir und dem Major zu verhindern?”

Es fiel ihm nimmer ein.

Da kam der Regimentsadjutant angesprengt: „Jedorf, Sie möchten doch gleich einmal zur Kritik kommen.”

Um Gottes willen, na, das konnte ja hübsch werden! „Mich seht Ihr für's Erste nicht wieder,” sprach er mit bleichen Lippen zu seinen Kameraden, dann ging er, wohin er gerufen war.

Nun war er da und vor ihm stand der ganze Vorgesetzte! Sein Hauptmann, der Major, der Herr Oberst, der Herr General, der Herr Divisions–Kommandeur und der kommandirende Herr General.

So viele Vorgesetzte und nur ein Untergebener.

„Ich melde mich ganz gehorsamst zur Stelle.” Der arme Lieutenant kann vor Angst kaum sprechen.

„Lieutenant von Jedorf?” fragt der Kommandirende.

„Zu Befehl, Euer Excellenz.”

„Sie sind ja ein ungemein tüchtiger Offizier, ich freue mich, Sie kennen zu lernen.”

Lieber grob, maßlos grob werden, als ironisch sein! Dem kleinen Lieutenant ist, als hätte er einen Schlag ins Gesicht bekommen, er fühlt, wie er sich verfärbt.

Der Kommandirende hebt einen Finger: „Danke.”

Lieutenant Jedorf will zu seiner Kompagnie zurückkehren, da flüstert ihm ein Adjutant zu: „Sie sollen noch warten, Excellenz will Sie nachher noch sprechen.”

Und der kleine Lieutenant wartet auf den gewaltigen Anpfiff, der ihm nachher zu Theil wird — abseits von den zur Kritik versammelten Herren steht er ganz für sich, er glaubt Aller Augen auf sich zu fühlen, er kommt sich vor wie ein Gebrandmarkter, er wagt nicht, in die Höhe zu sehen. Die Mannschaften, die in der Nähe lagern, merken instinktiv, daß irgend etwas nicht in Ordnung ist — sie blicken den Offizier neugierig an. Eine Viertelstunde verrinnt nach der anderen, der junge Lieutenant stirbt beinahe vor Scham — da, endlich, endlich ist die Kritik beendet, der Knäuel löst sich, die Berittenen kehren zu ihren Truppen zurück.

„Ach so ja, das hätte ich beinahe vergessen.” Der Herr Divisions­kommandeur, von seinem Adjutanten, der wüthend ist, daß er zweimal denselben Weg hat reiten müssen, daran erinnert, sprichts und sieht sich suchend um — in seiner Suite reiten der Herr General, der Herr Oberst, der Herr Major und der Herr Hauptmann.

Da hat er den Lieutenant Jedorf entdeckt — Excellenz winkt nur mit dem Finger und der Offizier tritt näher, er muß näher treten, ganz dicht heran.

Die Lippen fest aufeinander gepreßt, kreidebleich hört der junge Lieutenant an, was „der ganze Vorgesetzte” ihm zu sagen hat — wenn der Eine fertig ist, fängt der Andere an und endlich weiß auch der Letzte nichts mehr zu sagen.

Da darf der Offizier wieder eintreten.

„Nun, wie war es denn?” will scherzend ein Kamerad fragen, als Jedorf zur Kompagnie zurückkommt — aber es bleibt bei der Absicht, er bringt das Wort nicht über die Lippen, als er das wuthverzerrte Gesicht seines Freundes sieht.

„Immer ruhig Blut,” mahnt er, „immer ruhig Blut — die Vorgesetzten haben die Macht in Händen, dabei ist nun einmal nichts zu wollen. Wir können nichts Anderes wünschen, als daß einmal ein großes Ungewitter „den ganzen Vorgesetzten” von der Erde verschlingt. Möchten Sie das ?”

Da umspielt ein glückseliges Lächeln den Mund des armen Lieutenants Jedorf und mit bebender Stimme spricht er: „Gott, wie gerne wäre ich von dem Tage an Soldat.”

Und Alle, die dies Wort hören, pflichten ihm bei. —


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© Karlheinz Everts