Der Familientag.

Humoreske von Freiherr von Schlicht,
in: „Dortmunder Zeitung” vom 30.5.1902,
in: „Hagener Zeitung” vom 7.6.1902,
in: „Neue Hamburger Zeitung” vom 14.6.1902,
in: König Eduards Testament” und
in: Der Mann mit den vier Frauen”


Die Familie derer von und zu Bebitz wollte ihren Familientag feiern, den ersten, so lange das Geschlecht bestand, und dies war uralt. Bis auf Karl den Dicken konnte der Stammbaum zurückgeführt werden, und anscheinend mit voller Richtigkeit; denn alle Bebitze erfreuten sich von jeher einer stattlichen Leibesfülle. Schwer wie ihr Körper war auch ihr Geist, sie waren träge und liebten die Bequemlichkeit über Alles. Damit hing es auch zusammen, daß trotz aller Versuche, die in denn letzten Jahren von einem General gemacht worden waren, nie ein Familientag zusammengekommen war. Erstens war der Familiensinn derer von und zu Bebitz nicht besonders entwickelt, hauptsächlich waren sie aber alle viel zu bequem, um alljährlich auf Reisen zu gehen, im Hotel herumzuliegen und die eigene Häuslichkeit zu entbehren. Und so wäre wohl auch in diesem Jahre nichts aus dem geplanten Familientag geworden, wenn nicht eine besondere Veranlassung vorgelegen hätte.

Im fernsten Ostpreußen, in einer kleinen Ackerstadt, die nur viertausend Einwohner zählte (und dies auch nur an den Tagen, an denen sämtliche Bewohner vom ältesten Mummelgreis bis zum jüngsten Säugling anwesend waren) wohnte das älteste Mitglied derer von und zu Bebitz, eine alte Dame, die jetzt ihren achtzigsten Geburtstag feierte. Selbst eine geborene Bebitz hatte sie später einen Bebitz geheiratet und mit diesem bis zu seinem Tode auf einem großen Gute in der Nähe der kleinen Stadt gelebt; hinterher hatte sie sich dann in der Stadt selbst ein sehr schönes Haus bauen lassen, weil sie sich nicht entschließen konnte, aus der Gegend fortzuziehen. Die alte Dame war sehr reich, und da sie nicht die Hälfte ihrer Zinsen aufbrauchte, vergrößerte sich das Kapital fortwährend — — ihr selbst zur Freude, aber denen, die da einst zu erben hofften, nicht zum Leide. Die Aussicht auf diese Erbschaft war es denn auch, die alle dieses Mal dem Plan des Generals zustimmen ließ, nicht nur der alten Dame persönlich zu gratulieren, sondern bei der Gelegenheit auch den ersten Familientag abzuhalten, der dann alljährlich wiederholt werden sollte.

Der General hatte die schönsten Statuten und Paragraphen ausgearbeitet; er wollte die Anregung zu einer Familienstiftung geben, und soweit die vorsichtig eingezogenen Erkundigungen den Schluß zuließen, war die alte Dame bereit, diesem Fond mit einer namhaften Summe sehr energisch auf die Beine zu helfen. So begaben sich denn die Bebitze auf Reisen und die einzige, die sich mit Ausnahme des Generals wirklich auf den Familientag freute, war die alte Dame, die glücklich war, alle, die mit ihr denselben Namen trugen, am Abend ihres Lebens noch einmal um sich versammelt zu sehen.

Die Bebitze kommen! In der kleinen Stadt rief die Kunde eine gewaltige Aufregung hervor: einen lebendigen General hatten die guten Leute seit Jahren nicht gesehen, denn selbst die Manöver verirrten sich nur alle Jahrzehnte einmal in diese von jeder Kultur verlassene Gegend. Ein General kam, ein Hofjägermeister, ein Kammerherr, der seine Schlüssel nicht wie andere Leute in der Tasche, sondern hinten auf dem Rock trug, ein paar Leutnants kamen, unter diesen einer, der bei der Gardekavallerie stand, und von den Damen war eine sogar früher Oberhofmeisterin bei einer regierenden Fürstin gewesen. Alle freuten sich auf das Eintreffen so vieler und vornehmer Gäste, am meisten aber freuten sich die Kinder, denn sie rechneten mit tötlicher Sicherheit darauf, daß an diesem Tage die Schule ausfallen würde.

Welchen Anteil die ganze Bevölkerung an dem kommenden Ereignis nahm, zeigte sich so recht, als es sich um die Unterbringung der Gäste handelte. Die alte Dame konnte keinen Logierbesuch haben, und so bildete sich unter dem Vorsitz des Bürgermeisters ein Komitee, das es unternahm, die Fremden in Privathäusern unterzubringen. Auf den Gedanken, einen der Bebitze in dem einzigen anständigen Hotel einzuquartieren, kam niemand, und das hatte seinen guten Grund: Der Wirt hieß nämlich auch von Bebitz; er trug denselben Namen, aber er gehörte doch nicht mit zur Familie, und deshalb mußte man es vermeiden, die anderen Bebitze mit ihm in Berührung zu bringen.

Als die Bebitze endlich unter der Anteilnahme der ganzen Bevölkerung ihren Einzug gehalten hatten und von ihren freundlichen Gastgebern erfuhren, daß es im Städtchen einen Gastwirt ihres Namens gäbe, waren sie alle mehr oder weniger unangenehm berührt, und noch am späten Abend fand in dem Quartier des Herrn Generals eine geheime Beratung aller Herren darüber statt, wie man sich diesem Namensvetter gegenüber benehmen solle. Dem Herrn General fiel dieser Mann schwer auf die Nerven, fast noch mehr als dem jungen Gardeleutnant; er wünschte ihn zum Teufel, aber da er trotzdem dablieb, mußte ein Ausweg gefunden werden: Ihn ganz schneiden, seine Existenz einfach wegleugnen, konnte man nicht, man mußte wenigstens pro forma ein gewisses wohlwollendes Interesse für ihn an den Tag legen, auch der Welt zeigen, daß man nicht stolz, sondern leutselig war. So wurde denn die Parole ausgegeben: morgen vormittag nach der offiziellen Gratulationskur gehen sämtliche männliche Mitglieder derer von und zu Bebitz in das Hotel „Zum goldenen Apfel”, frühstücken dort eine Kleinigkeit und geben dem Wirt etwas zu verdienen.

Der Vorschlag fand allseitigen Beifall. Zwar hatten die jungen Leutnants zuerst ihre Bedenken, ob man in der Kneipe auch etwas werde essen können, aber schließlich stimmten auch sie zu, nachdem der Herr General erklärte, er würde den Wirt vorher benachrichtigen, damit er sich darauf einrichten könne.

Das geschah, und als die Herren am nächsten Vormittag in großer Gala den „Goldenen Apfel” betraten, fanden sie dort einen so ausgezeichneten Frühstückstisch vor, wie sie ihn in ihren kühnsten Träumen nicht erwartet hatten. Für einen Augenblick beherrschte alle dem Wirt gegenüber eine gewisse Verlegenheit, denn der Mann war und blieb nun doch einmal ein Bebitz; aber er war so treu und bieder, so einfach und schlicht in seinem Wesen, so jovial und gemütlich, daß einer nach dem anderen ihm die Hand gab. Und wie es schließlich kam, wußte niemand, nach einer kleinen Stunde saß der Wirt plötzlich zwischen dem Herrn General und dem Herrn Hofjägermeister, und beide stießen mit ihm an und tranken ihm zu.

Es war überhaupt riesig gemütlich, und fast noch besser als das Essen waren die Weine.

„Man merkt es doch, daß Sie Bebitz heißen,” meinte der dicke Rittergutsbesitzer, „Sie wissen, was gut schmeckt. Na, prosit, Herr — — Herr Wirt.”

In der heiteren Stimmung, in der er sich befand, hätte er beinahe „Herr Vetter” gesagt, aber gottlob besann er sich noch im letzten Augenblick und schluckte das Wort herunter. Es gab ja genug wirkliche Bebitze, mit denen man sich anfreunden mußte, und man freundete sich an. Gestern hatten sich die einzelnen Herren einander offiziell vorgestellt und sich gegenseitig berochen, heute trat man einander näher, man wurde bekannt und intim. Deshalb war man doch schließlich auch zusammengekommen.

Um vier Uhr war das offizielle Diner, und um drei Uhr machte der Herr General den schüchternen Vorschlag, die Sitzung aufzuheben. Er tat es ungern, denn der Wirt wußte so brillant zu erzählen, daß er aus dem Lachen gar nicht herauskam, und in seiner Sofaecke fühlte er sich mehr als behaglich. Seine stille Hoffnung ging in Erfüllung, sein Antrag, nach Haus zu gehen, wurde einstimmig abgelehnt, und mit der tiefsinnigen Bemerkung: „Na, dann bleiben wir also noch sitzen,” leerte er sein Glas.

Nach einer guten halben Stunde mahnte der General aufs neue. Diesesmal war es ihm Ernst, es wurde die höchste Zeit, man mußte doch die Damen abholen und sich außerdem wenigstens noch die Hände waschen. Aber auch jetzt fand er keinen Beifall.

„Wißt Ihr was,” meinte da der Kammerherr, der sehr fleißig gefrühstückt hatte, „ich schlage vor, daß wir überhaupt nicht zu dem Diner hingehen. Was sollen wir da? Gratuliert haben wir ja schon, so gemütlich wie hier sitzen wir da doch nicht, satt sind wir alle, und ob die Weine da besser sind als hier, ist noch sehr die Frage. Ich bleibe hier sitzen und wenn die alte Dame mich zur Strafe enterbt, na, dann enterbt sie mich, sterben muß ich ja doch. Und deshalb sage ich: wem die Erbschaft gleichgültig ist, der bleibt mit mir hier sitzen, wer weiß, ob wir in unserem ganzen Leben noch einmal so gemütlich zusammenkommen.”

Der dicke Rittergutsbesitzer war aufgestanden und gab dem Kammerherrn einen Kuß: „Du bist mein Mann — — ich bleibe bei Dir.”

Und der junge Gardekavallerieoffizier, der sich anscheinend nicht mehr ganz sicher auf den Füßen und im Kopf fühlte, sagte: „Ich auch.”

„Ich auch,” rief der Wirt, der selbstverständlich gar nicht zu dem Diner eingeladen war, und alle wollten sich über den famosen Witz halb tot lachen.

Der General rang verzweifelt die Hände, und mit zündenden Worten suchte er seine lieben Vetter darauf aufmerksam zu machen, daß ihr Vorhaben unmöglich und unausführbar sei. „Meine Herren . . . das ehrwürdige Geburtstagskind . . . unsere Damen . . . der Familientag . . . die Statuten . . . die Familienstiftung . . . es geht nicht, es geht absolut nicht.”

„Wetten, daß es doch geht,” rief lustig der Kammerherr.

Und der Kampf entbrannte aufs neue.

Da schlug es vier Uhr.

„Wer ein Ehrenmann ist, der folgt mir,” rief der General und stürmte davon.

„Wer kein Erbschleicher ist, bleibt sitzen,” rief der Kammerherr, und setzte sich energisch auf seinem Stuhl zurecht.

Und alle blieben sitzen. Der General hatte ihnen, mehr oder weniger gegen ihren Willen, den Familientag eingebrockt, und nun konnte er ihn in Gestalt des Diners auch allein ausessen. Das war der kurze Inhalt einer langen Rede, die der Kammerherr hielt, und die freundlichen Beifall fand.

Noch einmal erschien der General als Abgesandter der Damen, um die Herren zum Kommen zu bewegen.

„Wer nicht zeigen will, daß er unter dem Pantoffel steht, bleibt sitzen,” rief der Kammerherr, der gänzlich unverheiratet war, und auch dieses Mal trug er den Sieg davon.

Stolz waren die Bebitze gekommen, kleinlaut mit einem großen physischen und einem noch größeren moralischen Katzenjammer reisten sie am nächsten Tag wieder ab. Der erste Familientag war zugleich auch der letzte, die erhoffte Erbschaft blieb aus, nur einer erbte eine schöne Summe, der Hotelwirt — „in besonderer Anerkennung der Tatsache, daß er kein Bebitz war.”


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