Ehrlos.

Erzählung von Freiherr von Schlicht.
in: „Unsere Feldgrauen”


Das Regiment kam an einem warmen Junitage von einer großen Felddienstübung zurück. Der Herr Oberst hatte in höchsteigener Person gegen einen markierten Feind angesetzt, dann diesen Angriff geleitet und ihn, den Angriff, nicht sich selbst, zum Schluß sehr gründlich kritisiert. Was er, der Kommandeur leistete, war vortrefflich gewesen, wenigstens hatte er für sich selbst auch nicht den leisesten Tadel gehabt. Aber die Unterführer! Die Herren Stabsoffiziere — die Herren Hauptleute — und nun erst die Herren Leutnants! Alle bekamen sie ihr Fett, und der Herr Oberst mußte eine große Tonne Fett mitgebracht haben, denn es dauerte lange, bis er dieses Fett auf seinen getreuen Untertanen verrieben hatte. Dann erst ging es nach Hause, zurück in die Kaserne! Endlich, es wurde aber auch die höchste Zeit. Viele der Mannschaften drohten schlapp zu werden, die Hitze, der lange Marsch und dazu der Hunger. Allen knurrte der Magen, nicht nur den Kerls, sondern auch den Herren Kerls. Aber während die Leute, als man den Kasernenhof erreicht hatte, gleich wegtreten durften, gab es für die Offiziere noch eine lange Offiziersbesprechung, bis der Herr Oberst dann auch die endlich entließ.

Die ganzen unverheirateten Leutnants eilten in das Kasino, um sich etwas Gutes anzutun. Nur einer schickte sich an, auch heute, ebenso wie sonst, gleich seine ärmliche und dürftige Leutnantswohnung aufzusuchen, um dort den Hunger mit ein paar trockenen Semmeln, einem kleinen Stück Wurst, mit etwas Käse und mit einem Glas frischen Wassers zu stillen, als er plötzlich von einem Kompagniekameraden angerufen wurde: „Na, wie ist es, Renndorf, hätten Sie Lust, mit mir im Kasino zu frühstücken? Was meinen Sie zu einem saftigen Beefsteak mit dem üblichen Taler(1) Bratkartoffeln? Ich bin ja zwar selbst ein armes Luder, aber im Vergleich zu Ihnen doch ein Krösus, machen Sie mir die Freude und seien Sie mein Gast. Nach der heutigen Anstrengung müssen Sie mal was Ordentliches in den Magen bekommen, ich glaube überhaupt, daß Sie sich nicht mehr sattessen. Sie sehen in der letzten Zeit ziemlich miserabel aus, also bitte, machen Sie mir die Freude.”

Aber der Angesprochene, ein etwas mehr als mittelgroßer, schlanker, auffallend hübscher Offizier schüttelte ein klein wenig melancholisch den Kopf, während er zugleich dem Kameraden die Hand reichte: „Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich Ihre freundliche Einladung ausschlage. Ich weiß, Sie meinen es gut mit mir, Sie fast noch mehr als alle anderen, aber trotzdem, für mich heißt es, standhaft zu sein. Ich muß bei meinem gewohnten Frühstück bleiben, sonst schmeckt es mir morgen und an den nächsten Tagen erst recht nicht. Nur wer es nicht mit eigenen Augen sieht, wieviel besser es die anderen haben, nur der empfindet die Armut der eigenen Lage nicht allzu sehr. Und schließlich habe ich es doch noch tausendmal besser als zahllose andere. Ich habe jeden Nachmittag um fünf Uhr mein warmes Mittagessen. Wieviel Millionen haben das nicht? Also nochmals besten Dank, und nun wollen wir beide frühstücken gehen, Sie Ihr Beefsteak und ich meinen Wurstzipfel.”

Gleich darauf trennten sich die Kameraden, und Leutnant von Renndorf schlug den Weg zu seiner Wohnung ein. Er hatte Hunger, nicht erst seit heute, und der Freund mochte mit seiner Bemerkung wohl recht haben, daß er ziemlich miserabel aussah. Er aß sich nicht mehr satt, auch nicht des Mittags im Kasino, und keiner der Kameraden kannte das Abkommen, das er unter strengster Diskretion mit der Tischkommission getroffen hatte. Er bezahlte für sein Mittagessen nur die Hälfte des festgesetzten Preises, dafür durfte er als einziger sich aber auch von den herumgereichten Speisen nur einmal nehmen. Er durfte sich nichts nachfordern, er durfte den servierenden Ordonnanzen nicht zurufen: „Geben Sie mir noch einmal von dem und dem Gemüse oder von dem Braten.” Er hatte dieses Abkommen treffen müssen, denn er konnte die eine Mark und zwanzig täglich für das Mittagessen ganz einfach nicht bezahlen, wenn er, der keinen Pfennig Zulage hatte, mit seinem Gehalt auskommen wollte. Die Kameraden wußten nichts davon, und die durften auch nichts davon wissen, denn sonst hätten sie ihm von ihren Speisen täglich den Teller vollgepackt, die hätten sich im Überfluß geben lassen, um mit ihm zu teilen. Und das durfte nicht sein, er hatte seine Armut nie verleugnet, aber doch einen gewissen Stolz darein gesetzt, es nie zu verraten, wie arm er war.

Und wie arm er bleiben würde, wenn nicht ein Wunder geschah. Gewiß, mit der Zeit würde ja sein Gehalt steigen, und wenn er nach vielen Jahren erst Hauptmann war — dann, ja dann! Ein glückliches Lächeln umspielte seinen feingeschnittenen Mund mit den schneeweißen Zähnen und dem kurzen, tiefschwarzen Schnurrbart, als er jetzt, während er seinen Weg fortsetzte, an dieses dereinstige Hauptmannsgehalt dachte. Aber wie viele lange Jahre würden bis dahin nicht noch vergehen? Und selbst, wenn er dieses Gehalt erst bezog, dann hieß es für ihn, sich auch noch einzuschränken, denn dann mußte er in erster Linie die Schulden abbezahlen, die er jetzt trotz aller Sparsameit bei seinem Militärschneider machte. Der Vorschrift gemäß ließ auch er sich monatlich vierundzwanzig Mark für die Kleiderkasse abziehen, aber mit den zweihundert­achtundachtzig Mark, die das im Jahre ausmacht, kann bei dem besten Willen, kein Leutnant auch nur die Hälfte seiner Uniform bezahlen. Das weiß natürlich auch jeder Schneider, der borgt im Vertrauen auf die späteren Zeiten und ist mit dem zufrieden, was er monatlich aus der Kleiderkasse erhält. Nur wenn sich einer gar zu viel machen und seine Rechnung zu hoch anlaufen läßt, wird der Schneider ungeduldig und schickt einen Mahnbrief, der Herr Leutnant möchte sich an seine Eltern oder an seine sonstigen Verwandten wenden, denn schließlich einen wohlhabenden Verwandten hat doch jeder Leutnant.

Aber er selbst hatte gar keinen Verwandten, geschweige denn einen reichen. Seine Eltern waren gestorben, als er noch im Kadettenkorps war. Geschwister hatte er nie besessen, ebenso wie sein Vater keinen Bruder und seine Mutter keine Schwester gehabt hatte. Gewiß, es gab ja noch andere seines Namens außer ihm, aber ob die mit ihm blutsverwandt waren, wußte er nicht. Er hatte sich nie darum gekümmert, ebensowenig wie die anderen nach ihm fragten. Am allerwenigsten der sogenannte schwerreiche Herr von Renndorf. Er selber hatte nie etwas von dem gewußt und gehört, bis sein gerichtlicher Vormund ihn auf den aufmerksam machte, als er in die Armee eintrat. Der Vormund hatte irgendwie von der Existenz dieses reichen Sonderlings erfahren und sich für sein Mündelkind an ihn mit der Bitte gewandt, diesem durch Gewährung eines größeren Betrages den Eintritt in die Armee zu erleichtern und dem später einen, wenn auch nur geringen monatlichen Zuschuß zu gewähren. Lang und ausführlich hatte der Vormund über alles berichtet, aber nicht die kleinste Antwort erhalten. Da hatte sein Vormund ihn gebeten, einmal selbst an den alten Herrn zu schreiben, vielleicht, daß er dann doch seine mildtätige Hand auftat. Aber er selber hatte trotzig den Kopf geschüttelt und mit fester Stimme erklärt: „Ehe ich einen wildfremden Menschen nur deshalb anpumpe, weil ich zufällig denselben Namen trage wie er, ehe ich einen Menschen anbettle, der durch sein Schweigen auf den ersten Brief hin deutlich bewiesen hat, daß er nichts von mir wissen will, lieber hungere ich.”

Und er hatte gehungert und würde weiterhungern.

Auch jetzt verspürte er Hunger, so beeilte er sich, den Weg zu seiner Wohnung zurückzulegen, die ziemlich weit von der Kaserne entfernt lag, da er in einer billigen Gegend hatte mieten müssen. Fast zwanzig Minuten dauerte es, bis er das Haus erreichte, dann stieg er schnell die drei Treppen empor. Der Bursche, der in der Kaserne wohnte, da er für ihn keinen Platz hatte und der am Vormittag an der Übung hatte mit teilnehmen müssen, war noch nicht da. So sah es bei ihm recht ungemütlich aus, da er sich den Luxus nicht leisten konnte, seine Wirtin dafür zu bezahlen, daß sie ihm gegen ein kleines Entgelt seine beiden Stuben in Ordnung hielt. Sein Schlafzimmer war noch nicht aufgeräumt, das Bett, der Waschtisch, der Ausgußeimer, alles stand noch so da, wie er es am frühen Morgen verlassen hatte. Auch das kleine Wohnzimmer war noch nicht aufgeräumt. Aber es war ja nicht das erstemal, daß er seine Wohnung so vorfand. Wenn der Bursche bei dem Dienst eintreten mußte, ließ es sich auch gar nicht anders machen. Die Hauptsache blieb, daß er noch etwas zum Frühstücken in seinem kleinen Vorratsschrank vorfand, daß er nicht auf den Burschen zu warten brauchte, damit der erst für ihn einholen ging. Nein, es mußte noch genug da sein, denn er erschrak bei dem Gedanken, heute womöglich schon wieder Geld für Brot, Butter und Wurst ausgeben zu sollen. Aber als er dann den kleinen Schrank öffnete, in dem sich seine geringen Vorräte befanden, war er doch leer. Um Gottes willen, wie war das nur möglich? Hatte er gestern solchen Hunger verspürt, daß er alles bis auf den letzten Rest aufaß? Das war doch gar nicht denkbar, oder sollte sein Bursche Hans Hansen — nein, das war ebenfalls ausgeschlossen, der treue Kerl nahm ihm armen Teufel nichts weg, der hätte am liebsten noch etwas aus eigenen Mitteln hinzugekauft. Aber wo war denn nur alles geblieben? Er hatte doch erst vorgestern seinem Burschen eine Mark für Einkäufe gegeben. Er vermochte sich diese Leere in dem Schrank nicht zu erklären, bis ihm dann plötzlich wieder einfiel, daß er ja heute nacht aufgestanden war, weil er solchen rasenden Hunger verspürte. Er hatte sich gestern das Abendessen sparen wollen und war zu Bett gegangen, ohne auch nur die geringste Kleinigkeit zu sich zu nehmen. Aber kurz nach Mitternacht hatte er dann doch aufstehen müssen, um etwas zu essen. Ach ja, nun fiel es ihm auch wieder ein, wie gut es ihm geschmeckt hatte, leider Gottes zu gut, denn er hatte auch nicht das geringste übriggelassen. Auch von seinem heutigen ersten Frühstück, das wie immer aus zwei trockenen Semmeln bestand, war nichts mehr da. Nun mußte der Bursche doch wieder einkaufen gehen, und er selber zog traurig das Portemonnaie heraus. Das war äußerlich so dürftig und so ärmlich und innen so leer. Und doch mußten die paar Mark noch bis zum Ersten reichen. Bis dahin war es noch lange hin, aber trotzdem wollte und mußte er sich wenigstens heute halbsatt essen. Wenn nur erst der Bursche da wäre, damit er ihm etwas holen könne, aber bis der kam, konnte wenigstens noch eine halbe Stunde vergehen, denn erst mußte er sich doch waschen, sich säubern und sich umkleiden.

Aber der kam dann doch schneller, als er erwartet hatte. Wenigstens hörte er schon nach einer kleinen Viertelstunde draußen auf dem Korridor laute, schwere Tritte, und gleich darauf klopfte es an seine Tür. So rief er denn „herein”, aber anstatt des Burschen erschien gänzlich unerwartet der Postbote: „Ich war heute schon zweimal hier, Herr Leutnant, ich hätte den Brief ja schon, um mir abermals den Weg zu sparen, am liebsten hier abgegeben, aber der Herr Leutnant müssen quittieren, es ist ein eingeschriebener Brief.”

„Ein eingeschiebener Brief für mich?” Voller Erstaunen nahm er ihn in Empfang, nachdem er den Schein unterschrieben hatte, und als er gleich darauf wieder allein war, betrachtete er immer noch voller Verwunderung das Kuvert des dicken Schreibens, das äußerlich als Absender den ihm gänzlich unbekannten Namen eines Justizrates und Notars trug. Also handelte es sich um eine gerichtliche Sache, vielleicht, nein, sicher um eine Klage. Aber wer konnte ihn nur verklagt haben? Und weshalb? Nein, das war ausgeschlossen, aber um was handelte es sich denn sonst? Er wußte selber nicht, wie es kam, aber er konnte sich lange nicht entschließen, den Brief zu öffnen, weil eine innere Stimme ihm immer wieder sagte: „Der Brief bringt dir nichts Gutes, er kann dir nichts Gutes bringen.” Dann überwand er doch endlich seine Bedenken, und als er dann das Schreiben mit immer größer werdenden Augen las, da fühlte er, wie ihn plötzlich eine Ohnmacht überkam. Die Anstrengung des heutigen Dienstes, der starke Hunger, der ihn quälte, dazu diese Nachricht — er fühlte ganz plötzlich, wie sein Herz aussetzte und wie eine süße Müdigkeit ihn überkam, bis ihm langsam seine Sinne schwanden. Er wußte nicht, wie lange er so dagesessen hatte, den Kopf auf die Tischplatte gelegt, während ihm die Arme schlaff herunterhingen. Er kam erst wieder zu sich, als sein Bursche ihn mit starken Armen wie ein kleines Kind aufgehoben, in das Bett getragen und ihm dort den Waffenrock und die Halsbinde geöffnet hatte.

Aber dann lag er noch mit offenen Augen völlig regungslos da, und es dauerte eine geraume Zeit, bis er sich darauf besinnen konnte, was mit ihm geschehen war und weshalb die Ohnmacht ihn überfiel. Bis dann die Stimme seines Burschen erklang: „Wenn der Herr Leutnant nur ruhig liegen bleiben möchten — ich gehe schnell etwas einkaufen. In fünf Minuten bin ich wieder da, und wenn der Herr Leutnant erst etwas gegessen haben, dann werden der Herr Leutnant schon wieder ganz gesund werden.”

Ohne die Antwort seines Herrn abzuwarten, eilte der Bursche davon, und als er dann wirklich schon nach einigen Minuten zurückkehrte, da aß sein Leutnant mit solchem Heißhunger, daß selbst der Bursche ihn voller Mitleid betrachtete und sich im stillen sagte: „Du lieber Herrgott, da hat es ja unsereins viel besser. Wir bekommen unser Kommißbrot geliefert und jeden Tag in der Mannschafts­küche unser großes Eßgeschirr voll Gemüse, Kartoffeln und Fleisch. Wenn es meinem armen Leutnant doch nur einmal so gut gehen möchte, wie es mir jeden Tag geht.”

Und als der treue Bursche, der Musketier Hans Hansen, es dann aus dem Munde seines Leutnants erfuhr, daß es nun für den auf alle Zeiten mit der Armut vorbei sei, daß er plötzlich ganz unerwartet reich geworden war, ja, sogar noch reicher als reich, als er von der Erbschaft hörte, die seinem Leutnant unerwartet vom Himmel zugefallen sei, da glaubte der Musketier zuerst, sein Leutnant mache schlechte Witze. Aber danach sah er eigentlich nicht aus, als er, immer noch auf dem Bette liegend, mit Heißhunger in seine Butterschnitten hineinbiß und wohl teils vor Aufregung, teils aus wirklichem Hunger immer eine Schnitte nach der anderen verlangte. Nein, sein Leutnant sah nicht danach aus, als ob er aufgelegt wäre, Witze zu machen. Ob er dann wohl plötzlich geistig erkrankt sein mochte, daß er sich nun einredete, es sei zur Tatsache geworden, was er sich an vielen, vielen Tagen vielleicht sehnsüchtig gewünscht hatte? In diese Zweifel hinein und während er noch überlegte, ob er den Assistenzarzt, oder den Stabsarzt, oder den Herrn Oberstabsarzt, oder noch besser, alle drei zusammen, das ganze militärisch-medizinische Aufgebot, holen lassen solle, damit diese den Gemütszustand seines Herrn mit Röntgenstrahlen durchleuchteten — in diese Überlegung hinein erklang die wenn auch nur leise Stimme seines Leutnants, der nach dem Schreiben des Notars verlangte, das dort nebenan noch auf dem Tische lag. In seiner körperlichen Schwäche achtete der Leutnant nicht darauf, daß es unverhältnismäßig lange dauerte, bis Hans Hansen mit dem Brief zurückkam. Der hatte angeblich nicht mehr auf dem Tische, sondern unter dem Tische gelegen, und er hatte den da nicht gleich gefunden. In Wirklichkeit aber hatte Hans Hansen die Gelegenheit benutzt, einen etwas mehr als flüchtigen Blick in das Schriftstück zu werfen. Und da hatte er es mit eigenen Augen gesehen, sein Leutnant hatte nicht im Fiebertraum phantasiert, sondern er hatte wirklich geerbt, und sogar unmenschlich viel, hundertundzwanzigtausend Mark!

Von der Höhe dieser Summe vermochte Hans Hansen sich zwar keinen rechten Begriff zu machen, denn er war an kleinere Beträge gewöhnt, an die siebenundzwanzig Pfennige, die er täglich als Löhnung erhielt, und die ihm alle zehn Tage ausgezahlt wurden. Einhundertund­zwanzigtausend Mark! Das ging über seinen sonst gar nicht so dummen Schädel, aber wie er zu seinem Troste und zu seiner Genugtuung bemerkte, auch über den seines Leutnant, denn als der nun abermals das Schriftstück las, da machte er ein vollständig schafsdämliches Gesicht. Na, nur ein Glück für seinen Leutnant, daß der Leutnant und kein Musketier war, denn wenn er mit dem Gesicht in der Instruktionsstunde oder auf dem Kasernenhofe gestanden hätte, da würde ihm der Feldwebel sämtliche Tiernamen an den Kopf geworfen haben.

Immer wieder las Leutnant von Renndorf den Brief, den ihm der Notar gesandt hatte, und nach und nach wurde ihm klar, was der ihm schrieb. Der alte Sonderling, der schwerreiche Herr von Renndorf, war im hohen Alter verstorben und hatte in seinem rechtskräftigen und unantastbaren Testament ihn, den bisherigen blutarmen Leutnant zum alleinigen Erben eingesetzt, und das nur deshalb, weil er in der weitverzweigten Familie derer von Renndorf der einzige gewesen sei, der ihn bei Lebzeiten nicht ein einzigesmal angeborgt habe. Gewiß, vor Jahren hatte sein Vormund versucht, bei dem alten Herrn etwas für ihn zu erhalten, aber der Brief zählte nicht mit, denn der Notar hatte damals ausdrücklich und ehrenwörtlich erklärt, er schriebe den Brief ohne Wissen und hinter dem Rücken seines Mündels.

Er, der bisherige arme Leutnant, war der Erbe. Hundertund­zwanzigtausend Mark fielen ihm in den Schoß, aber nicht, wie Hans Hansen angenommen hatte, als Kapital, sondern als alljährliche, lebenslängliche Rente. Das Kapital blieb unter der Verwaltung des Justizrates und durfte niemals und unter gar keinen Umständen angegriffen werden, auch würden ihm die Zinsen, solange er lebte, nur in monatlichen Raten von zehntausend Mark ausgezahlt werden, damit er bei dem Empfang größerer Summen nicht vielleicht doch noch veranlaßt würde, ein leichtsinniges Leben zu führen und das Geld mit vollen Händen zum Fenster hinauszuwerfen. Es war der feste Wille des Erblassers, daß sein Erbe niemals in die Lage kommen solle und kommen könne, zu verarmen, und deshalb war das Testament in allen Einzelheiten mit dem Notar zusammen besprochen und aufgesetzt worden.

Zehntausend Mark monatliche Rente für ihn, der bisher mit dem Groschen gerechnet hatte. Er konnte sich nicht mehr darüber täuschen, es war die Wahrheit, die er da las, aber trotzdem konnte er die immer noch nicht glauben. Und ebensowenig glaubten es die Kameraden, als er denen am Mittag im Kasino erzählte, welcher gewaltige Umschwung in seinem Leben eingetreten sei.

Seine Zweifel fanden erst wirklich ein Ende, als er zwei Tage später von dem Notar die ersten monatlichen Zinsen zugesandt erhielt. Da, als er die ersten zehn braunen Scheine vor sich liegen sah, da mußte er ja glauben, und in der grenzenlosen Dankbarkeit, die ihn erfüllte, betrübte es ihn doppelt und dreifach, daß der Verstorbene, der wirklich ein großer Sonderling gewesen sein mußte, seinem eigenen Wunsche gemäß in aller Stille und ohne jede Feierlichkeit beigesetzt worden war, bevor sein Erbe die Nachricht seines Todes durch den Notar erhielt.

Zehntausend Mark! Und wenn die in diesem Monat ausgegeben waren, dann kamen im nächsten Monat wieder zehntausend, und dann abermals, und das ging so weiter bis an sein Lebensende. Aber wie sollte er das viele Geld nur ausgeben, und doch mußte er das tun, denn unmöglich konnte er doch sparen, und für wen auch? Für seine späteren Erben, für seine spätere Frau und für seine späteren Kinder? Die hatten doch weiß Gott mehr als genug, wenn er denen die Rente hinterließ, die er jetzt selbst bezog, und über die er für den Fall seines Todes völlig frei verfügen konnte.

Er mußte also das Geld ausgeben, und schon nach einigen Wochen fand er, daß das gar nicht so schwer sei, als er es zuerst glaubte. Er mietete sich eine sehr hübsche Wohnung, die er auf das behaglichste einrichtete, er hielt sich mit Erlaubnis seiner Vorgesetzten zwei Reitpferde, er kaufte sich neue Uniformen und für seine späteren Urlaubsreisen elegante Zivilkleider, er hielt sich in seiner Wohnung seinen eigenen Weinkeller und kaufte sich seine Zigarren gleich tausendweise, nur daß er jetzt natürlich keine Zigarren mehr das Stück zu sechs Pfennige rauchte.

Bei den Anschaffungen reichten in den ersten Monaten die zehntausend Mark gerade aus, aber als dann alle Lieferanten bezahlt waren, da wußte er nicht mehr, wohin mit dem Geld, und nur, um es los zu werden, drängte er den Kameraden kleinere und größere Darlehen auf, bis ihm das von seinen Vorgesetzten verboten wurde. Er solle sich freuen, daß er jetzt selber so märchenhaft reich sei, aber er, der Kommandeur, dulde es nicht, daß er die Kameraden, wenn auch in bester Absicht, dazu verleite, über ihre Verhältnisse zu leben. Zurückgeben konnten diese das Darlehen ja niemals, und daß ein preußischer Leutnant sich von einem anderen Leutnant etwas schenken lasse, das hätte es in der Armee noch nie gegeben, und das dürfe es auch in Zukunft nicht geben. Und bei der Gelegenheit sprach der Kommandeur von den Gefahren, die durch seinen Reichtum für das ganze übrige Offizierskorps bestände, namentlich in einer kleinen Garnison wie in der seinigen. Es war eine lange, lange Rede, die der Vorgesetzte vom Stapel ließ und die damit endete, daß er seinem Leutnant nahelegte, seinen Abschied zu erbitten, um ganz seinem Vermögen zu leben, denn jetzt, wo er die Mittel habe, sich die Welt anzusehen, könne es ihm doch eigentlich nicht mehr allzu viel Vergnügen bereiten, auf dem Kasernenhofe zu stehen und Rekruten auszubilden.

Leutnant von Renndorf fühlte, wie er bei diesen Worten erblaßte, er sollte den bunten Rock ausziehen, er, der mit Leib und Seele Soldat war, der von Kindheit an zum Offizier erzogen war, er, der sich gar keinen anderen Beruf, ja, gar keine andere Tätigkeit vorzustellen vermochte! Er sollte aufhören, Offizier zu sein? Und weshalb? Nur weil er jetzt so reich war? Und glaubte der Oberst wirklich, es würde ihn auf die Dauer befriedigen, in der Welt herumzufahren und sich die anzusehen? Nein, er war Offizier und wollte es auch bleiben. Das erklärte er dem Vorgesetzten mit fester Stimme, und eine solche Begeisterung für seinen schönen Beruf sprach aus jedem seiner Worte, daß der Herr Oberst ihm die Hand reichte und ihm gelobte, daß er dann auch im Regiment bleiben solle, er müsse nur seinerseits versprechen, kein zu luxuriöses Leben zu führen, um dadurch nicht ungünstig auf die Kameraden einzuwirken.

Das gelobte er auch. Ja, um Offizier bleiben zu dürfen, hätte er jedes Versprechen gegeben, das man von ihm verlangte, aber als er dann wieder in seiner schönen Wohnung saß, fragte er sich immer wieder, was er denn nun mit seinem vielen Gelde anfangen solle, wenn er es nicht einmal ausgeben dürfe. Und ausgeben mußte er es doch, aber wie?

Und die Antwort auf diese Frage glaubte er ein paar Wochen später zu finden, als es Herbst geworden war und als auf den Gütern der Nachbarschaft die Jagden begannen. Ein guter Schütze war er immer gewesen, aber den Luxus, ein Jäger zu sein, hatte er sich nicht leisten können. Wovon hätte er wohl einen Jagdanzug, die Patronen und was sonst noch immer dazu gehört, bezahlen sollen? Jetzt aber hatte er alles im Überfluß, und so nahm er denn auch mit Freuden die Einladung eines Gutsbesitzers an, der die Kameraden des Regiments alljährlich zur Jagd bei sich sah. Es war seine erste Jagd, und wenn er auch noch nie auf lebendes Wild geschossen hatte, so gelang es ihm dennoch, auf der Treibjagd nicht nur ein paar Hasen, sondern sogar ein paar Böcke zur Strecke zu bringen. Keiner war so stolz wie er, und als dann nach Beendigung der Jagd in dem Herrenhause des Jagdgebers das Diner stattfand, da war er der Fröhlichste und der Ausgelassenste von allen. Keinem schmeckte der Sekt so gut wie ihm, und es schmeichelte ihm, daß selbst erfahrene Jäger ihm ihre Komplimente machten, daß auch sie ihn baten, zu ihren Jagden zu kommen, und daß man sich offensichtlich um seine Gunst bewarb, nur weil er jetzt reich war. Er selbst empfand diesen Reichtum eigentlich gar nicht mehr. Mit dem Anpassungsvermögen der Jugend hatte er sich überraschend schnell in die neue Lage hineingefunden, und wenn er an sein früheres Leben zurückdachte, an den Hunger, der ihn gequält, an die Entbehrungen, die er sich fortwährend auferlegen mußte, dann erschien ihm das alles wie ein häßlicher Traum. Er konnte es zuweilen gar nicht mehr glauben, daß er tatsächlich einmal so arm gewesen war.

Das Diner war gut, die Weine waren noch besser, und als man dann endlich von Tisch aufstand, wäre er am liebsten noch sitzengeblieben. Er wußte ja, was jetzt kam, der obligate Skat. Als er arm war, hatte er keine Karte angerührt, und auch jetzt vermochte er diesem Spiel absolut kein Interesse abzugewinnen. Er spielte so schlecht, daß es selbst den Kameraden keinen Spaß machte, mit ihm zu spielen, trotzdem sie die Gelegenheit hatten, von ihm zu gewinnen. Aber schließlich setzte man sich doch nicht wegen des Gewinnes, sondern des Spieles wegen zum Skat. So sah er voraus, daß man ihn auch heute nicht als Partner auffordern würde, und er war dessen sehr froh, wenn er auch wußte, daß er sich als einziger Nichtspieler langweilen würde, bis endlich die Krümperwagen zur Heimfahrt angespannt würden.

Die Spieltische waren aufgestellt, die Herren nahmen ihre Plätze ein, und er schlenderte, seine Zigarre rauchend, bald zu diesem, bald zu jenem Tische, bald hier, bald dort stehenbleibend und dem Spiel zusehend, bis er dann schließlich in eines der Nebenzimmer trat, in dem sich einige Gutsbesitzer zu „ihrem Skat”, wie sie es nannten, vereinigt hatten. Schon wollte er sich diskret wieder zurückziehen, da die Herren, die hier zusammensaßen, ihm nicht näher bekannt waren, aber eine Stimme rief ihm zu: „Nur herein in die gute Stube, Herr von Renndorf, Sie brauchen sich vor uns nicht zu fürchten, wir tun keinem Menschen etwas Böses, es müßte denn sein, daß Sie sich freiwillig an unserem Spiel beteiligten, und auch da bliebe es noch abzuwarten, ob wir Ihnen wirklich etwas täten. Wer da solchen Dusel bei der Jagd gehabt hat, den pflegt auch bei dem Jeu das Glück nicht zu verlassen.”

Hier wurde also gejeut, nicht einfach Karten gespielt wie im Kreise der Kameraden. Hier ging es um hohe Summen, wie er sehr bald bemerkte, um Hunderte und um Tausende. Das, was er hier vor sich sah, ist also das Jeu, das Glücksspiel, von dem er so oft gehört und gelesen, das er aber noch nie mit eigenen Augen beobachtete. Im Kasino wurde niemals gejeut, auch nicht wenn Gäste aus der Stadt oder von den Gütern da waren, weil allen Offizieren das Glücksspiel streng verboten ist. Das also war das Jeu, und er bemerkte sehr deutlich die stummen Blicke, mit denen die anderen Herren ihn ansahen und in denen zu lesen stand: Na, wie ist es, Herr von Renndorf, hätten Sie nicht auch einmal Lust, Ihr Glück zu versuchen? Hier haben Sie Gelegenheit, zu den Geldern, die Sie schon besitzen, neue hinzuzugewinnen, und unter Umständen haben Sie auch Gelegenheit, überflüssige Dukaten, für die Sie sonst keine Verwendung haben, mit Anstand an den Mann zu bringen.

Keiner sprach das so offen aus, wohl weil niemand die Schuld auf sich laden wollte, den Offizier zu einem verbotenen Spiel überredet zu haben. Jeder wollte jederzeit mit gutem Gewissen behaupten und beschwören können: wir haben Herrn von Renndorf mit keiner Silbe aufgefordert, sich an unserem Spiele zu beteiligen, er hat aus eigenem Antriebe darum gebeten.

Aber was die Lippen auch verschwiegen, die Augen sagten es um so deutlicher, und plötzlich saß er mitten unter den Spielern. Nicht um zu gewinnen, sondern um zu verlieren, um sein Geld los zu werden, was er bis zum Ersten ausgeben mußte, und von dem er doch nicht wußte, wie er es ausgeben sollte. Hier bot sich ihm dazu Gelegenheit, aber es kam ganz anders, als er und seine Mitspieler es sich dachten.

Nachdem er in die Geheimnisse des sehr einfachen Spieles eingeweiht worden war, gewann er Schlag auf Schlag. Nicht etwa, als ob die anderen ihn absichtlich anfangs hätten gewinnen lassen, um ihn nachher desto sicherer in den Verlust zu bringen. Das war ausgeschlossen, denn er spielte mit wirklichen Kavalieren, mit tadellosen Ehrenmännern, die es nur zu bald bedauerten, ihn zu dem Spiel verleitet zu haben. Kaum, daß im Verlauf des Abends die Karten ein paarmal zu seinen Ungunsten schlugen. Das Glück war und blieb ihm treu, und als er dann endlich nach Mitternacht aufbrechen mußte, weil die Kameraden in die Garnison zurückfuhren, da hatte er den anderen Herren fast ihr ganzes Geld abgenommen, seine Taschen strotzten von Hundert- und Tausendmarkscheinen und von Goldstücken.

Natürlich ließ man ihn nicht gehen, bevor er nicht versprochen hatte, allen bei der nächsten Gelegenheit Revanche zu geben, und das verprach er gern. Nicht nur, weil er bei dem besten Willen nicht wußte, was er hier in der kleinen Garnison mit dem vielen Geld anfangen solle, sondern auch weil der Spielteufel ihn gepackt hatte. Das Spiel als solches reizte ihn, ob er gewann oder nicht, was lag ihm daran, aber es machte ihm trotzdem Spaß und Vergnügen, zu sehen, wie sich der Gewinn vor ihm anhäufte, und seine Nerven fieberten, wenn der Bankhalter die Karte schlug, die da entschied, wem der hohe Einsatz zufiel.

Der Spielteufel hatte ihn gepackt, und der ließ ihn auch nicht wieder los. Als wäre es ein stillschweigendes Übereinkommen, hatte keiner der am Jeu beteiligt gewesenen Herren den Regimentskameraden etwas von seinem großen Gewinn erzählt, es überhaupt mit keiner Silbe erwähnt, daß er sich an dem Spiel beteiligt habe, und er selbst sagte den Freunden erst recht nichts davon. Nicht, als ob er ein schlechtes Gewissen gehabt hätte, o nein, das war keineswegs der Fall, sondern er schwieg lediglich, damit der Kommandeur nichts davon erführe, und damit der ihm dann nicht sein Ehrenwort abverlange, sich nie wieder an dem Spiel zu beteiligen. Er aber wollte und mußte weiterspielen, die Leidenschaft hatte ihn ergriffen, und wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte er am liebsten bis zum Morgen oder bis zum Mittag weitergejeut.

Der ersten Jagd folgte sehr bald eine zweite und dritte und diesen eine vierte und fünfte. Und immer wieder wurde nach dem Diner gespielt. Von den Kameraden merkte keiner etwas davon, daß er sich im Laufe des Abends regelmäßig in eines der Nebenzimmer drückte, um sich dort zu den Gutsbesitzern zu setzen. Die Kameraden mochten glauben, daß er irgendwo mit ein paar Herren bei einem Glas Bier und bei der Zigarre plaudernd zusammensaß.

Bis es dann doch eines Tages, viel schneller, als er geglaubt hatte, zum Eklat kam. Es war eines Tages wieder gejeut worden, und zwar um viel höhere Summen als sonst. Man verdoppelte und verdreifachte die Einsätze, um die Verluste wieder einzubringen, um ihm, dem Leutnant von Renndorf, die Unsummen wieder abzunehmen, die man zuerst in bar, schließlich in unbar an ihn verloren hatte. Aber dem war das Glück wie stets treu geblieben, so unglaublich treu, daß man bei jedem anderen als bei ihm darauf geschworen hätte, die Sache könne unmöglich mit rechten Dingen zugehen. Aber er gewann selbst dann, wenn er gar nicht die Bank hielt. Jeder, auch der leiseste Verdacht gegen seine Ehrenhaftigkeit war vollständig ausgeschlossen. Er hatte ganz einfach einen blödsinnigen Dusel, weiter nichts.

Es war spät, als man mit dem Spiel aufhörte, und da geschah es zum erstenmal, daß keiner ihn aufforderte, bei der nächsten Gelegenheit wieder Revanche zu geben. Blaß und stumm, mit verstörten Mienen und teilweise mit entsetzten Gesichtern standen die am Spiel beteiligt Gewesenen da, als er sich von ihnen verabschiedete, und drei Tage später durcheilte die Schreckenskunde die Stadt, daß zwei angesehene Gutsbesitzer aus der Nachbarschaft sich erschossen hätten, weil es ihnen, die dem Offizierkorps der Reserve angehörten, nicht möglich gewesen sei, ihre Spielschulden pünktlich zu bezahlen und das in dieser Hinsicht schriftlich verpfändete Ehrenwort rechtzeitig einzulösen.

Niemand war von dieser Nachricht so erschüttert wie Leutnant von Renndorf, er dachte nicht einen Augenblick an die Strafe, die ihn treffen würde, daß er dem Spiel huldigte. Er fragte sich nur immer wieder, warum die beiden Herren sich nicht an ihn gewandt und einen Aufschub zur Bezahlung ihrer Spielschuld erbeten hätten. Ihm war es doch ganz gleich, ob er das Geld in drei Tagen oder in drei Jahren erhielt, und wenn er es gar nicht bekam, war es doch auch noch so. Er hatte doch nicht gejeut, um zu gewinnen, viel eher, um zu verlieren, und wenn ihm das nicht gelungen war, dann traf ihn daran keine Schuld.

Das alles sagte er offen und frei dem Kommandeur, als es bald darauf bekannt geworden war, wem die beiden Verstorbenen so große Summen schuldeten. Er sagte es offen und frei, und er schlug den Blick auch nicht vor dem Vorgesetzten zu Boden, als dieser ein Donnerwetter nach dem anderen über ihn losließ. Er hatte ein vollständig gutes Gewissen. Warum hatten sich die anderen nicht an ihn gewandt, warum hatten sie Summen verspielt, die sie gar nicht besaßen? Natürlich, der Tod der beiden Herren lastete schwer auf ihm, aber er war nicht schuld daran, daß die beiden zur Waffe griffen. Die Alleinschuldigen waren die beiden Spieler selbst.

Trotzdem, der Eklat war da, und wenn auch schließlich selbst der Kommandeur es einsah, daß manches zugunsten seines Leutnants sprach, schuldig war er doch, der hatte dem strengen Verbot entgegen dem Hasardspiel gehuldigt, der hatte seine Strafe verwirkt.

Und die fiel schwerer aus, als er selber glaubte, und doch viel gelinder, als mancher andere es vermutete. Wohl um einen öffentlichen Skandal zu vermeiden, sah man davon ab, ihn vor das Ehrengericht zu stellen. Er erhielt sieben Tage Stubenarrest, damit er sich vorläufig nicht in der Öffentlichkeit zeige, und damit er Zeit habe, seine Sachen zu packen und seine Angelegenheiten zu ordnen. Und noch vor Ablauf dieser Strafe erhielt er die Mitteilung, daß er verabschiedet worden sei, und zwar als Leutnant a. D. Er gehörte der Armee nicht mehr an, auch nicht mehr im Reserve­verhältnis. Den bunten Rock, den er auszog, würde er nie wieder anlegen. Er war ein für allemal erledigt, er, der von Kindheit an mit Leib und Seele Soldat gewesen war.

Tagelang saß er völlig gebrochen in seiner Wohnung und dachte immer wieder zurück an den Tag, an dem er den Brief des Justizrates erhielt. Er hatte es ja gewußt, daß das Schreiben ihm nichts Gutes bringen würde. Darum hatte er ja auch so lange gezögert, es zu öffnen. Ach, hätte er den doch gar nicht aufgemacht. Wenn er auch früher hungerte, schön war das Leben doch gewesen, schon weil er Offizier war. Und nun? Die Kameraden durften für ihn nicht mehr existieren, ebensowenig wie er für sie. Keiner würde ihm bei seiner Abreise das Geleit zum Bahnhof geben, keiner würde ihm zum Abschied die Hand reichen, kein Liebesmahl fand ihm zu Ehren bei seinem Scheiden im Kasino statt. Für ihn würde dort nicht das Lied angestimmt werden: „Ich hatt' einen Kameraden, einen besseren find'st du nicht.”

Er war ehrlos geworden, auch ohne daß er vor dem Ehrengericht gestanden hätte, und wie sehr er das war, empfand er am deutlichsten, als ihm kurz vor der Abreise von dem Regimentskommando die Beträge zurückgesandt wurden, die er den Kameraden geborgt hatte. Nicht einmal Geld wollten die ihm mehr schuldig sein. Das traf ihn am härtesten, das empfand er wie einen Schlag ins Gesicht. Selbst als er nach Berlin übersiedelt war und dort in einem der ersten Hotels Wohnung genommen hatte, kam er darüber lange nicht hinweg, bis dann endlich der Trotz in ihm erwachte, bis er sich zurief: „Dann nicht! Wollen die anderen nichts mehr von mir wissen, meinetwegen, ich bin reich, ich kann mir das Leben gestalten, wie ich will. Auch ohne den bunten Rock, auch ohne den Verkehr mit den Kameraden werde ich wieder froh und glücklich werden.”

Aber er wurde es doch nicht, so sehr er sich auch in den Strudel der Großstadt stürzte, so sehr er auch mit vollen Händen das Geld ausgab und sich alles kaufte, was nur käuflich war. Und wenn er auch schon um seines Geldes wegen Gesellschaft fand, es waren doch meistens Leute, mit denen er sich als Offizier nie abgegeben hätte, und selbst von diesen rückte gar mancher von ihm ab, wenn der Gott weiß wie erfahren hatte, wer er war und wie er den Abschied bekam. Er war ausgestoßen, und wenn er in dem Speisesaal seines Hotels oder in den anderen großen, vornehmen Restaurants die Offiziere in voller Uniform sitzen sah und sich sagen mußte: Du gehörst nicht mehr zu ihnen, und wenn du sie um Erlaubnis bitten wolltest, dich etwas zu ihnen setzen zu dürfen, dann würden sie dich ansehen wie einen Aussätzigen. — Wenn er sich das sagen mußte, riß die kaum vernarbte Wunde immer von neuem auf, und immer wieder verfluchte er das Geld, das er früher so heiß ersehnte, und das ihm nichts wie Unglück gebracht hatte. Endlich sah er es ein, in Berlin fand er keine Ruhe. Wenn er dort Unter den Linden spazieren ging, wenn der Kaiser, sein Kaiser, dem auch er dereinst die Treue schwur, an der Spitze der Truppen von einer Parade zurückkam, wenn die Wache am Brandenburger Tor präsentierte, wenn er die Offiziere und Mannschaften auf der Straße spazierengehen sah, dann gab ihm das alles immer wieder einen schneidenden Stich in das Herz. Er wollte und mußte fort, irgend wohin, wo es kein preußisches Militär gab. So ging er auf Reisen. Sein alter Oberst hatte damals wohl doch recht gehabt, er war ja reich, und es machte ihm doch sicher mehr Spaß, sich die Schönheiten der Welt anzusehen, als auf dem Kasernenhof herumzustehen und Rekruten zu drillen. Und er redete sich auch ein, daß er tatsächlich nicht die leiseste Sehnsucht nach dem Kasernenhofe mehr verspüre, als er Paris mit seinen zahllosen Freuden kennen lernte, als er die Farbenpracht des Orients sah, als er Japans Naturschönheiten und die Wunder Indiens genoß. Die Weltreise, die er unternahm, führte ihn überall hin. Er genoß das Leben in vollen Zügen, von vielen an Bord des stolzen Dampfers wegen seines Reichtums beneidet, und doch nicht einmal wirklich glücklich.

Bis ihn dann eines Tages das Heimweh packte. Er wußte nicht warum und weshalb, aber er sehnte sich zurück nach seinem Deutschland, zurück nach Berlin. Wenn er auch nicht mehr der Armee angehörte und ihr nie wieder angehören würde, er mußte einmal wieder preußisches Militär sehen, er mußte einmal wieder die preußische Militärmusik hören, wenn sie mit der Wache Unter den Linden einherzog, dem kaiserlichen Schloß entgegen.

Das Heimweh hatte ihn gepackt, und er fand keine Ruhe mehr. Er wurde nicht nur seelisch, sondern auch körperlich krank, und er begann sich erst wieder zu erholen, als er in Bombay sein Schiff verlassen und Gelegenheit gefunden hatte, mit einem deutschen Dampfer die Rückreise anzutreten. Gott sei Dank, es ging wieder nach Hause. Gewiß, eine endlos lange Fahrt lag noch vor ihm, aber trotzdem, es ging wieder in die Heimat. Er hatte das Reisen gründlich satt bekommen, und doch war es wenigstens eine Zerstreuung und Abwechslung für ihn gewesen. Die Zeit war ihm schneller vergangen als in Berlin, und er hatte doch auch vieles gesehen und erlebt, das ihn wenigstens vorübergehend vergessen ließ, daß man ihm den Abschied gab, daß man es ihm nicht einmal gestattete, den zu erbitten. Wenn er erst wieder in Berlin saß, würde die Erinnerung an alles, was geschehen war, neu in ihm aufleben. Und da durchzuckte ihn vorübergehend der Gedanke: Gib die Heimreise wieder auf, kehre im nächsten Hafen um, fahre zurück nach dem schönen Indien und sieh dir noch all die anderen Herrlichkeiten an, die du nicht kennst. Was willst du in Berlin? Warum willst du dich selbst täglich damit quälen, daß du dich dem aussetzt, fortwährend das Militär zu sehen? Was hast du davon, wenn du die Regimentsmusik ihre flotten Märsche spielen hörst? Mit dem Parademarsch ist es für dich doch ein für allemal vorbei, und wenn du den Kaiser Unter den Linden grüßt, glaubst du, daß er deinen Gruß erwidern würde, wenn er wüßte, wer du bist? Also sei vernünftig, kehre um. Du bist reich, du kannst dir dein Leben nach Wunsch gestalten, die ganze Welt steht dir offen, warum willst du da gerade ausgerechnet nach Berlin, wo du auch jetzt keine frohe und keine ruhige Stunde finden wirst?

Aber er fuhr trotzdem weiter, immer der Heimat entgegen, und als er dann nach endlos langer Fahrt wieder in seinem Berliner Hotel Unter den Linden saß. da wußte er, was ihn aus der Ferne in die Heimat zurückgezogen hatte: der bevorstehende Ausbruch des Krieges. Als ob er es geahnt hätte, daß der Weltbrand entstehen würde. Nur gut, daß er wieder in Deutschland war. Mit welchen unendlichen Schwierigkeiten wäre ein paar Wochen später die Heimreise verknüpft gewesen. Vielleicht sogar, daß er als militärpflichtiger Deutscher von den Engländern in irgendeinem Hafen monatelang als Kriegsgefangener zurückgehalten worden wäre, denn wie hätte er denen klarmachen sollen, daß er, trotzdem er erst zweiunddreißig Jahre zählte, nicht mehr militärpflichtig sei — weil. Nein, lieber hätte er sich gefangennehmen lassen, ehe er einem Feinde seine Schande eingestand.

Nur ein Glück, daß er wieder in Deutschland war, aber als dann wenige Tage später die Kriegserklärung und die Mobilmachung erfolgte, da sehnte er sich doch wieder ganz weit fort. Er konnte die Begeisterung, die die Massen ergriffen hatte, ganz einfach nicht mit ansehen. Wenn er an seinen Fenstern stand und hinabblickte auf die Linden, unter denen Tausende und aber Tausende voll glühendem Patriotismus dem kaiserlichen Schlosse entgegenzogen, wenn er den Schritt der dort unten marschierenden Soldaten hörte, wenn aus tausend und abertausend Kehlen die „Wacht am Rhein” und „Deutschland, Deutschland über alles” erklangen, — wenn er sah, wie die ankommenden Reservisten lachend und scherzend mit ihren Unteroffizieren und Gefreiten zur Kaserne geführt wurden, um dort eingekleidet zu werden, dann stand er da, totenblaß, die Lippen fest aufeinander­gepreßt, die Fingernägel in das Fleisch der Hände gedrückt, und ihm war, als solle ihm das Herz zerreißen. Fort, nur fort, damit er diese Begeisterung nicht mehr anzusehen brauchte, nur fort, aber wohin? In das Ausland zu reisen, war unmöglich, und wenn er in eine andere Stadt fuhr, traf er dort nicht überall dasselbe Bild? Eilten nicht auch dort von allen Seiten die Reservisten und die Landwehrleute zu ihren Regimentern, meldeten sich nicht auch dort überall Tausende und aber Tausende von Freiwilligen zu den Fahnen? Schüler, Knaben, Jünglinge, Männer jeglichen Alters und jeglichen Standes drängten sich danach, mit hinausziehen zu dürfen in das Feld, ihnen allen wurde auch die Erlaubnis erteilt, wenn auch nicht sofort, so doch später, nur er — — —

Die Scham stieg ihm ins Gesicht, seine Wangen färbten sich dunkelrot, um gleich darauf wieder zu erblassen. Nun wußte er erst, wie ehrlos er war. Jeder Offizier, der früher gedient hatte, bekam jetzt, wenn er ihn nicht schon in Händen hatte, von seinem Bezirkskommando den Gestellungsbefehl zugesandt, in dem es hieß: „Sie haben sich an dem und dem Tage um die und die Zeit dort zu melden.” Und die wegen ihres Alters oder sonst irgendwie Felddienstunfähigen, die zum Dienst vor dem Feinde nicht mehr verpflichtet waren, erhielten die Anfrage, ob sie sich nicht freiwillig dem Vaterland zur Verfügung stellen wollten, denn es würde jeder einzelne in diesem Kriege gebraucht. Nur um ihn kümmerte sich kein Bezirkskommando, er wurde nicht gerufen, und doch war er jung und kräftig, jeder, auch der schwersten Anstrengung gewachsen. Er schämte sich vor sich selbst, und ihm war, als müsse ihm jeder seine Schmach vom Gesicht ablesen. Er wagte sich nicht mehr aus seinen Zimmern, er ging nicht mehr in den großen Speisesaal hinunter, um dort keinen neugierigen Blicken ausgesetzt zu sein, die ihn zu fragen schienen: Nanu, Ihnen sieht man doch auf den ersten Blick den früheren preußischen Offizier an, und Sie sind noch hier? Er wagte sich nicht mehr unter die Menschen, und als dann eines Morgens sein Zimmerkellner bei ihm eintrat, um sich von ihm zu verabschieden, da er eingezogen sei, und als der ihn dann bei dieser Gelegenheit voller Teilnahme und mit dem Ausdruck ehrlichsten Bedauerns fragte, ob der Herr Baron denn gar nicht mitmache, oder ob der Herr Baron als krank und dienstuntauglich dazu verurteilt sei, zu Hause bleiben zu müssen, da wurde er, um sich nicht zu verraten, dem so grob, daß er ihn Hals über Kopf zur Tür hinauswarf und nicht einmal daran dachte, ihm als Lohn für die geleisteten Dienste ein reichliches Trinkgeld mit auf den Weg zu geben. Und als er dann wenig später das Versäumte nachholen wollte, da war es zu spät, da hatte der Kellner bereits das Hotel verlassen, ohne anzugeben, bei welchem Regiment er sich zu melden habe.

Er schloß sich in sein Zimmer ein wie ein Verbrecher, der da fürchtet, in seinem Versteck aufgestöbert zu werden. Nur des Morgens, wenn die Straßen noch still und leer dalagen, wagte er sich auf eine Stunde in den Tiergarten, um frische Luft zu atmen, sonst saß er in seinem Zimmer und rauchte und las. Aber während er las, schweiften seine Gedanken weit fort. Die begleiteten die endlos langen Eisenbahnzüge, die die ersten Truppen an die Grenzen brachten, auf ihrer Fahrt, die waren in den Kasernen, wo die Leute jetzt eingekleidet, auf den Kasernenhöfen, wo die neueingestellten Mannschaften exerziert wurden.

Bis er dann aufsprang, um in seinem Zimmer auf und ab zu stürmen. Dieses Leben der Untätigkeit, der Schande, der Schmach war ja nicht zu ertragen. Seit der Stunde der Mobilmachung waren erst sechs Tage verflossen, Monate, wenn nicht noch länger, würde dieser Krieg dauern, und da sollte er die ganze Zeit hindurch hier herumsitzen? Er fühlte, nein, er wußte, daß er das nicht ertragen könne, ohne verrückt zu werden. Aber ehe er sich in eine Anstalt einsperren ließ, eher machte er selbst seinem jammervollen Leben ein Ende.

Aber er wollte noch nicht sterben, er wollte leben und er wollte mitkämpfen für das Vaterland. Voller Verzweiflung rang er die Hände. Du großer Gott, gab es denn für ihn gar keine Möglichkeit, in das Feld zu kommen? War die Schuld, die er auf sich geladen, denn wirklich so riesengroß, daß es dafür keine Verzeihung gab? Wenn er sich an seinen Kaiser mit einem Gnadengesuch wenden würde, ihn als Offizier wieder anzustellen, ob ein solches Gnadengesuch wohl auch in der jetzigen Zeit vergebens sein würde? Aber Wochen und Monate konnten in der jetzigen Zeit vergehen, ehe er eine Antwort auf dieses Gesuch erhielt, vorausgesetzt, daß er die überhaupt bekam.

Und selbst wenn er auf dem Gnadenwege die Epauletten wiedererhielte — nein, er wollte keine Gnade, er wollte sich die selber wieder verdienen, durch seine Tapferkeit vor dem Feinde. Es gab nur eins, er mußte sich als Kriegsfreiwilliger melden, als gemeiner Musketier eintreten und dann versuchen, mit der Zeit zu avancieren.

Aber welches Regiment würde ihn, den Ehrlosen, nehmen? Und sollte er von einem Oberst, der ihn ablehnte, zum nächsten fahren und von diesem wieder zu einem anderen, und immer so weiter, bis alle aus seinem Munde die Geschichte seiner Verabschiedung erfahren hatten? Dagegen lehnte sich sein Stolz auf, bis er sich dann doch fragte: Hat ein Mensch wie du noch ein Anrecht darauf, stolz zu sein, hat er nicht vielmehr alle Ursache, jede Demütigung ruhig einzustecken, bis er endlich wieder mit Recht stolz sein darf? Welches Regiment würde ihn als Kriegsfreiwilligen aufnehmen? Höchstens eins, sein altes Regiment. Da wußte man, was er verbrach, da brauchte er nicht viele Worte zu machen, da konnte er einfach sagen: „Hier bin ich, um zu sühnen, was ich vor ein paar Jahren im Leichtsinn, dem die Jugend zugute gehalten werden muß, beging. Wollt ihr mir Gelegenheit geben, meine Ehre wiederzugewinnen?”

Wenn überhaupt ein Regiment ihn nahm, war es sein altes, aber sollte er jetzt der Untergebene seiner früheren Kameraden werden, mit denen er an demselben Tisch gesessen, mit denen er verkehrt hatte, die er bei sich als Gast gesehen, denen er Geld geborgt und die es ihm zurücksandten, weil sie nichts mehr, aber auch gar nichts mehr von ihm wissen wollten. Leicht würde es ihm nicht fallen, gerade hier als gewöhnlicher Mann in die Front zu treten, aber vielleicht, daß gerade hier sich Gelegenheit bot, schneller als wo anders zu avancieren.

Leicht wurde es ihm nicht, aber es mußte sein. Einen Augenblick zögerte er noch, dann nahm er ein Telegrammformular zur Hand, um bei dem Regimentskommando anzufragen, ob man ihm gestatten würde, als Kriegsfreiwilliger — — — Aber schon, nachdem er die ersten Worte geschrieben hatte, zerriß er die Depesche wieder, Nicht schriftlich, nein, mündlich wollte er seine Bitte vortragen, und er würde mit seiner Bitte nicht eher aufhören, bis man seinen Wunsch erfüllte, vorausgesetzt, daß es damit nicht schon zu spät war, daß sich das Regiment nicht schon vor dem Feinde befand.

Nun galt es, so schnell wie möglich die Garnison zu erreichen. An eine Eisenbahnfahrt dorthin war nicht zu denken, ein Auto mußte ihn in rasend schneller Fahrt, und wenn die auch einen ganzen Tag dauern sollte, dorthin bringen.

So ließ er sich denn einen Wagen bestellen und benutzte die kurze, ihm noch verbleibende Zeit, wenigstens einen Teil seiner Sachen zu ordnen und alles, was er bei sich hatte, dem Hotelier zur Aufbewahrung anzuvertrauen.

Eine Stunde später fuhr das Auto mit ihm davon, und was er selbst kaum zu hoffen gewagt hatte, traf ein. Er erreichte das Regiment noch, allerdings nur wenige Stunden, bevor es den Abmarsch zum Bahnhof antrat. Mit dem Hut in der Hand, demütig wie ein Bittender näherte er sich dem Kommandeur. Es war nicht mehr derselbe Oberst, unter dem er damals gedient hatte, aber der mußte ihn und seine Geschichte trotzdem sehr genau kennen, denn kaum hatte er ihm seinen Namen genannt, da sagte der Vorgesetzte zu ihm: „Ich habe es gewußt, Herr von Renndorf, daß Sie kommen würden. Es ist in diesen Tage im Kameradenkreise viel von Ihnen gesprochen worden. Wir haben Sie alle bedauert, daß Sie nicht als Offizier mitkämpfen dürfen, aber ein jeder von uns hat erklärt, wenn Renndorf wirklich der anständige Mensch ist, für den wir ihn trotz alledem immer gehalten haben, dann bittet er darum, in unseren Reihen als Musketier mitkämpfen zu dürfen, um vielleicht die Epauletten wiederzugewinnen, denn wenn wir uns in ihm nicht bitter täuschen, dann steht ihm seine Ehre höher als sein Geld. Wie gesagt, ich wußte, daß Sie kommen würden, ich habe auf Sie gewartet, auch um Ihrer selbst willen, und es freut mich, auch für uns, für Ihre alten Kameraden, daß Sie da sind.”

Aber nicht allein, daß der Kommandeur ihn, den damals aus dem Heere Ausgestoßenen, mit solchen Worten empfing, er streckte ihm sogar die Hände zum Wilkommen entgegen. Seit mehr als Jahr und Tag reichte ein Offizier ihm zum erstenmal wieder die Hand, und ihm war, als habe er diese Auszeichnung nicht verdient, als müsse er erst mit der Zeit würdig werden.

Der Kommandeur mochte ungefähr erraten, was in dem anderen vorging, und um dem darüber hinwegzuhelfen, rief er ihm jetzt zu: „Und nun den Kopf hoch und nicht mehr rückwärts geschaut, sondern nur vorwärts. Gehen Sie jetzt sofort auf die Regimentskammer und lassen Sie sich dort einkleiden. Fürchten Sie nicht, daß der alte Sergeant Sie etwa wiedererkennt. Da wir mit Sicherheit darauf rechneten, daß Sie kämen, habe ich Ihretwegen bereits mit allen Unteroffizieren des Regiments gesprochen. Offiziell wird sich keiner mehr Ihrer erinnern, keiner wird Sie auf die früheren Zeiten hin ansprechen, auch ich in Zukunft nicht mehr. Von der Minute an, in der Sie eingekleidet wurden, sind Sie für uns alle weiter nichts,. als der uns nur dem Namen nach bekannte Kriegsfreiwillige von Renndorf. Es wird an Ihnen liegen, uns bald wieder mehr zu sein. Wir werden ein wachsames Auge auf Sie haben und Sie nur dann zur Beförderung vorschlagen, wenn Sie es wirklich verdienen. Wir hier kennen Ihre Schuld, da müssen wir Ihnen doppelt und dreifach strenge, aber trotzdem natürlich gerechte Richter sein.”

Eine Stunde später war der Kriegsfreiwillige von Renndorf eingekleidet, feldmarschmäßig, das Gewehr in der Hand, den Tornister auf dem Rücken, das scharfgeschliffene Faschinenmesser an der Seite, und als es zur Bahn ging, marschierte er in der Mitte seiner Kompagnie und nahm mit den Leuten seiner Korporalschaft, als das Signal zum Einsteigen erfolgte, in einem Viehwagen Platz. Er, der sonst gewöhnt war, erster Klasse zu fahren oder auf den Dampfern in der teuersten Luxuskabine zu reisen. Aber kein Wort der Klage kam über seine Lippen. Während der ganzen, endlos langen Fahrt empfand er nicht eine Sekunde den Mangel jeglichen Komforts. Ja, noch mehr, so fröhlich und ausgelassen seine Kameraden waren, so sehr die sich danach sehnten, an den Feind zu kommen, er war der Fröhlichste von allen.

Und als man dann endlich vor dem Feinde stand, als man sich in Ostpreußen mit den Russen herumschlug, da nahm von den Tapfersten der Tapferen es doch keiner mit ihm auf. Die anderen kämpften für Weib und Kind, für die Scholle, die sie verlassen, für das Eiserne Kreuz, das ein jeder gern verdienen wollte, er aber kämpfte um mehr, um seine Ehre.

Bis es dann eines Abends zum Angriff gegen eine feindliche Batterie kam, die immer noch feuerte, während die anderen Batterien, die bisher der Kompagnie gegenübergestanden hatten, längst zum Schweigen gebracht worden waren. Auch diese Geschütze, deren Leute merkwürdig gut schossen, mußten das Feuer einstellen, und die Kanoniere hätten sich wohl längst mit den anderen Kameraden zur Flucht gewandt, wenn ihr Hauptmann sie nicht mit der Knute in der Hand gezwungen hätte, standzuhalten. Wenn erst der Batteriechef gefallen war, dann war auch diese Batterie erledigt, aber der Führer schien gegen jede Kugel gefeit. Selbst die bestgezielten Schüsse hatten ihn verfehlt, und so oft auch er, der Kriegsfreiwillige von Renndorf, sich den auf das Korn genommen hatte, es war ihm noch nicht gelungen, den Gegner zu Fall zu bringen.

Da kam das Signal zum Sturmangriff. Die Kompagnie, die gegen die wie toll feuernde Batterie angesetzt wurde, wußte, daß es keine Kleinigkeit sein würde, die Geschütze zu nehmen. Aber gerade deshalb gingen alle voller Begeisterung vorwärts. Mochten die Schrapnells noch so sehr in die Reihen einschlagen, was lag daran, wer fiel, der fiel und starb den Heldentod für das Vaterland, wer da aber nur verwundet wurde, achtete der Wunden nicht und stürmte trotzdem vorwärts. Ihnen allen voran der Kriegsfreiwillige von Renndorf, eine Schrapnellkugel hatte ihn an der Schulter, eine zweite leicht am Kopf verletzt, aber in der gewaltigen Aufregung, in der er sich befand, verspürte er gar keinen Schmerz, er sah und fühlte es nicht, daß er blutete. Er sah nur etwas, den Batteriechef da vor sich, und er wußte, wenn er den nicht als Gefangenen einbrachte, dann war alles bisher umsonst gewesen, dann hatte er die bisherigen Strapazen vergebens ertragen, dann würde es ihm nie gelingen, seine Ehre wieder zu verdienen.

Aber es mußte gelingen.

„Marsch, marsch — hurra!”

Zum letztenmal schmetterten die Signale, zum letztenmal wirbelten die Trommeln, dann war man drin in der Batterie. Mehr als hundert Mann waren zum Sturmangriff vorgegangen, keine dreißig von ihnen standen nun in der Batterie, mit ihren Kolbenstößen überall hin Tod und Verderben bringend.

Nur der russische Hauptmann stand noch immer aufrecht da, seine Säbel schwingend, den er jetzt statt der Knute in der rechten Hand trug, während er in der linken seinen Revolver hielt, mit dem er jeden, der sich ihm näherte, zur Strecke brachte.

Da fühlte er aber plötzlich, wie jemand an ihm emporsprang und mit seinen beiden Fäusten seine Kehle umklammerte. So schnell, so überraschend war dieser Angriff erfolgt, daß der Russe von seinen Waffen keinen Gebrauch mehr machen konnte. Wohl fuchtelte er mit dem Säbel noch in der Luft herum, wohl verfeuerte er aus dem Revolver die letzte Patrone, aber er verfehlte den Gegner, da er auf den nicht mehr zu zielen vermochte. Und immer fester und fester preßten zwei deutsche Fäuste seine Kehle zusammen. Da ließ er endlich die Waffen fallen und versuchte mit seinen Händen, sich des Gegners zu erwehren. Mit starken Armen umklammerte er den Angreifer, aber während er den von sich abzuschütteln versuchte, preßte der wie mit einer eisernen Schraube seinen Hals immer fester und fester zu, bis der Russe endlich nach einem stillen, lautlosen, aber mörderischen Zweikampf am Boden lag. Aber es war auch die höchste Zeit, eine Minute später wäre der Kriegsfreiwillige von Renndorf unterlegen gewesen, denn auch seine Kräfte drohten ihn zu verlassen, die Wunden, deren er zuerst gar nicht achtete, schmerzten doch sehr.

Der Wille zum Sieg hatte ihm Riesenkräfte verliehen, aber als er nun gesiegt hatte, als er sah, wie die Kameraden hinzueilten, um den am Boden Liegenden als Gefangenen mit sich zu führen, da fühlte er, wie er im Begriff stand, das Bewußtsein zu verlieren. Der Blutverlust wurde immer größer und größer, und er hatte nur noch die Kraft, den Kameraden zuzurufen: „Nehmt mich mit.”

Als er die Augen wieder aufschlug, lag er in einem Feldlazarett, und er mußte sich lange besinnen, bis ihm wieder einfiel, was mit ihm geschehen war. Dann aber erfüllte eine grenzenlose Freude seine Brust, er lebte, und er war in dem Kampfe Sieger geblieben. Er hatte gesiegt, der Lohn würde nicht ausbleiben.

Und er blieb nicht aus. Vierzehn Tage später, als er noch im Lazarett lag, erhielt er die schriftliche Mitteilung, Seine Majestät der Kaiser habe allergnädigst geruht, den Kriegsfreiwilligen von Renndorf, den ehemaligen Infanterieleutnant in Anerkennung seiner vor dem Feinde bewiesenen Tapferkeit und auf Grund der von seinen Vorgesetzten über ihn eingereichten ausführlichen Berichte mit seinem alten Patent wieder als Offizier in die Armee einzustellen.

Wieder als Offizier in die Armee eingestellt! Sogar mit seinem alten Patent! Das war mehr, viel mehr, als er erwartet, als er jemals erhofft hatte, und zum erstenmale seit vielen Jahren faltete er seine Hände und sandte ein Gebet zum Himmel, um dem lieben Herrgott zu danken.

Ein neues, schönes Leben lag vor ihm, er brauchte vor keinem Menschen mehr den Blick zu Boden zu schlagen, er hatte wieder seine Ehre.


Fußnoten:

(1) Viel besser würde es hier heißen: „Teller” anstatt „Taler” — vielleicht ein Fehler des Setzers ? D.Hrsgb. (Zurück)


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