Freiwillige vor

Humoreske von Freiherr von Schlicht
in: „Neue Hamburger Zeitung” vom 24.4.1898,
in: „Indiana Tribüne” vom 12.6.1898,
in: „Ein Adjutantenritt.” und
in: „Der Gefechtsesel.”

„Hansen, was tun Sie, wenn es plötzlich heißt: Freiwillige vor?”

„Ich mache Platz, Herr Unteroffizier, damit die Freiwilligen vortreten können.”

Ich weiß nicht, in welchem unsrer humoristischen Blätter ich kürzlich diesen Witz las, der neben seiner Komik sehr viel Wahres enthält.

Im Kriege können wir sicher sein, daß auf den Ruf „Freiwillige vor” sich mehr als genug melden, da will keiner zurückstehen, wenn es gilt sich auszuzeichnen, Ruhm und Lorbeer zu erwerben – im Frieden aber ist es etwas andres. –

Der Herr Oberst hat das große Glück, in seinem Regiment unter den Häuptlingen einen früheren Generalstäbler zu haben: Der Mann ist sein lebelang ein gewaltiger Schuster und ein noch größerer Diensthuber gewesen, so hat er es eben fertig gebracht, daß er Jahr ein Jahr aus Adjutant war und schließlich zur Kriegsakademie kam. Wer dort fleißig und nicht gar zu töricht ist, wird nach Beendigung des dreijährigen Kursus vorläufig auf ein Jahr zum Generalstab kommandiert, und von dem, was sie hier leisten, hängt es ab, ob sie wieder in die Front zurückversetzt werden oder ob sie dauernd in der großen Bude, wie das Generalstabsgebäude allgemein benannt wird, bleiben. Der Herr Hauptmann war nach Ablauf des einen Jahres wieder in die Front gekommen – nicht weil es ihm etwa an den nötigen geistigen Fähigkeiten fehlte, sondern weil ihm, nach seiner Meinung, bittres Unrecht geschehen war, und weil Protektion der minder Begabten, die aber hohe Verwandte besaßen, wieder einmal den Sieg über die wahre Tugend davongetragen hatte. Die Leute, die im Generalstab sitzen, können gar nichts – wahrhaft bedeutend sind nur die Leute, die vorübergehend in der großen Bude arbeiteten.

Wer das nicht glaubt, frage einen gewesenen Generalstäbler, der wird ihm die Wahrheit meiner Behauptung bestätigen.

Der Herr Hauptmann hält sich also für einen geistig hochbefähigten und hochbedeutenden Menschen: er, der in der großen Bude mit Armeen und Divisionen operierte, hält es unter seiner Würde, eine Kompagnie zu exerzieren, er tut es aber dennoch, weil es befohlen ist. Er blickt mit einer gewissen Geringschätzung auf die unteren Hauptleute, er verkehrt nur mit Stabsoffizieren, am liebsten mit dem Herrn Oberst selbst.

Wer viel weiß, hat den Wunsch und das Bedürfnis, geistig weniger Bemittelten von seinem embarras de richesse abzugeben, und so gehört der Häuptling denn bald zu den meist gehaßten Leuten im Regiment, alles weiß er besser als andre Leute, auf irgend welchen Disput läßt er sich nicht ein, das ist für ihn ja höchst überflüssig, wessen Ansicht ist maßgebender als die seine? – er war ja im Generalstab.

Und eines schönen Tages machte er die Entdeckung, daß das theoretische Wissen der jungen Offiziere doch noch mangelhaft ist – er hatte seinem Oberleutnant eine Anekdote auf französisch erzählt, und dieser hatte, anstatt zu lachen, wie sich das für einen Untergebenen gehört, wenn der Vorgesetzte einen Witz erzählt, einfach gesagt: „Wie befehlen der Herr Hauptmann?”

Der Häuptling hatte eine schlaflose Nacht verbracht und sich am nächsten Morgen dem Herrn Oberst gegenüber freiwillig bereit erklärt, täglich den sich dafür interessierenden Herren französischen Unterricht zu erteilen.

Der Herr Oberst strahlte bei dieser Mitteilung vor Vergnügen und erließ sofort einen Regimentsbefehl: „Heute mittag um zwölf Uhr versammeln sich sämtliche Herren Offiziere im beliebigen Anzug im Offizierskasino.”

Pünktlich zur befohlenen Zeit waren alle Herren versammelt, von dem etatsmäßigen Stabsoffizier bis zum jüngsten Leutnant, und allen drängte sich die Frage auf: „Was gibt es? Was ist los? Warum hat man uns hierher befohlen?”

Erwartungsvolle Stille.

Da erscheint der Herr Oberst.

„Meine Herren,” beginnt er, „ich habe Sie hierher gebeten, um Ihnen eine sehr erfreuliche Mitteilung zu machen!”

„Er hat den Abschied eingereicht,” denkt der eine.

„Unser Los hat in der Lotterie gewonnen,” vermutet der zweite, „endlich werde ich meine Schulden los.”

„In diesem Jahr fällt das Manöver aus,” frohlockte der dritte.

„Meine Herren,” fährt der Herr Oberst fort, „ich will Ihnen die freudige Mitteilung nicht länger vorenthalten, Herr Hauptmann von Aberg hat sich in liebenswürdigster Weise bereit erklärt, allen Herren des Regiments, die sich dafür interessieren, täglich Unterricht in der französischen Grammatik und in der französischen Konversation zu geben.”

Totenstille – niemand rührt sich, hat der Schrecken ihre Glieder gelähmt oder hat die plötzliche Freude sie still gemacht?

„Meine Herren,” begann der Herr Oberst wieder, „ich sehe das freudige Erstaunen in Ihren Mienen und bitte zunächst von den jüngeren Herren diejenigen vorzutreten, die an dem Unterricht teilzunehmen wünschen.”

Es ist, als wenn jemand gerufen hätte: „Freiwillige vor”, und die Herren Leutnants machen es, wie der Musketier Hansen in der am Eingang erzählten Anekdote: sie treten beiseite, damit die Freiwilligen vortreten können, aber es tritt keiner vor.

Verlegene Stille, erwartungsvolle Pause.

„Meine Herren,” sagt der Herr Oberst, „ich brauche Sie nicht darauf aufmerksam zu machen, wie ungemein wichtig für den nächsten Feldzug die absolute Beherrschung der französischen Sprache ist, jetzt bietet sich Ihnen die Gelegenheit, sie zu erlernen, einen Zwang will ich selbstverständlich nicht ausüben, ich möchte, daß die Herren sich freiwillig an dem Unterricht beteiligen. Ich bitte noch einmal: Freiwillige vor.”

Nun hat der Herr Oberst sogar die Worte ausgesprochen, halb ernst, halb scherzend – aber das Resultat ist dasselbe, nur daß dieses Mal die Herren Leutnants noch mehr Platz machen, damit die Freiwilligen vortreten können. Aber es tritt niemand vor.

Ungeduldig dreht der Herr Oberst die Spitzen seines langen Schnurrbarts, dann sagt er: „Ich lasse den Herren Leutnants zwei Minuten Zeit, sich die Sache zu überlegen.”

Und nun gehts los. Einer redet auf den andern ein.

„Melde du dich doch.” „Ich denke gar nicht daran.” „Ich müßte ja verrückt sein, wenn ich freiwillig solchen Unfug mitmachte.” „Du bist der jüngste.” „Gerade deshalb melde ich mich nicht, ich bin zu jung.” „Und ich zu alt.”

Die zwei Minuten sind verstrichen.

„Nun?” fragt der Herr Oberst – seine Schnurrbartspitzen zittern, seine Augen rollen, und das Beben seiner Stimme verrät nichts Gutes.

Die Herren Leutnants treten bis an die Wand zurück, damit die Freiwilligen vortreten können.

Aber es tritt keiner vor.

„So muß ich einige der Herren Leutnants kommandieren,” und eben hat er noch gesagt, er wolle keinen Zwang ausüben, „und zwar bestimme ich die drei jüngsten Sekond- und die drei ältesten Oberleutnants. Den Herren Leutnants danke ich.”

Der Herr Oberst bleibt mit den Hauptleuten und Stabsoffizieren zurück und wählt sich auch aus ihnen „Freiwillige” aus, und als die Offizierbesprechung zu Ende ist, haben sich im ganzen vierzehn Herren freiwillig zu dem französischen Kursus gemeldet – Hauptmann von Aberg kann mit dem Resultat zufrieden sein, sein Vorschlag hat Beifall gefunden.

Ja, ja, mit dem Ruf „Freiwillige vor” ist das manchmal eine eigentümliche Geschichte. Ein Armeekorps hatte einmal einen neuen kommandierenden General erhalten: so etwas ist für die unterstellten Truppen unangenehm, denn man weiß nie, wie „der neue Herr” ist, ob besser oder schlechter als sein Vorgänger.

Vorgänger führen wenigstens beim Militär ihren Namen davon, daß sie im Abschiednehmen „vorangehen”.

Die neue Exzellenz war da, das ließ sich nun nicht ändern – ganz besonders traurig stimmte es aber die Beteiligten, daß sie kurz vor der Bataillonsbesichtigung gekommen war. So etwas ist immer scheußlich, von einer Besichtigung hängt viel, oft alles ab, und nie kann man es einem hohen Herrn recht machen, wenn man nicht weiß, wie er es haben will. Das ist noch schwieriger als schwierig.

Mit Ausnahme desjenigen, der zuerst besichtigt wurde, freute sich jeder, nicht der Erste zu sein. Zwar konnte man der Vorstellung, da sie in einer andern Garnison stattfand, nicht persönlich beiwohnen, aber das schadete auch nichts, von guten Freunden und lieben Kameraden würde man schon erfahren, worauf Exzellenz besondern Wert legten.

Am Tage nach der Besichtigung wußte denn auch schon das ganze Armeekorps, daß das erste Bataillon bei der Vorstellung mächtig hineingesegelt war. Ganz besonders hatte der Kommandierende sich darüber erbost, daß auf seinen Ruf „Freiwillige vor” nicht ein einziger Mann vorgetreten war.

Der hohen Exzellenz konnte geholfen werden – wenn die Untergebenen erst einmal wissen, was die Vorgesetzten haben wollen, sorgen sie auch dafür, daß es gemacht wird.

So kam Se. Exzellenz auf seiner Besichtigungsreise auch nach der kleinen Garnison, in der ein detachiertes Bataillon stand.

Die Truppe war tadellos aufgebaut, die Paradeaufstellung war über jedes Lob erhaben, die Kerls standen wie eine Mauer, als Se. Exzellenz die Front abritt, und er kargte nicht mit den Worten der höchsten Anerkennung.

Der Herr Major sah sich im Geiste wenigstens drei Jahre vorpatentiert.

„Bitte lassen Sie Gewehr ab nehmen.”

„Zu Befehl, Euer Exzellenz. Das Gewehr – über. Gewehr – ab.”

Se. Exzellenz eilt vor die Mitte des Bataillons und spricht mit lauter Stimme: „Das war bis jetzt gut, sogar sehr gut,” und dann nach einer Pause: „Freiwillige vor.”

Und wie von der Tarantel gestochen, sprangen von jeder Kompagnie acht Mann, die bei dem Rangieren der Kompagnie von dem Feldwebel als „Freiwillige vor” eingeteilt worden waren, vor die Front – das ging wie das Donnerwetter, nicht umsonst war das „Freiwillige vor” auf dem Kasernenhof ein dutzendmal eingeübt worden. Der Kommandierende wandte sich an seinen Adjutanten: „Zählen Sie, bitte, einmal nach, wieviel es sind, oder wissen Sie es zufällig so, Herr Major?”

Der wußte es natürlich ganz genau, aber er hütete sich, es zu verraten, wieviel Leute „freiwillig” vorgetreten waren – er selbst hatte ihre Zahl ja durch Bataillonsbefehl geregelt.

„Zweiunddreißig, Euer Exzellenz,” meldete der Adjutant.

Der Kommandierende versank in tiefes Nachdenken: „Das ist wenig,” sprach er endlich, „sehr wenig, auffallend wenig.”

Dann setzte er sein Pferd in Bewegung und ritt die Front der vorgetretenen Leute ab – „kein einziger Einjähriger,” hörte man ihn einmal vor sich hinsagen, dann ritt er durch die Reihen des in Breitkolonne stehenden Bataillons.

Da hielt Se. Exzellenz plötzlich vor einem Einjährigen sein Pferd an. „Sie sind Einjährig-Freiwilliger, wie ich sehe?”

„Zu Befehl, Euer Exzellenz.”

„Und warum sind Sie denn nicht vorgetreten?”

„Weil ich nicht als Freiwilliger eingeteilt worden bin, Euer Exzellenz.”

Der kommandierende General sah den Divisionskommandeur an, dieser den Brigadekommandeur, dann sehen alle hohen Herren ihre Adjutanten an, dann sehen die Adjutanten sich untereinander an, und endlich sahen sie alle den Herrn Major an.

Und der Herr Major sah verzweifelnd die hohen Herren an, er wußte sich ihre Blicke nicht zu deuten.

Da schien dem Adjutanten des Kommandierenden plötzlich ein Licht aufzugehen, er wandte sich seinem Brotherrn zu und flüsterte diesem einige Worte ins Ohr, und bei der Besprechung, die Se. Exzellenz gleich darauf mit den berittenen Offizieren vor der Front abhielt, klärte sich das Mißverständnis. Se. Exzellenz interessierte sich dafür, in jeder Garnison zu erfahren, wieviel Freiwillige – sowohl ein- wie zweijährige – jeder Truppenteil habe, weil er der richtigen Ansicht war, daß ein Mann, der sich freiwillig stellt, ein besserer Soldat ist, als einer der „gezogen” wird.

Aus diesem Grunde hatte der Herr General in jeder Garnison „Freiwillige vor” kommandiert.

Armer Herr Major, wie unglücklich saßest du, der du vor kurzem noch von drei Jahren Vorpatentierung träumtest, auf deinem Pferde, während Se. Exzellenz seinem Herzen Luft machte: „Herr,” donnerte der Kommandierende, „Mißverständnisse sind überall möglich, aber mir derartig Sand in die Augen streuen zu wollen, die Freiwilligen zu kommandieren, das ist eine Sache, die ich überhaupt nicht verstehe, für die ich absolut keine Worte, hören Sie wohl, Herr Major, absolut keine Worte habe.”

Und der Herr Major hörte, leider hörte er nur zu gut, Se. Exzellenz sprach so laut, so klar und deutlich, daß der Herr Major ihn nicht nur hören, sondern auch verstehen mußte.

Am Nachmittag desselben Tages reichte der Herr Major seinen Abschied ein, hätte er ihn nicht genommen, so hätte er ihn sicherlich bekommen. Von zwei Übeln soll man aber stets das kleinere wählen, und so trat der Herr Major zum Abschied „freiwillig vor”.


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© Karlheinz Everts