Ererbtes Blut.

Erzählung aus dem Militärleben von Freiherrn von Schlicht.
in: „Hamburger Nachrichten”, belletristisch-literarische Beilage, vom 17.2.1901 und
in: „Ein Ehrenwort”.


Wenn es in dem Infanterie-Regiment Prinz Louis Ferdinand einen Kameraden gab, der sich allseitiger Beliebtheit erfreute, so war es der kleine Leutnant „Schulze mit dem tz”, wie er von einem „Witzbold” getauft worden war, weil er es im Anfang immer übel nahm, wenn man ihn fragte: „Nicht wahr, Sie schreiben sich doch auch mit einem tz?”

Leutnant Schulze gehörte zu jenen beneidenswerten Menschen, denen man bei dem ersten Mal, da man sie sieht, gut sein muß. Er war mittelgroß, eher ein wenig kleiner, von schlanker, aber dabei kräftiger und muskulöser Figur. Sein völlig bartloses Gesicht hatte mit den roten Wangen und den großen blauen Augen etwas kindlich Rührendes. Aber daß der kleine Schulze trotz seines fast mädchenhaften Gesichtes und trotz seiner jungen Jahre — er zählte kaum zweiundzwanzig — ein ganzer Mann war, das hatte er bewiesen, als er eins Tages in voller Uniform in das Wasser sprang, um einen Ertrinkenden von dem sicheren Tode zu retten — die Rettungsmedaille am goldenen Bande schmückte seine Brust.(1)

„Der wird,” hatten alle Offiziere gesagt, als Schulze sich nach seinem Austritt aus dem Kadettenkorps: „Durch Allerhöchste Kabinettsordre in das Regiment versetzt,” bei seinen Vorgesetzten gemeldet hatte, „der wird, um den brauchen wir uns keine Sorgen zu machen.” Man sieht's dem Fähnrich, wenn er zum ersten Mal Dienst tut und wenn er zum ersten Mal im Offizierskasino speist, an, wie er sich entwickeln wird, und der kleine Schulze hatte gehalten, was der erste Eindruck, den er machte versprach. Trotz seiner Jugend war er nicht nur der diensteifrigste Offizier, sondern auch seine Kenntnisse, sein Fleiß, und sein Streben, sein Wissen zu bereichern, sicherten ihm eine Ausnahmestellung. Die Folge war, daß er von seinen Vorgesetzten verzogen wurde, denn jeder arbeitet beim Militär lieber mit einem tüchtigen, als mit einem untüchtigen Untergebenen. Gar mancher wäre stolz, hochmütig und eingebildet geworden an seiner Stelle, aber Leutnant Schulze blieb wie er gewesen war, bescheiden in seinem Auftreten, zuvorkommend gegen die Aelteren. Er war nun einmal der kleine „Schulze”, für den die Untergebenen durch das Feuer gingen und der sich überall der größten Beliebtheit erfreute. Das hatte sich so recht gezeigt, als er vor ungefähr einem Jahr seine Mutter verloren hatte, an seinem Schmerz, an seiner Verzweiflung hatten alle teilgenommen, die Kameraden waren mit ihm traurig gewesen, und sie hatten ihn zu trösten versucht, so gut sie es vermochten. Denn alle wußten es, der kleine Schulze hatte eine traurige Jugend hinter sich, er hatte sogar einmal geäußert: ich habe nie eine Jugend gehabt. Ueber dem Tod seines Vaters schwebte ein geheimnisvolles Dunkel, man wollte wissen, daß er einen ehrenvollen Tod einem ehrlosen Leben vorgezogen und Hand an sich selbst gelegt hatte. Der kleine Schulze sprach nie von seinem Vater. Mit desto größerer Liebe dagegen hing er an seiner Mutter, und als er die nachricht von ihrem Tode erhielt, war er so verzweifelt gewesen, daß die Kameraden für seine Gesundheit ernstlich zu fürchten begannen; er redete irre und hörte auf keinen Zuspruch.

„Nun sterb' ich auch bald, ich weiß es.” Immer wieder hatte er diese Worte gerufen, und als er abreiste, um seiner Mutter das letzte Geleit zu geben, hatte auf Wunsch des Kommandeurs ein Kamerad ihn begleitet, da man fürchtete, daß er sich ein Leid antun würde.

Die alles heilende Zeit hatte auch seinen Schmerz gelindert, er wurde wieder lustig und fröhlich, zumal sich auch seit dem Tode der Mutter seine finanzielle Lage gebessert zu haben schien. In den ersten Jahren hatte er sich mit einer sehr geringen Zulage durchquälen müssen, aber nie war ein Wort der Klage über seine Lippen gekommen, nie hatte er sich von einer allgemeinen Veranstaltung, von einem Liebesmahl oder einem anderen Feste ausgeschlossen, er hatte stets alles mitgemacht, — wie er das anfing, war auch seinen intimsten Freunden ein Rätsel. Einmal hatten sie ihn darnach gefragt, und da hatte er die Antwort gegeben: „Für mich hat der Taler nicht dreißig Silbergroschen, sondern dreihundert Pfennige, und ich rechne nur mit Pfennigen.” Jetzt stand er sich besser, zwar lebte er immer noch einfach und bescheiden, aber doch hin und wieder gestattete er sich doch einmal eine kleine Extra-Ausgabe, — ja, er hatte sich sogar seinen sehnlichsten Wunsch, sich ein Klavier leihen zu können, erfüllt.

Der kleine Schulze war durch und durch musikalisch, er spielte jede Melodie, die er einmal gehört. Mit seiner zwar nicht ausgebildeten, aber doch ansprechenden Stimme sang er jedes Lied, das er einmal vernommen. So war er im Kasino ein unersetzlicher Gesellschafter, und auch heute umringten ihn die Kameraden und baten ihn, sich an's Klavier zu setzen.

„Sträuben Sie sich nicht erst,” rief ein Kamerad, „es hilft Ihnen doch nichts. Es ist Sonnabend Abend. Vor Montag Vormittag ist kein Dienst, „die lange Nacht”, wie diese dienstfreie Zeit nun einmal genannt wird, hat eben begonnen. Was sollen wir machen? Zu Bett gehen kann man als erwachsener Mensch doch noch nicht, für das Theater ist es zu spät, Gesellschaften sind heute nicht, na, und einen Bummel machen? Selbst wenn man das Glück hat, wie wir es haben, in einer so großen Garnison zu stehen, die fast soviel Vergnügungen und Zerstreuungen aller Art bietet, wie Berlin — selbst dann kommt einem auf die Dauer die Großstadt sehr klein vor und man weiß nicht, wohin man gehen soll. Bleiben wir also heut im Kasino.”

Alle stimmten dem Sprecher zu, und von neuem wurde der kleine Schulze bestürmt, zu spielen.

„Zieren Sie sich doch nicht wie ein kleines Mädchen, das sich erst zwanzig Mal bitten läßt, ehe es ,das Gebet einer Jungfrau' zum Besten gibt,” rief ein anderer Kamerad, „Sie sind doch sonst nicht so!”

„Es geht wirklich nicht, Herrschaften,” bat der kleine Leutnant, „heute nicht, ein anderes Mal gern — ich habe mich verabredet.”

„O komm, o komm zum Stelldichein, Du süßes Lieb, ich harre Dein,” sang da ein Adjutant mit gräßlich falscher Stimme. „Sie kennen doch den hübschen Walzer aus „Wiener Blut?”(2)

„Das versteht sich,” lautete die Antwort, „aber in dem Punkte können die Herren ganz ruhig sein: wenn es sich um ein Rendezvous handelte, würde ich mich nicht lange bitten lassen, obgleich Frauendienst vor Herrendienst geht, — was ich vorhabe, kann ich nicht sagen, aber ich muß fort.”

„Schließ' doch mal einer die Türen schnell ab,” rief da eine Stimme, und mit lautem Halloh wurde der Rat befolgt.

„So, Schulze, mitgefangen — mitgehangen. Nun müssen Sie mit den Wölfen heulen, da hilft Ihnen kein Exerzier-Reglement!”

Der kleine Schulze mochte einsehen, daß jeder weitere Widerstand vergeblich sei. „Ich füge mich der Gewalt,” sagte er halb lachend, halb ernst, „eine Stunde will ich noch bleiben, dann aber muß ich fort, und wenn's nicht zur Tür hinausgeht, springe ich aus dem Fenster!”

Gleich darauf griff er in die Tasten, aber er spielte heute nicht so gut wie sonst, er war nicht bei der Sache, man merkte ihm an, daß er wider seinen Willen am Klavier saß, und nachdem kaum eine halbe Stunde vergangen war, sprang er plötzlich auf: „Tut mir den einzigen Gefallen, Herrschaften, und laßt mich fort!” bat er. „Ihr hört ja selbst: ich kann heute nicht spielen, es ist mir nicht möglich — es geht nicht anders, ich muß fort! Bitte, bitte, laßt mich hinaus!”

Er sprach so erregt, so leidenschaftlich, daß die anderen ihn verwundert anblickten.

„Aber Schulze mit dem tz, was haben Sie denn nur?” fragte ein älterer Kamerad, „man kennt Sie ja garnicht wieder. Selbstverständlich halten wir Sie nicht mit Gewalt, aber lieber wäre es uns gewesen, Sie blieben heute hier. Wir bleiben, wenn auch nicht gerade die nächsten vierundzwanzig, so doch sich die nächsten vier Stunden hier noch sitzen. Wenn Sie können, kommen Sie vielleicht nachher noch wieder her?”

„Wenn ich es irgend machen kann, gewiß — — selbstverständlich,” gab er zur Antwort, „aber nicht wahr, die Herren sind mir nicht böse, daß ich gehe? — Aber ich muß fort!”

Nach flüchtiger Verabschiedung entfernte er sich, und betroffen sahen ihm die anderen nach. Für einen Augenblick herrschte tiefes Schweigen, dann aber sprach plötzlich eine Stimme: „Da macht wieder einmal einer einen dummen Streich oder wie das wahre und alte Wort sonst heißt. Wenn mit dem kleinen Schulze nicht irgend etwas nicht in Ordnung ist, will ich mich freiwillig nach der kleinsten und langweiligsten Garnison, die wir überhaupt haben, versetzen lassen.”

Aber die anderen nahmen den Abwesenden in Schutz. „Was soll denn da wohl in Unordnung sein? Eine Verabredung, die er aus irgend welchen Gründen festhalten muß, voilà tout —, nein, bei dem können wir ganz ruhig sein.”

Während die Kameraden sich noch über ihn unterhielten, ging der kleine Schulze mit schnellen Schritten seiner Wohnung entgegen, und eilte, als er das Haus erreichte, mit großen Sprüngen die Treppe hinauf. Sein Bursche erwartete ihn bereits und öffnete ihm die Tür.

„Nun aber schnell, Paulsen, es ist später geworden als ich dachte.”

„Der Zivilanzug liegt schon parat, Herr Leutnant,” gab der Bursche zur Antwort, „die Wäsche auch.”

„Es ist gut,” lobte der kleine Leutnant, dann kleidete er sich schnell an und verließ wenig später wieder seine Wohnung. Er rief einen der vorüberfahrenden Wagen an, und eine kleine Viertelstunde später hielt er vor dem Union-Hotel. Eilfertig stürzte der Portier herbei und zog, als er den Gast erkannte, sehr tief die Mütze.

„Die Herren sind schon wenigstens seit einer Stunde oben,” erhielt er auf seine Frage zur Antwort, und er stieg schnell die breiten, mit einem dicken Läufer belegten Treppen empor. Vor den Zimmern, die der neue „Klub” für sich in dem Hotel gemietet hate, um dort seine allabendlichen Sitzungen und Zusammenkünfte abzuhalten, nahm ein Diener in reicher, goldgeschmückter Livree ihm Paletot und Hut ab und öffnete ihm die Tür nach dem Spielzimmer.

In dem Augenblick, da der kleine Schulze über den schweren Smyrna-Teppich, der jeden Schritt fast unhörbar machte, dahinschritt, erklang von dem Spieltisch, den die Herren teils stehend, teils sitzend, umringten, gerade die Stimme des Bankhalters: „Faites votre jeu, messieurs.

„Schon so fleißig bei der Arbeit?” begrüßte der junge Offizier die Versammelten, „da komme ich gerade noch zur rechte Zeit. Hundert Mark auf die Sieben.”

Er griff in die Tasche und holte sein Portefeuille heraus, dem er eine Banknote entnahm.

Das Glück war ihm hold, und lachend strich er die Hälfte des Gewinnes ein.

„Die andere Hälfte bleibt stehen — wenn die Sieben einmal kam, kann sie nochmals kommen.”

Und zum zweiten- und zum drittemmal schlug die Sieben zu seinen Gunsten.

„So, nun kann das Glück sich erst einmal ein bißchen ausruhen,” meinte er scherzend. „Die Frau Fortuna ist bekanntlich eine sehr launenhafte Dame, sie nimmt es übel, wenn man zu viel von ihr verlangt.”

Er begrüßte die einzelnen Herren, die ihm, je nachdem ihre Aufmerksamkeit durch das Spiel, das seinen Fortgang nahm, in Anspruch genommen wurden [sic! D.Hrsgb.], flüchtig oder herzlich die Hand schüttelten, und ließ sich dann in einen der tiefen Fauteuils am Kamin nieder.

„Bringen Sie mir eine Pommery wie immer,” befahl er dem Diener, und während er sich eine Zigarre anzündete, sah er dem Spiel der anderen zu.

„Weiß der Kuckuck, wie das zugeht,” erklang da neben ihm eine Stimme, „nicht ein einziges Mal schlägt die Karte für mich! Ich bin leergerupft wie, na, ich weiß nicht wie — tun Sie mir den Gefallen und leihen Sie mir auf Ehrenwort bis morgen Mittag fünfhundert Mark. — Um überhaupt nicht in die Versuchung zu kommen, zu spielen, stecke ich mir nur ganz wenig Geld ein. Der Geist war willig, aber das Fleisch ist wie gewöhnlich schwach. Nun verjeut man doch wieder sein schönes Geld.”

Der kleine Schulze sah auf; vor ihm stand der Baron von Gerstenberg, ein noch junger Herr von kaum dreißig Jahren, der früher Offizier gewesen war, dann aber, als ihm eine Millionen-Erbschaft zufiel, seinen Abschied genommen hatte und jetzt als „Lebemann” seine Tage zubrachte.

„Ach, Sie sind's, Baron?” begrüßte er ihn. „Sie haben Recht — der Geist ist willig — mir ging es genau so, wie Ihnen, Ich wollte auch nicht kommen; die Kameraden baten mich, im Kasino zu bleiben. Für eine Stunde sagte ich zu, so lange wollte ich bleiben, aber ich konnte nicht. — Kaum saß ich am Klavier, da sah ich im Geiste dieses Zimmer vor mir; ich hörte das Rolle des Goldes, ich sah die mehr oder weniger erregten Gesichter der Klubmitglieder, ich atmete die Luft ein, die, ich weiß nicht woran es liegt, in den Spielzimmern eine ganz, ganz eigenartige ist und das Blut schneller fließen läßt. Ich sehnte mich hierher. Ich habe mir nicht einmal die Zeit genommen, hierher zu gehen; ich bin gefahren, nur um vielleicht fünf Minuten eher das faites votre jeu zu hören. Es ist traurig, aber was soll man machen, wenn man dem Spielteufel unrettbar verfallen ist?”

Der Baron sah den jungen Offizier an, und es lag etwas wie wirkliche Teilnahme in dem Blick, mit dem er das jugendliche Gesicht betrachtete, dann sagte er: „Sie haben Recht, — wer den Spielteufel im Leibe hat, der wird ihn nicht los, er mag noch so viel mit ihm ringen und kämpfen, er unterliegt immer. Da nützt es nichts, daß man sich und anderen das Ehrenwort gibt, nicht mehr zu spielen; hat man erst einmal eine Karte angerührt, hat man erst einmal gejeut, dann ist es aus, dann hilft uns niemand mehr. — Aber, wie ist es, mein Liebster, wollen Sie mir die fünfhundert Mark bis morgen Mittag leihen? — Sie haben ja sicher Tausende bei sich.”

„Das schon,” gab der Offizier zur Antwort, „aber Sie wissen ja, Baron, jeder leidenschaftliche Spieler, und zu denen gehöre ich ja leider auch, hat seine Grundsätze, von denen er nie abweicht — wird er sich selbst hierin untreu, wird auch das Glück ihm untreu.”

„Und welches sind ihre Grundsätze?” fragte der Baron, „allzuviel Scharfsinn gehört ja allerdings nicht mehr dazu, sie zu erraten. Sie verleihen kein Geld?”

„An den Spielabenden nie — ich verleihe nichts, und ich leihe mir nichts, niemals, jamais de ma vie. Sie nehmen es mir nicht übel, Herr Baron, daß ich Ihretwegen keine Ausnahme mache?”

Der andere biß sich etwas ärgerlich auf die Lippen, dann aber sagte er: „Davon kann selbstverständlich nicht die Rede sein. Irgend jemand wird sich meiner schon erbarmen, sonst fahre ich nach Hause und hole mir Geld. Die Entfernung ist ja nicht so groß.”

Der Baron wandte sich ab, um sich einer Gruppe von Herren, die mit einander plauderten, zuzuwenden; der kleine Schulze blieb in seinem Fauteuil sitzen und sah dem Rauch seiner Zigarre nach. Von Zeit zu Zeit warf er einen flüchtigen Blick nach dem Spieltisch — nein, noch war er zu früh, um zu einer großen Schlacht auszuholen. Die Gemüter mußten sich erst etwas mehr erhitzen, der Sekt mußte erst seine Schuldigkeit tun, die Spieler mußten erst Mut bekommen. Den brauchte er nicht — leider nicht, er setzte mit der größten Kaltblütigkeit jede, selbst die höchste Summe, leider — leider.

Er leerte sein Glas auf einen Zug und sah dann wieder sinnend vor sich hin. Wie hatte der Baron doch gesagt: „Wer den Spielteufel im Leib hat, der kämpft vergebens gegen ihn an, hat man erst einmal gejeut, dann ist es aus.”

„Wem sagt er das?” dachte der kleine Schulze, „wenn es jemanden gibt, der da weiß, wie recht er mit seinen Worten hat, so bin ich es. Ich habe den Spielteufel in mir, vom Vater, der sich die Kugel in den Kopf jagte, damit seine Schuld und sein Vergehen beim Spiel nicht an das Tageslicht käme, habe ich ihn geerbt — als einzigstes und nicht als bestes Vermächtnis. Von der Mutter weiß ich, wie der Vater angekämpft hat gegen seine Leidenschaft; sie hat mir erzählt, wie sie ihn auf den Knieen beschworen hat, an seine Familie, an seine Frau und an seine Kinder zu denken. Mit Thränen in den Augen schwur und gelobte er Besserung, um bei der nächsten Versuchung wieder zu unterliegen. Ich habe den Vater früher nicht begriffen, ich habe gegen den Toten die schwersten Anklagen erhoben und mich gefragt: Wie kann ein Mann so schwach sein, daß er seinen Vorsatz nicht durchführt? Ich wußte es nicht, aber mit heiligen Eiden schwur ich der Mutter, dem Vater nicht zu folgen, nie eine Karte anzufassen. Ich hab's geschworen, und solange sie, die edelste und beste aller Frauen, die es für mich gab, noch lebte, habe ich mein Versprechen gehalten. Oft trat die Versuchung an mich heran, immer blieb ich Sieger, ich hatte sie zu lieb, als daß ich sie hätte belügen können, jetzt lüge ich ja auch, den Kameraden gegenüber, aber der Mutter gegenüber hätte ich nicht die Unwahrheit sagen können, ich glaube, ich wäre an der Lüge erstickt. Warum mußte sie so früh sterben, mich so früh allein lassen? Der Lebenden hielt ich mein Wort, der Toten brach ich es. Als ich zum erstenmal in diesen Klub eingeführt war, als ich zum erstenmal gespielt hatte, habe ich die ganze Nacht noch in meinem Bette gelegen, geweint und geschluchzt und der Toten die Sünde, die ich an ihr beging, abgebeten. Selbst der Anblick der großen Summe, die ich gewonnen, vermochte das Bewußtsein meiner Schuld nicht zu tilgen; ich kam mir so schlecht, so ehrlos vor, daß ich mich schämte, die Uniform anzuziehen und vor meine Leute hinzutreten. Aber es mußte sein, und der Zufall fügte es, daß ich in der Instruktionsstunde über den Kriegsartikel sprechen mußte, der den Soldaten das Schuldenmachen verbietet. Ich kam mir an dem Tage wie ein Heuchler und Lügner vor, nein, ich war ja wirklich einer. Das einmal gesprochene Wort bringt uns keine Ewigkeit zurück, und keine Ewigkeit macht eine Tat ungeschehen. Immer wieder rief ich mir die alte Weisheit in das Geächtnis, in die Erinnerung zurück, — ungeschehen konnte ich mein Vergehen nicht machen, aber das erstemal sollte auch das letztemal gewesen sein. Jawohl, das letztemal, — jawohl, das sagt man so, einmal und nicht wieder, aber es ist vieltausendmal leichter gesagt als getan. Was habe ich nicht alles versucht, um Sieger zu bleiben — an den Spielabenden habe ich mich bei befreundeten Familien zu Gast angesagt, ich habe Freunde zu mir eingeladen, ich habe mich sogar einmal von meinem Burschen einschließen lassen, aber was half das alles? Ich wußte doch Mittel und Wege zu finden, hierher zu kommen, und seit dem Tage, da ich das erstemal hier eingeführt wurde, bin ich das treueste und eifrigste Mitglied. Mit jedemmal, da ich hierherkomme, stelle ich meine ganze Existenz, meine ganze Zukunft auf das Spiel. Durch Handschlag haben wir uns alle verpflichtet, unsere Namen in der Oeffentlichkeit nicht zu nennen, nie etwa zu sgaen: „Ach ja, den kenne ich vom Klub her.” Verschwiegenheit lautet der erste Paragraph unserer ungeschriebenen Statuten. Aber was dann, wenn es doch herauskommt, wenn der Kommandeur und die Kameraden es erfahren, daß ich hier verkehre? Das frage ich mich jeden Tag, und von neuem schwöre ich mir dann: Du gehst nicht wieder hin! Ich komme mir zuweilen so schlecht und verächtlich vor, daß ich mich fast scheue, an dem Mittagstisch unter den Kameraden Platz zu nehmen, ich sage mir dann: „Du gehörst gar nicht mehr dahin, Du, der Du Deine Freunde belügst, ihnen etwas verheimlichst, darfst Dich nicht mehr zu ihnen setzen!” — „Aber sie wissen ja noch nichts, und ich will mich bessern,” damit belüge ich mich immer von neuem. Ich kann — ich kann nicht von dem Spiel lassen. Der Opiumraucher geht zu Grunde, wenn ihm das Opium genommen wird, der Morphinist kann ohne sein Morphium es nicht aushalten, und der wirkliche Spieler? Das Essen und Trinken kann er entbehren, — die Karten nicht. Wer nie spielte, kann das nicht beurteilen, der klagt mich vielleicht an, wie ich meinen Vater anklagte. Wer erst einmal spielte, der ist verloren, dem hilft niemand mehr. Warum habe ich mich nicht vor dem erstenmale noch mehr gehütet?”

Er sah, seinen Gedanken nachhängend, vor sich hin. Wie kam er gerade heute auf solche Pessimisten-Gedanken? Warum machte er sich gerade heute Vorwürfe? Er wußte es nicht — vielleicht hatten nur die Worte des Barons ihn nachdenklich gestimmt.

„Kommen Sie, Herr Leutnant,” rief ihn da eine Stimme aus seinem Grübeln heraus, „der Konsul hat die Bank übernommen, — jetzt beginnt der Kampf. Sie machen doch mit?”

„Aber selbstverständlich.”

Der kleine Schulze sprang auf; vergessen waren die Selbstanklagen, vergessen die Vorwürfe, die er sich gemacht, vergessen auch die guten Vorsätze, an die er, wenn auch nur flüchtig, gedacht hatte.

Alle Herren umringten den Spieltisch, an dem der Konsul, wie er stets nur kurzweg genant wurde, ein wegen seines Reichtums und seines hohen Spiels bekannter Herr, die Bank übernommen hatte.

„Was? Sie sind auch da?” begrüßte er den jungen Offizier, „wo haben Sie denn die ganze Zeit gesteckt? Na, es ist nur gut, daß Sie jetzt erscheinen. Sie wissen doch, daß Sie mir noch vom letztenmale Revanche schuldig sind, da haben Sie mich ganz scheußlich gerupft. Hoffentlich meinen Sie es heute abend besser mit mir.”

„Ich will tun, was ich im beiderseitigen Interesse tun kann,” gab der kleine Schulze zur Antwort, „aber Sie wissen ja auch, mehr oder weniger ist sich jeder selbst der nächste. Noch eine Frage: Welchen Satz nehmen Sie heute abend an?”

Der Konsul warf einen flüchtigen Blick auf die Banknoten, die er vor sich hingelegt hatte, dann sagte er: „Jeden — setzen Sie so hoch Sie wollen — für's erste halte ich es wohl aus.”

Das Spiel begann, und wie immer war der kleine Schulze vom Glück begünstigt, er mochte setzen, was er wollte und wo er wollte, immer schlug die Karte zu seinen Gunsten, und wenn er wirklich einmal verlor, so brachte die nächte Karte ihm den Verlust doppelt und dreifach wieder ein.

„Wenn das noch lange so fort geht, werden Sie mich mitsamt meiner Bank in die Luft sprengen,” stöhnte halb ernsthaft, halb scherzend der Konsul, „soviel Geld verdiene ich ja in einer ganzen Woche nicht, wie Sie mir in einer Stunde abnehmen. Na, wir wollen hoffen, daß es besser wird — faites votre jeu, messieurs — rien ne va plus.”

Und wieder strich der kleine Schulze seinen Gewinn ein. Wie er am Tisch dastand, keinen Blick von den Karten wendend, war er das Bild des richtigen Spielers — jeder Blutstropfen war aus seinem Gesicht gewichen, der ganze Körper war fieberhaft erregt, und man sah, daß er nur durch eine eiserne Energie ruhig gehalten wurde.

Der Konsul erhob sich von seinem Platze: „Meine Herren, ich habe das meinige verloren, nun tun Sie das Ihrige. Wer übernimmt jetzt die Bank? Sie, Herr Leutnant?”

Der kleine Schulze rechnete und zählte das Geld, das in Banknoten, Gold und in Silber vor ihm lag.

„Wenn es die Herren wünschen, gern, — aber lieber wäre es mir, ein anderer träte für mich ein.”

„Nein, setzen Sie sich nur auch einmal auf den Marterpfahl,” bat der Konsul, „denn etwas anderes ist der Stuhl des Bankiers nicht, wenigstens nicht nach den Erfahrungen, die ich soeben gemacht habe.”

„Wie die Herren wollen.”

Der Offizier übernahm die Bank. „Natürlich nehme auch ich jeden Satz an.”

„Jeden?”

Erstaunt sah der kleine Schulze auf. „Natürlich jeden. Warum fragen Sie, Herr Baron?”

„Weil ich die Absicht habe, Ihnen zur Strafe dafür, daß Sie mir vorhin die fünfhundert Mark nicht borgten, sehr scharf zu Leibe zu gehen,” erwiderte Herr von Gerstenberg, „ich habe mir zu Hause Geld geholt.”

„Bitte, tun Sie Ihren Gefühlen der Liebe, die Sie gegen mich zu hegen scheinen, keinen Zwang an,” gab der kleine Schulze zur Antwort. „So lange ich Geld habe, halte ich jeden Satz, länger natürlich nicht, unbar spielen wir bekanntlich nicht.”

„Das versteht sich,” lautete die Entgegnung, „dann nur Mut, auf in den Kampf, Torero, siegesbewußt.”

„Na, na, nur nicht allzu übermütig, Baron,” rieten die anderen, als Herr von Gerstenberg sogar anfing zu singen.

„Qui vivra verra, also los.”

Der Bankier mischte die Karten und dann ertönte wieder das einförmige: „Faites votre jeu, messieurs, rien ne va plus.

Und auch jetzt gewann der kleine Schulze.

„Na, Herr Baron, halten Sie sich nur bald heran,” rief er neckend, als von neuem die Karten gemischt wurden. „Zeit wird's bald — denn ewig dauert meine Tätigkeit als Bankier nicht.”

Der Baron biß sich ärgerlich auf die Lippen, ihn ärgerte es nicht nur, daß er verlor, sondern hauptsächlich, daß er vorhin seine Absicht geäußert hatte, zu gewinnen. Und bis jetzt war auch jeder Satz, den er machte, verloren worden.

Er schenkte sich von dem Sekte, der auf kleinen Tischen neben den Spielenden stand, ein Glas voll und stürzte es hinunter, dann ein zweites und ein drittes Glas.

„Noch sind wir nicht am Ende angelangt,” gab er schließlich zur Antwort. „Sie wissen ja, wer zuletzt lacht, lacht am besten.”

Wieder nahm das Spiel seinen Fortgang, und wieder gewann die Bank.

„Gegen das Glück kämpfen Götter selbst vergebens,” sagte da einer der Spieler, „mein Bedarf am Verlieren ist völlig gedeckt.”

„Der meinige auch,” rief ein zweiter.

„Und ich schließe mich meinen geehrten Herren Vorrednern an,” meinte der dritte.

Ein Herr nach dem anderen trat vom Spieltisch zurück; verwundert sah der kleine Schulze auf. „Nun, meine Herren, hat niemand mehr Mut? Wer setzt noch?”

„Ich,” erklang da die Stimme des Herrn von Gerstenberg.

„Lassen Sie es genug sein des grausamen Spiels,” rieten ihm die anderen, „Sie wissen ja, der Herr Leutnant gewinnt eigentlich immer, und heute scheint ihm das Glück besonders hold zu sein.”

Aber der Baron widersprach: „Noch erkläre ich mich nicht für besiegt, hier — ich setze — fünfhundert Mark.”

Die Karte schlug und der Bankier strich den Gewinn ein und wieder, und immer wieder war das Blatt zu seinen Gunsten.

Den Baron verließ bei den Verlusten, die er erlitt, die ruhige Überlegung, er setzte leichtsinnig darauf los und trank zwischendurch beständig von dem kalten Sekt, um seine Erregung niederzukämpfen.

„Noch drei Schläge, Herr Baron,” sagte da der kleine Schulze, als er abermals einen Gewinn eingezogen hatte, „noch drei Schläge, dann gebe ich die Bank ab, das ist mein Recht, von dem ich Gebrauch mache, und morgen werden Sie mir dafür danken.”

„Die Entscheidung darüber überlassen Sie mir bitte,” entgegnete der Baron höhnisch, „aber wenn Sie die Bank nicht länger halten wollen — zwingen kann ich Sie natürlich nicht, Sie haben ja alle Ursache, mit ihrem Raub zufrieden zu sein.”

Dunkel färbten sich die Wangen des Offiziers: „Wer im ehrlichen Spiel den Verlust nicht ertragen kann,” gab er, sich mühsam beherrschend, ruhig zur Antwort, „der soll dem Spiel fern bleiben. Das Wort „Raub” war Ihrerseits wohl nicht ganz richtig gewählt, Sie verwechselten Raub und Gewinn.”

Die anderen Herren traten näher und versuchten den Baron, der dem Wein reichlich zugesprochen hatte, zu einem Widerruf seines Wortes zu bewegen. „Keinen Streit, meine Herren,” baten sie, „Herr Baron, wenn Sie gerecht sind, müssen Sie sich selbst sagen, daß Sie sich im Unrecht befinden.”

Mit der Beharrlichkeit eines Trunkenen hielt der Baron an seinem Wort fest. „Was?” rief er, „ich soll zurücknehmen, was ich sagte? Fällt mir garnicht ein — soll ich etwa so dumm sein und glauben, daß das Spiel heute abend mit rechten Dingen zugegangen ist? — So was von Glück, wie die Bank hatte, gibt es ja garnicht, das gibt es nur dann, wenn das Glück gemacht wird, corriger la fortune nennt's der Franzose.”

Der kleine Schulze war aufgesprungen, jeder Blutstropfen war aus seinem Gesicht gewichen, jede Muskel seines sehnigen Körpers war angespannt — er stand da, bereit, sich auf den Verleumder zu stürzen.

„Herr Baron,” rief er mit heiserer Stimme, „überlegen Sie sich, was Sie sagen — ich bin Offizier.”

Der andere lachte kurz und geringschätzig auf: „Ein Offizier wollen Sie sein?” rief er, „der bunte Rock allein macht den Offizier nicht. Wissen Sie, was Sie für mich sind? Ein Spieler, weiter nichts.”

Für eine Sekunde stand der kleine Schulze da und seine Wangen glühten, als habe er einen Schlag ins Gesicht erhalten, dann aber sprang er vor und stellte sich dem Baron gegenüber.

„Sie nehmen das Wort zurück — jetzt, auf der Stelle — in Gegenwart aller Herren,” keuchte er, „oder Sie werden mir mit den Waffen in der Hand Genugtuung geben.”

Den Mund des Barons umspielte ein mitleidiges Lächeln.

„Verlangen Sie das wirklich im Ernste von mir?” fragte er, „mit Ihnen soll ich mich schießen? Ich denke ja garnicht daran, dazu ist mir mein Leben viel zu lieb, und außerdem sind Sie garnicht satisfaktionsfähig. Wenn Ihr Ehrenrat erfährt, daß Sie ein Spieler waren, wird man Ihnen ehrengerichtlich den Abschied geben — — na, und mit solchen Leuten schießt man sich doch nicht. Nicht wahr, meine Herren?”

Ein furchtbarer Tumult folgte diesen Worten; nur mit Mühe hielten die anderen Herren den jungen Offizier zurück, während einige auf den Baron einsprachen, und wieder andere den Baron aus dem Zimmer zu entfernen suchten. Endlich gelang dies und die Herren waren mit dem kleinen Schulze allein — der war auf einen Fauteuil niedergesunken und hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen.

„Nun ist es aus,” stöhnte er, „nun ist es aus. Das kann, das darf ich nicht ruhig hinnehmen.”

Die anderen Herren stuimmten ihm bei: „Selbstverständlich muß der Baron Ihnen Genugtuung geben, wenn er morgen ruhiger ist, wird er das selbst einsehen und sich Ihnen zur Verfügung stellen.”

„Gewiß, gewiß,” stimmten die anderen dem Sporecher bei, „beruhigen Sie sich nur, Herr Leutnant, wir werden den Baron vor die Alternative stellen, Ihnen entweder Genugtuung zu geben oder aus unserem Klub auszutreten. Sehen Sie die Sache nicht zu schwarz an, es wird alles wieder gut werden. Daß wir alle auf Ihrer Seite stehen und Ihnen gerne als Zeugen dienen wollen, daß Sie in jeder Hinsicht tadellos korrekt gespielt haben, und daß Sie auch nicht der leiseste Schatten eines Vorwurfs trifft, bedarf wohl nicht der besonderen Erwähnung.”

Der kleine Schulze drückte die Hände, die sich ihm teilnehmend entgegenstreckten. „Ich danke Ihnen, meine Herren, ich danke Ihnen — — aber nicht wahr, es ist schon spät, ich glaube, auch für uns ist es Zeit, aufzubrechen.”

Er wandte sich der Tür zu, nachdem er sich verabschiedet hatte, und schickte sich an, zu gehen.

„Aber wollen Sie denn nicht Ihren Gewinn einstecken?” fragte einer der Herren, „es ist ja ein kleines Vermögen, das hier noch auf Ihrem Platze liegt.”

Ein wehmütiges Lächeln umspielte seine Lippen. „Ach so, ja, richtig,” sagte er, „das hatte ich ja ganz vergessen.”

Er trat an den Tisch zurück und füllte sich die Taschen, er achtete nicht auf die Goldstücke, die zu Boden fielen. Was lag daran? Für ihn hatte der Gewinn keinen Wert mehr. Was nützte ihm das Geld? Was sollten ihm die Tausende, die er heute gewonnen hatte? Mit ihm war es aus.

Wie ein Taumelnder schritt er durch die Straßen und fast erschrocken sah er auf, als er vor seinem Hause stand. „Schon da?” murmelte er vor sich hin, dann schloß er die Tür auf und stieg schwer und müde die drei Treppen, die zu seiner Junggesellen­wohnung führten, in die Höhe. Wie immer, wenn er nach Hause kam, brannte in seinem Zimmer noch die Lampe; die mußte der Bursche, bevor er zu Bett ging, stets anzünden.

Er warf Hut und Mantel ab und sank in einer Sophaecke zusammen. Was nun? Was nun?

Das fragte er sich immer und immer wieder, und doch sah er keinen rettenden Ausweg.

„Es wird noch alles gut werden,” hatten die Herren zu ihm gesagt. Was verstanden die davon. Kein einziger von ihnen war Offizier, — was wußten die von den bestehenden Bestimmungen über die Ehrengerichte? Nichts, garnichts. Der einzige, der genau unterrichtet war, das war der Baron, und in kurzen Worten hatte der die nackte, grausame Wahrheit gesagt.

Der kleine Schulze faßte sich mit beiden Händen an die Stirn. War er denn blind gewesen die ganze Zeit, daß er sich nicht ein einziges Mal wirklich ernsthaft klargemacht hatte, wohin sein Leben führte? Hatte er es sich denn nie überlegt, wie er sich benehmen sollte, wenn einer der Spieler seine Ehre antasten würde? Hatte er sich wirklich immer damit beruhigt, daß er sich sagte: sie sind Ehrenmänner wie ich, und ein Kavalier beleidigt den anderen nicht? Hatte er wirklich die Welt und die Menschen so wenig gekannt?

Er begriff sich selbst nicht mehr, und mit der Hand schlug er sich gegen die eigene Stirn: „Wie konnte ich nur? Wie konnte ich nur?” fragte er sich. Er klagte sich mit den schwersten Worten an, aber was half das jetzt? Es war zu spät — nun mußte er sehen, wie er sich Genugtuung verschaffte.

„Ich werde zum Kommandeur hingehen, der muß, der wird mir helfen,” sprach er vor sich hin. Aber dann kamen die Zweifel: konnte der Schritt ihm irgendwie nützen? Der Baron stand unter keinem Ehrengericht und konnte zu keinem Duell gezwungen werden. Aber das nicht allein: der hielt seinen Gegner nicht für satisfaktionsfähig. Und war er es denn?

„Ich muß eine ehrengerichtliche Untersuchung gegen mich beantragen,” fuhr er in seinem Grübeln fort. Aber auch hier stiegen gleich die Zweifel wieder in ihm auf. Gab er zu, daß er gespielt hatte, und das mußte er eingestehen — dann war der Ausgang der Untersuchung nicht zweifelhaft. Man würde, man mußte ihn dann vor das Ehrengericht stellen und das Urteil konnte nur lauten auf „Schuldig der Verletzung der Standesehre unter Beantragung der Entlassung mit schlichtem Abschied.”

Ein anderes Urteil war ausgeschlossen, und was dann? Sollte er den bunten Rock nicht freiwillig, sondern gezwungen ausziehen? Sollte er, für alle Zeit mit einem Makel behaftet, weiter leben? Sollte er sich dem aussetzen, daß frühere Freunde und Bekannte sich von ihm abwandten, ihm den Gruß und die Hand verweigerten, weil er ehrlos war?

Was sollte werden?

Da fiel sein Blick auf das Bild seines Vaters, das auf seinem Schreibtisch stand, und mit einemmale war ihm klar, was erzu tun hatte, was ihm zu tun nur noch übrig blieb.

Heiße Tränen liefen ihm die Wangen hinunter, es waren Tränen der Reue über ein verfehltes Leben. Lange, lange saß er auf seinem Platz, bis die zunehmende Helligkeit ihn daran erinnerte, daß es schon Tag sei.

Noch einen Blick warf er auf das Bild seines Vaters, noch einmal küßte er das Bild seiner Mutter, dann ging er festen Schrittes in sein Schlafzimmer, in dem neben seinem Bett auf dem Nachttisch der geladene Revolver lag.

Für einen Augenblick, für eine Sekunde lief ein Schaudern durch seinen Körper, als er die kalte Waffe in die Hand nahm, dann aber zwang er sich gewaltsam zur Ruhe.

„Es muß sein,” sprach er mit fester Stimme vor sich hin, und gleich darauf ertönte der Schuß, der seine Tat sühnte — der ihm seine Ehre wiedergab.


Fußnoten:

(1) Auch in der Erzählung „Kurt” besitzt die Hauptperson „das völlig bartlose, rotwangige Gesicht, aus dem zwei hellblaue Augen . . . schauten” und rettet eine Ertrinkende.
Da Schlicht die Erzählungen des Bandes „Ein Ehrenwort” laut Vorwort „für seinen Sohn” geschrieben hat, sind diese Figuren vielleicht Spiegelbilder seines Sohnes ??? (zurück)

(2) Zur Datierung dieser Erzählung: Die Operette „Wiener Blut” — von Johann Strauß Sohn — wurde am 26.Okt. 1899 in Wien uraufgeführt. (zurück)


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