Der entartete Prinz.

Militärhumoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Sie will nicht heiraten”


Prinz Ferdinand war vollständig entartet, um nicht zu sagen, völlig degeneriert, und was das schlimmste war, es stellte sich erst heute, am Vorabend seines zehnten Geburtstages heraus. Dieser schwere Schlag traf die hohen Eltern völlig unvorbereitet und drückte sie um so mehr danieder, als sie gerade ihren jüngsten Sohn, den Prinzen Ferdinand, für den begabtesten und klügsten ihrer Kinder bisher gehalten hatten, obgleich natürlich auch die anderen Prinzen Fähigkeiten an den Tag gelegt hatten, wie sie eben nur von Prinzen gezeigt werden können.

Während die hohe Mutter des Prinzen Ferdinand sich in Begleitung ihrer Hofdamen in ihre Gemächer zurückgezogen hatte, um dort ihrem tiefen Schmerz über die Entartung ihres Kindes in einem Tränenstrom Luft zu machen, ließ der regierende Fürst, Seine Hoheit Prinz Nikolaus, der allerdurchlauchtigste und gnädigste, seinen Leib- und Hofarzt zu einem Vortrag befehlen, um vielleicht doch noch darüber Auskunft zu erhalten, wie diese Entartung des junegn Prinzen hätte entstehen können.

Aber auch der Leibarzt vermochte keine Erklärung abzugeben; er hatte der Frau Prinzessin vor zehn Jahren in der schweren Stunde, als der Prinz Ferdinand das Licht der Welt erblickte, beigestanden. — Die Geburt war völlig normal verlaufen, nicht die leiseste Komplikation irgendwelcher Art war eingetreten. Die Eltern des Neugeborenen erfreuten sich in körperlicher und vor allen Dingen in geistiger Hinsicht der denkbar besten Gesundheit, die Amme, die den jungen Prinzen genährt hatte, war vollkommen gesund gewesen, man hatte es bei der Auswahl der Bonnen und Erzieher so genau wie nur möglich genommen, alle hatten ihre Pflicht auf das gewissenhafteste erfüllt. Man hatte den Geist und den Körper des jungen Prinzen in gleicher Weise zu entwickeln gesucht, und trotz alledem zeigte sich nun mit einem Male deutlich eine große Entartung.

Allerdings, kleine Symptome hatten sich, wenn man jetzt reiflich darüber nachdachte, schon früher gezeigt. Manches, das man damals nur für eine vorübergehende Laune eines kleinen Kindes hielt, war, wie sich jetzt bei ruhiger Überlegung herausstellte, ein auf den Krankheitszustand hinweisendes Zeichen gewesen, und von neuem zeigte es sich, daß man bei der Erziehung eines Kindes selbst auf die anscheinend unbedeutendsten Vorfälle Obacht geben muß, wenn man nicht plötzlich eine solch entsetzliche Entdeckung machen will, wie die hohen Eltern des Prinzen sie soeben gemacht hatten.

Die Prinzessin saß noch immer im Kreise ihrer Hofdamen in ihren Gemächern und weinte, und der regierende Fürst ließ sich noch immer Vortrag halten, aber das alles änderte nichts an der Tatsache. Der Prinz war anormal veranlagt, er sträubte sich mit Händen und Füßen dagegen, morgen zur Feier seines zehnten Geburtstages Offizier zu werden. Er hatte sich bei dem strengen Befehl seines Vaters, brav und artig zu sein und sich morgen zum Offizier ernennen zu lassen, auf die Erde geworfen, geschrien und mit Händen und Füßen gestrampelt, wie man das von einem Fürstenkinde nie und nimmer für möglich gehalten hätte.

Prinz Ferdinand war nicht militärisch veranlagt, er hatte keinen militärischen Ehrgeiz und wollte, trotzdem er schon zehn Jahre alt wurde, immer noch nicht Offizier werden. Das war doch nur mit Krankheit zu erklären. Jetzt fiel es auch allen wieder ein, daß er auch in seiner bisherigen Jugend nur ungern mit Soldaten gepielt hatte, daß ihn die schönste Festung, die er zum Geschenk erhielt, nicht halb so erfreute wie ein Buch mit hübschen Bildern, und daß er sich, wenn er sein Schaukelpferd bestieg, dazu niemals Uniform angezogen und auch niemals sich den Säbel um die Lenden gegürtet hatte.

Damals hatte man das nicht weiter beachtet, jetzt aber zeigten sich die Folgen der vernachlässigten Erziehung.

Was sollte nur werden?

Der regierende Fürst zerbrach sich vergebens darüber den Kopf. Das Programm für die morgige Feier war genau festgesetzt und schon durch die Zeitungen der Residenz bekannt­gegeben. Um zwölf Uhr sollte das Leibregiment auf dem Kasernenhof stehen, der Fürst wollte dem Offizierkorps seinen Sohn übergeben, der sollte dann in die Front des Regiments eintreten und im Parademarsch mit der Truppe zusammen bei seinem Vater vorbeidefilieren. Ein Frühstück im Kasino würde die erhebende Feier beenden, und im offenen Viererzug wollte der Fürst dann mit seinem Sohn ins Schloß zurückfahren und sich bei der Gelegenheit seinen getreuen Untertanen zeigen, damit auch die etwas von der Feier hätten und einmal wieder begriffen, warum, wieso und weshalb sie ihre Steuern bezahlten.

Und nun streikte Prinz Ferdinand, und er würde auch morgen streiken. Was dann, wenn die junge Hoheit sich morgen in voller Uniform auf dem Kasernenhof hinwerfen und auch da schreien würde? Was dann, wenn er, von kräftiger Hand festgehalten, laut brüllend in Reih und Glied vorbeimarschierte, wenn er in das Hoch, das der Kommandeur des Regiments auf seinen hohen Vater ausbringen sollte, hineinschluchzte?

Das gab dann einen Eklat, wie er größer und schlimmer ni9cht gedacht werden konnte.

Der regierende Fürst strich sich voll Kummer die wenigen Haare, die ihm die Sorgen um das Wohl seines Volkes noch gelassen hatten, aus der Stirn zurück und stöhnte schwer auf. Er war sich bewußt, es mit seiner Pflicht stets ernst genommen zu haben, er hatte wissentlich nie Unrechtes oder Böses getan, wodurch hatte er das verdient, daß sein Sohn nun so aus der Art schlug? Er dachte zurück an die endlosen Reihen seiner Ahnen, da war auch nicht einer, der nicht als Offizier seinem Kaiser nach Maßgabe seiner geistigen und körperlichen Fähigkeiten treu gedient hatte, und diejenigen, die weder die körperliche noch die geistige Anlage dazu besaßen, hatten am allertreuesten gedient, und ihre Schuld war es nicht, wenn sie sehr bald verabschiedet wurden.

Aber daß sich ein Prinz dagegen auflehnte, Soldat zu werden, das war mehr als unerhört, das war mehr als krankhaft, denn so krank kann doch eigentlich ein Prinz gar nicht sein. Ein Bürgerlicher vielleicht, aber eine Hoheit? Das war ausgeschlossen, und dennoch war es hier der Fall.

Der regierende Fürst erhob sich endlich von seinem Stuhl. „Ich werde mit dem Prinzen Ferdinand noch einmal ein vernünftiges Wort sprechen, vielleicht wird er meinem Zuspruch doch noch zugänglich sein.”

Seine Hoheit betrat das Zimmer, in dem sein hoher Sohn sehr eifrig in einem Buche las, das eine Reisebeschreibung enthielt. Er fuhr erschrocken zusammen, als er die Schritte seines Vaters hörte, und als dieser mit gütiger Stimme sagte: „Mein Sohn, ich bin gekommen, um nochmals mit dir zu sprechen,” da schrie der kleine Prinz auf: „Ich will aber kein Leutnant werden, ich will nicht, ich will um die Welt reisen und neue Länder entdecken wie Kolumbus.”

„Es gibt heute nichts mehr zu entdecken, wenigstens auf diesem Gebiete nicht,” antwortete der Fürst, „und selbst wenn noch so viele Erdteile unentdeckt wären, es ist wichtiger, daß du Offizier wirst, als daß du der Welt neue Länder scherschließt. Das können andere auch. Leutnant zu werden aber ist eine Auszeichnung, die nicht jedem zuteil wird, und in so jungen Jahren das Patent zu erhalten, wie es dir vergönnt ist, das ist nur den Auserwähltesten unter den Auserwählten beschieden. Zeige dich deiner in Gott ruhenden Ahnen und deines Vaters würdig. Dort liegt die Uniform, die ich dir für den morgigen Tag habe machen lassen. Sieh nur, wie hell die Knöpfe blitzen, wie schön das Silber der Leibbinde leuchtet, wie die Helmspitze blinkt, wie du dich im Lack der hohen Stiefel spiegeln kannst. Lockt dich das alles gar nicht? Wenn du morgen auf dem Kasernenhof stehst, wird ein Hoch auf dich ausgebracht werden, die Zeitungen bringen ausführliche Berichte darüber, das Volk jubelt dir zu, im Kasino wird der Herr Oberst eine Rede auf dich halten, wenn es dir Spaß macht, will ich befehlen, daß bei dem Hoch auf dich meine Leibbatterie den Salut abfeuert. — Ich und mein Volk freuen sich auf den morgigen Tag, verdirb uns die Freude nicht.”

Der regierende Fürst hatte noch nie so gütig zu seinem Sohne gesprochen, aber das machte auf den Prinzen Ferdinand keinen Eindruck. Er blätterte schon wieder in dem Buch und sagte: „Sieh nur, Papa, was hier für seltene Pflanzen wachsen und die Tiere, die man bei uns nur im Zoologischen Garten sieht, laufen dort frei herum. Das Leben dort muß doch viel amüsanter sein als auf dem Kasernenhof, da nehmen sie doch nur Gewehr über, und das tun sie ja auch nur, damit sie es hinterher wieder abnehmen können, nein, ich will kein Leutnant werden.”

Der regierende Fürst sah es ein, mit Güte war hier nichts zu erreichen, vielleicht half Gewalt, mit der war ja schon so mancher Teufel ausgetrieben worden. Und ein böser Dämon hatte ja von der Seele und dem Geist seines Sohnes Besitz genommen.

Seine Hoheit sah sich suchend um, er fand, was er suchte: Einen Augenblick später lag Prinz Ferdinand über dem väterlichen linken Knie, und die Reitpeitsche trat in Tätigkeit.

„Willst du nun Leutnant werden?”

„Nein.”

„Vielleicht jetzt?”

„Niemals.”

Der regierende Fürst erkannte: Hier war nichts zu machen, und tief betrübt zog er sich wieder in seine Gemächer zurück.

Am nächsten Morgen meldeten die Zeitungen: Prinz Ferdinand sei von einer heftigen Erkältung ergriffen worden und müsse ein paar Tage das Bett hüten. Aus diesem Grunde sei die für heute beabsichtigte Einstellung des Prinzen in die Armee auf einen späteren Termin verschoben worden. Der Tag der Feier werde rechtzeitig bekanntgemacht werden.

Aber er wurde niemals bekannt; Prinz Ferdinand blieb bei seinem Widerstand jahraus, jahrein, und der Leibarzt konstatierte, daß die geistige Degeneration des jungen Prinzen schwerlich jemals ganz weichen würde.

Der Prinz war und blieb entartet, und das trübte dem regierenden Fürsten den Lebensabend, er wurde vor der Zeit alt und müde, die Sorge um seinen Sohn verließ ihn nicht, was sollte aus dem nur werden?

Endlich entschloß er sich, als der Prinz groß geworden war, ihm ein kleines Schloß in der Nähe der Residenz einzuräumen. Dort lebte Prinz Ferdinand ganz seinen Studien und Arbeiten, hin und wieder veröffentlichte er in großen Zeitschriften wissenschaftliche Aufsätze, denen man es nicht anmerkte, daß sie aus der Feder eines Prinzen stammten, denn sie waren wirklich klug und geistreich. Die Gelehrtenwelt fing allmählich an, den Prinzen als einen der Ihrigen zu betrachten, für seinen Vater war er aber schon bei Lebzeiten so gut wie gestorben. Hin und wieder wurde er allerdings zur Hoftafel befohlen, aber wenn er dann inmitten der glänzenden Uniformen, die mit Orden und Sternen übersät waren, im einfachen, schmucklosen Frack erschien, dann krampfte sich das Herz des regierenden Fürsten jedesmal schmerzlich zusammen, und seine Augen ruhten voll Trauer und Kummer auf seinem Sohn. Gewiß, er war nicht blind für das, was er auf seinem Gebiete leistete, aber er war und blieb aus der Art geschlagen, denn mit dem Geist seinen Mitmenschen zu dienen, ist und bleibt doch nun einmal die Aufgabe des Bürgers und ist für diesen ja auch ganz ehrenvoll.

Aber was den Bürger ehrt, ehrt noch lange nicht den Fürsten, und wenn der regierende Fürst auch keineswegs behaupten wollte, daß sein Sohn ehrlos war, so hatte der nach seiner gewissen­haften Überzeugung doch an seiner Ehre und vor allen Dingen an seinem Ansehen dadurch einen Knacks erlitten, daß er sich mit den Bürgern auf dasselbe geistige Niveau stellte.

Und das geht nicht. Denn wo bleibt sonst der Standesunterschied, ohne den eine Weltordnung nicht möglich ist? Traurig genug, daß die höchsten und hohen Kreise äußerlich nur Menschen sind wie alle andern — wie sollen sie da ihr Ansehen wahren, wenn sie sich nicht wenigstens geistig von ihnen unterscheiden?


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