Ehrlos.

Erzählung aus dem preußischen Offiziersleben.
Von Freiherrn v. Schlicht.
(nicht identisch mit der gleichnamigen Erzählung aus dem Band „Unsere Feldgrauen”)
in: „Neues Wiener Journal” vom 1.1.1910


Seit acht Tagen wußten es die Kameraden im Regiment, der gute Borken, der wie kein anderer in der Liebe die Abwechslung liebte, hatte jetzt als einziger von ihnen allen, wenn auch natürlich nur vorübergehend, eine Freundin. Sie neckten ihn nicht schlecht damit im Kasino, und so glücklich Borken auch mit seiner Betty war, so fühlte er sich dennoch verpflichtet, sich gegen die Neckereien zu verteidigen, ihnen zu erklären, warum er seinen Grundsätzen untreu geworden war: „Ihr habt gut reden, aber versetzt euch in meine Lage. Ich habe das Mädel auf dem Gewissen, da kann ich ihr doch nicht gleich wieder den Laufpaß geben, wie jeder xbeliebigen anderen.”

Und je öfter er im Laufe der Zeit mit ihr geneckt wurde, je mehr die Kameraden sich darüber wunderten, daß er sich immer noch nicht wieder frei gemacht hatte, und je mehr sie anfingen, sein Verhalten zu tadeln, immer hatte er dieselbe Ausrede: „Kinder, versetzt euch in meine Lage, ich habe das Mädel auf dem Gewissen, da kann ich sie doch nicht ohne weiteres fortschicken, wie jede xbeliebige andere.”

Er wußte selbst am besten, daß diese Worte, wenn sie auch die Wahrheit enthielten, dennoch eine Lüge waren. In Wirklichkeit trennte er sich nur deshalb nicht von Betty, weil ihre stark ausgeprägte Leidenschaft ihn immer von neuem zu ihr zog, denn sie war womöglich noch sinnlicher als er selbst. Dazu kam, daß sie ihn wirklich liebte, so über alles liebte, daß sie selbst zuweilen darüber erschrak. Was sollte daraus werden? Sie wußte ja, daß er sie nicht heiraten konnte. Gewiß, sie entstammte einer guten Familie, hatte eine ausgezeichnete Erziehung genossen, war aber dann doch sehr froh gewesen, bei dem Direktor einer Bank Anstellung als Privatsekretärin zu finden, als sie eines Tages, nach dem plötzlichen Tod ihrer Eltern, völlig mittellos und ganz auf sich angewiesen, dastand.

Nein, daß sie ihren Fritz jemals heiraten könne, war ausgeschlossen, das hatte sie sich von Anfang an auch gesagt, und sie wußte, über kurz oder lang mußte die Stunde der Trennung kommen, aber vor dieser Stunde graute ihr. Sie konnte sich ihr späteres Leben ohne ihn nicht denken. Er war ihr ein und ihr alles, ihr Gott —; nicht nur, daß sie sein Aeußeres liebte, seine schlanke und doch muskulöse Figur, das hübsche Gesicht mit den treuen blauen Augen, sie glaubte auch, noch nie einen so vornehmen und edlen Charakter kennen gelernt zu haben. In seinen Worten und in seinen Augen war er für sie der vollendete Ehrenmann. Man mußte ihn ja lieb haben, und sie liebte ihn bis zur Schwäche, sie war Wachs in seinen Händen, sie tat alles, was er von ihr verlangte, sie, die sich mit eiserner Energie ihr jetziges Leben aufgebaut hatte, besaß gar keinen eigenen Willen mehr.

So zögerte sie denn auch nicht eine Minute, seine Bitte zu erfüllen, als er eines Tages von ihr verlangte, sie solle ihre Stellung aufgeben und ganz zu ihm ziehen. Er hatte bereits mit seiner Wirtin, bei der er selbst zwei Zimmer gemietet hatte, darüber gesprochen. Die Frau wollte ihm noch ein drittes Zimmer abtreten, dann hatte er sie immer gleich bei sich, wenn er vom Dienst nach Hause kam, und brauchte nicht erst bis zum Abend auf sie zu warten.

Sie begriff gar nicht, daß er überhaupt versuchte, ihr seinen Wunsch zu begründen, für sie genügte es vollständig, daß er die Bitte äußerte, da mußte sie die erfüllen.

Sobald sie ihre Entlassung erhalten hatte, zog sie zu ihm. Aber sonderbarerweise begrüßte Fritz sie gerade an diesem Tage nicht so stürmisch, wie sie es erwartet hatte. Er schützte dienstlichen Aerger vor, in Wirklichkeit aber beschäftigten ihn ganz andere Dinge. Als sie seine Schwelle übertrat, um nun ganz bei ihm zu bleiben, wurde ihm eigentlich zum erstenmal klar, daß er eine große Dummheit gemacht habe, als er ihr zuredete, ihre Stellung aufzugeben. Er war nicht reich, er bezog keine allzu hohe Zulage von zu Hause, er hatte sich schon für seine eigene Person einschränken müssen, um durchzukommen, nun mußte er auch noch für Betty sorgen und sie völlig unterhalten. Er war im Augenblick nahe daran, ihr seine Bedenken zu gestehen, aber, wie er sich einredete, brachte er es doch nicht über sein Herz, ihr wehe zu tun. Die Wahrheit aber war, daß er sich scheute, dadurch zu verraten, daß er gar nicht der feste, zielbewußte und energische Charakter war, für den sie ihn hielt. Sie wäre irre an ihm geworden, denn dann hätte er auch zugeben müssen, daß er sie belog, als er ihr sein jährliches Einkommen viel höher angegeben hatte, als es in Wirklichkeit war. Er hatte das getan, um sie leichter zu bewegen, auf ihr Gehalt zu verzichten. Schon damals, als sie sich gleich hinsetzte, um genau zu berechnen, wie sie sein Geld einteilen müsse, damit es für beide reiche, war ihm etwas unbehaglich zumute gewesen — sie glaubte jedem seiner Worte, und er belog sie, um sie noch fester an sich zu ketten.

Aber wie damals, so schwanden auch jetzt alle seine Bedenken dahin, als er sie in seinen Armen hielt.

Ach was, es mußte einfach gehen, und im schlimmsten Falle gab es ja reiche Kameraden genug im Regiment, die schon einmal mit ein paar hundert Mark oder noch mehr aus der Verlegenheit halfen. Es würde schon gehen, die Hauptsache blieb, daß Betty nun ganz bei ihm war.

Aber es ging doch nicht, schon nach vierzehn Tagen mußte er sich ein paar hundert Mark borgen, das Zusammenleben kostete doch noch mehr, als er ohnehin schon geglaubt hatte.

Der Regimentsadjutant zögerte nicht, ihm seine Bitte zu erfüllen, fragte dann aber doch: „Darf ich wissen, wofür Sie das Geld brauchen? Hoffentlich nicht für Frauenzimmergeschichten, denn so viel Geld, wie die Weiber durchbringen können, gibt es gar nicht.”

Borken beruhigte ihn schnell: „Ich habe ein paar Rechnungen zu bezahlen, die Leute laufen mir das Haus ein und wollen nicht länger warten.”

Gleich darauf hielt er das Geld in Händen, aber als er sich dann verabschieden wollte, hielt ihn der Adjutant noch einen Augenblick zurück: „Apropos, was ich Sie schon lange fragen wollte, ich hörte vor einigen Wochen, Sie hätten ein festes Verhältnis. Als älterer Kamerad warne ich Sie, lassen Sie sich auf so etwas nicht ein, man kommt nachher nicht wieder voneinander los, und je eher Sie dem Mädel den Laufpaß geben, um so besser ist es für Sie.”

„Seien Sie ganz unbesorgt,” gab Borken zur Antwort, „die Geschichte, auf die Sie anspielen, ist schon längst vorüber.”

Der Adjutant reichte ihm die Hand: „Das freut mich herzlich für Sie und nehmen Sie von mir den guten Rat an: Machen Sie so etwas nicht wieder.”

Borken lachte auf: „Ich werde mich hüten, der Abschied hat das erstemal gerade Tränen genug gekostet.”

Dann ging er fort — Betty erwartete ihn, liebestoll wie immer, wenn er sie auch nur noch so kurze Zeit allein gelassen hatte.

Ihre Leidenschaft wuchs durch das beständige Zusammensein mit ihm immer mehr, die Umarmungen kühlten ihr heißes Blut nicht ab, sondern riefen nur den Wunsch nach neuen Liebkosungen in ihr wach.

Die Kameraden erschraken förmlich, als Borken sich nach langer Zeit wieder im Kasino sehen ließ und nahmen ihn sich vor: „Mensch, wie sehen Sie denn aus? Können Sie denn nicht solid leben? Wenn Sie das so weiter treiben, dann liegen Sie eines Tages auf der Nase.”

Borken wußte nur zu genau, wie recht die anderen hatten, aber gerade deshalb widersprach er: „Ich bin heute morgen etwas spät nach Hause gekommen und habe einen Mordskater, morgen ist schon alles wieder gut.”

Aber statt dessen wurde es mit ihm von Tag zu Tag schlimmer, selbst eine stärkere Natur als die seine wäre diesem andauernden Liebesrausch unterlegen. Und auch in seinem Wesen war er ein ganz anderer geworden, er tat seinen Dienst voller Unlust und mied den Kreis der Kameraden, so oft sich ihm dazu nur Gelegenheit bot.

Und eines Tages hatten die Kameraden die Lösung des Rätsels in Händen, nun wußten sie, was dem Kameraden auf den Hund brachte. Von dem Wunsche geleitet, ihn zu retten, um es endlich heraus zu bekommen, in welcher Gesellschaft er seine Zeit verbrachte, hatte man ihn scharf beobachtet und unter der Hand Recherchen angestellt.

Borken lebte mit seiner Freundin zusammen, und das, obgleich er dem Adjutanten versichert hatte, die Sache sei schon längst erledigt.

Die Offiziere waren außer sich und darüber waren sich alle sofort einig: Es mußte mit aller Strenge gegen ihn eingeschritten werden. Entweder trennte er sich sofort von seiner Freundin, um sie nie wieder zu sehen, oder er war im Regiment unmöglich.

Borken ahnte nichts von dem Unheil, das sich über ihm zusammenzog. Er saß in seiner Wohnung und wartete auf Betty, die ausgegangen war, um eine Besorgung zu machen: „Werd' nicht ungeduldig, Bubi, wenn ich etwas länger fortbleiben sollte, aber wenn ich dann nach Hause komme, habe ich dir vielleicht etwas zu sagen, worüber du dich sehr freuen wirst.”

Wo Betti [sic! D.Hrsgb.] nur blieb? Sie war schon mehr als zwei Stunden fort und er vermochte sich das nicht zu erklären. Seine Unruhe und seine Sehnsucht nach ihr und ihren Liebkosungen wuchs von Minute zu Minute. Endlich klingelte es draußen, aber als er selbst hinauseilte, um die Türe zu öffnen, stand nicht Betty auf dem Vorflur, sondern eine Ordonnanz, die ihm einen Brief überbrachte. Schon die Aufschrift machte ihn stutzig: „Geheim, nur persönlich abzugeben.” Und nun erst das Schreiben selbst: „In einer persönlichen Angelegenheit fordere ich Sie hiermit auf, sofort zu mir zu kommen. v. Hagen, Regimentsadjutant.”

Nanu? Was war denn da los? Hagen hatte ihm doch erst kürzlich wieder gesagt, die Rückzahlung des Geldes eile absolut nicht. Sollte er es jetzt doch gebrauchen? Aber wenn er darüber mit ihm sprechen wollte, brauchte er ihn doch nicht in solcher dienstlichen Form zu sich bestellen. Auf den Gedanken, daß er etwas von seinem Verhältnis zu Betty erfahren haben könne, kam er gar nicht.

Aber als er dann später dem Adjutanten gegenüberstand und dessen vorwurfsvolle Blicke auf sich gerichtet fühlte, wußte er, noch bevor der andere zu sprechen anfing, daß sein Geheimnis, das er bisher ängstlich zu hüten gewußt hatte, verraten war. Er fühlte, wie jeder Blutstropfen aus seinem Gesicht wich und er mußte sich mit der rechten Hand auf den Tisch stützen, neben dem er stand. Jetzt würde man von ihm verlangen, sich von Betty zu trennen. Es sauste und brauste um seine Ohren.

Da hörte er die Stimme des Adjutanten zu ihm sprechen, aber sie klang, als käme sie von ganz weit her: „Ihr Erblassen, Borken, verrät mir, warum ich Sie kommen ließ, und es zeigt mir, daß Sie doch noch ein anständiger Mensch geblieben sind, daß Sie sich dessen schämen, was Sie taten; Sie selbst wissen ganz genau, wie Sie als Offizier gegen die Ehrengesetze verstießen, als Sie Ihre Freundin zu sich nahmen. Aber das läßt mich auch hoffen, daß Sie sich beeilen werden, alles wieder gutzumachen. Die Kameraden sind über Sie empört, Sie haben es nur mir zu danken, daß die Angelegenheit nicht schon heute dem Ehrenrat mitgeteilt worden ist. Ich habe es übernommen, Ihnen ins Gewissen zu reden, und wenn wir uns nachhher trennen, müssen Sie mir sagen, was Sie zu tun beabsichtigen. Zweierlei gibt es nur: entweder trennen Sie sich sofort von Ihrer Geliebten, oder aber der Ehrenrat beschäftigt sich mit Ihnen und dann dürften Sie die längste Zeit Offizier gewesen sein. Und was dann?”

Borken stöhnte auf: „Ich kann nicht — ich kann nicht.”

„Sie wollen nicht!” herrschte der Adjutant ihn an, dann aber bezwang er seine Heftigkeit. Er sah es ja, er hatte einen Kranken sich gegenüber, einen Mann, dessen ganzes Nervensystem durch das Leben, das er führte, zerrüttet war, der jede Energie, jeden inneren Halt verloren, dessen Anschauungen über Recht und Unrecht sich verschoben hatten.

So sprach er denn voller Güte auf ihn ein. Er ließ ihn in einem Sessel Platz nehmen, und während Borken dasaß, das Gesicht in den Händen vergraben, von Zeit zu Zeit laut aufstöhnend, fuhr der Adjutant fort, ihm klar zu machen, was er getan und wie es so nicht weiter gehen könne, wenn er nicht selbst dabei zugrunde gehen wolle. Ein neues Leben müsse für ihn beginnen, er wolle ihm behilflich sein, seine finanziellen Verhältnisse zu regeln, wolle es vergessen, daß er ihn damals belogen hätte, auch die Kameraden würden alles vergessen und verzeihen und alles käme wieder in das alte Geleise. Aber er müßte sein Ehrenwort geben, sein Ehrenwort als Offizier, daß er sich noch heute für immer von seiner Freundin trenne.

Hatte er schließlich, als er nach Stunden den Adjutanten verließ, wirklich freiwillig das verlangte Ehrenwort gegeben oder hatte der es ihm unter Drohungen abgepreßt? Er wußte es nicht, er war unfähig zu denken, ziel- und planlos irrte er in der Stadt herum.

„Nur nicht nach Hause, nur Betty das Gräßliche nicht sagen müssen, nur nicht nach Hause.” Das sagte er sich im stillen immer wieder, doch stand er plötzlich vor seiner Zimmertür. Er hatte ja sein Ehrenwort gegeben.

Wie er vorhin auf Betty, so hatte die jetzt stundenlang voller Ungeduld auf ihn gewartet. Als sie seine Schritte hörte, flog sie ihm entgegen und zog ihn stürmisch in das Zimmer, in dessen Halbdunkel sie ihren Gedanken nachgehangen hatte. So sah sie nicht, wie blaß er war. Sie war ja so glücklich, so unaussprechlich glücklich, ihr heißester Wunsch war erfüllt, der Arzt, den sie heute nachmittag aufsuchte, hatte ihre Vermutung bestätigt, sie trug ein Kind unter ihrem Herzen, ein Kind von ihm, ihrem einzig geliebten Fritz: „Und nun, Fritz, sag' mir, daß auch du dich über alles freust. Wie oft haben wir uns nicht ein Kind gewünscht, nun kommt es wirklich, absichtlich habe ich nicht eher gesprochen, erst wollte ich die Gewißheit haben.”

Er saß da, unfähig, ein Wort zu sprechen. Wenn sie früher den Wunsch nach einem Kinde äußerte, hatte er ihr beigestimmt, weil er zu feige war, ihr zu sagen: „Um Gottes willen, nur das nicht.” Auch da hatte er sie belogen.

Nun war das Unglück da.

Und in der Stunde, in der sie ihm gestand, daß sie sich Mutter fühlte, sollte er sich für immer von ihr trennen; er mußte es, er hatte sein Ehrenwort als Offizier dafür verpfändet.

„Gelt, Bubi, du bist auch sprachlos vor Freude? Ach, ich bin ja so glücklich, so namenlos glücklich.”

Sie sprang auf seinen Schoß, schlang die Arme um seinen Hals und küßte ihn heiß und wild — Gott, wie sie ihn liebte, den Vater ihres Kindes!

Und ihre Leidenschaft entflammte seine Sinne, ließ ihn Ehre und Pflicht vergessen, und als er am nächsten Morgen erwachte, war er ehrlos. Er hatte nach seiner Ueberzeugung nicht anders handeln können, er hatte sie doch auf dem Gewissen, da konnte er sie doch nicht fortschicken wie eine xbeliebige, noch dazu jetzt, wo sie guter Hoffnung war.

Ueber die Folgen seines Wortbruches täuschte er sich nicht. Heute noch würde die ehrengerichtliche Untersuchung gegen ihn eingeleitet werden, die schimpfliche Verabschiedung würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. In den nächsten Tagen schon würde Betty ja doch alles erfahren. Er hatte ihr nach seiner Meinung das höchste Opfer gebracht, das er ihr bringen konnte, seine Ehre, das würde ihre Liebe zu ihm noch mehr entflammen, und wenn auch Not und Sorgen über sie beide hereinbrechen sollten, sie waren jetzt fest und unlösbar aneinander gebunden.

So gestand er ihr alles. Mit ganz entsetzten Augen starrte sie ihn an, und als er endlich geendet, stieß sie einen herzzerbrechenden Schrei aus und fiel vor ihm auf die Knie: „Fritz, hab Erbarmen mit mir, sag mir, daß alles nur ein Scherz war, oder daß du mir einen Schrecken hast einjagen wollen. Fritz, ich beschwöre dich, sag' mir, daß es nicht wahr ist.”

Er begriff ihre Erregung gar nicht: „Es ist wahr, so gewiß, wie ich vor dir stehe, und was ich tat, tat ich doch nur aus Liebe zu dir.”

Sie sprang in die Höhe, aber von einer plötzlichen Ohnmacht befallen, schlug sie der Länge nach auf den Boden.

Als sie wieder erwachte, lag sie im Bette, Fritz saß neben ihr und streichelte ihr zärtlich die blassen Wangen, aber mit aller Kraft stieß sie ihn zurück: „Geh', lass' mich, rühr' mich nicht an, ich kenne dich nicht mehr.”

Er suchte sie zu beruhigen: „Aber was hast du denn nur?”

Völlig verständnislos blickte sie ihn an: „Siehst du es denn wirklich nicht ein, wie ehrlos du gehandelt hast, als du dein Wort brachst? Warum hast du mir nicht gestern abend alles gesagt, nun ist es zu spät für uns alle.”

Er suchte sich zu verteidigen: „Und wenn ich es gesagt hätte, was dann? Wärest du etwa von mir gegangen?”

„Ich wäre gegangen,” gab sie zur Antwort, „ohne Klage und ohne einen Vorwurf gegen dich. Ich hätte dich getröstet und geküßt und dir gesagt: Ich habe dich doch viel zu lieb, um schuld daran zu sein, daß du ehrlos wirst.”

Er glaubte nicht richtig gehört zu haben: „Du wärest gegangen? Und das Kind?”

Sie wimmerte leise vor sich hin : „Das Kind, das arme Kind.” Dann richtete sie sich im Bett auf und sah ihn mit einem haßerfüllten Blick an: „Nicht nur dein Leben hast du zerstört, sondern auch meines und das unseres Kindes. Ich habe an dich geglaubt wie an einen Heiligen und du hast mich belogen und betrogen und bist ehrlos geworden. Du hast es dahin gebracht, daß ich mich schämen muß, dir angehört zu haben. Nun kann ich in Zukunft nicht mehr an dich denken, ohne zu erröten. So leidenschaftlich ich dich einst liebte, ebenso leidenschaftlich hasse ich dich jetzt, denn alles könnte ich dir schließlich verzeihen, aber daß mein Kind sich einst schämen muß, den Namen seines Vaters auszusprechen, das verzeihe ich dir nie, das macht dich in meinen Augen noch ehrloser, als du es ohnehin schon bist. Und nun hinaus mit dir, ich kann dich nicht mehr sehen, hinaus!”

Aber anstatt zu gehen, trat er näher auf sie zu. Das war ja doch alles Unsinn, was sie da redete, er wollte und mußte sie wieder versöhnen.

Von Entsetzen gepackt, sprang sie von ihrem Lager empor, so daß das Bett sie beide nun trennte: „Rühr' mich nicht an,” schrie sie ihm ins Gesicht. „Rühr' mich nicht an, sonst nimm dich in acht.”

Wie schön sie war, als sie ihm in zorniger Leidenschaft mit flammenden Augen gegenüberstand! Nahm sie denn in Güte keine Vernunft an, dann mußte er sie mit Gewalt zwingen, und wenn er sie erst in seinen Armen hielt, dann würde sie bei seinen Liebkosungen schon wieder vernünftig werden.

Sie wandte keinen Blick von ihm ab, sie wußte, was es bedeutete, als es jetzt plötzlich in seinen Augen so aufleuchtete — er wollte sie besitzen.

Aber sie entwich ihm, mit einem schnellen Satz sprang sie über das Bett, als er sie nun zu ergreifen suchte, und eilte in das Wohnzimmer. Aber noch bevor es ihr gelang, die Tür zuzumachen und zu verschließen, war er ihr gefolgt. Mit aller Gewalt hielt sie die Tür fest, die er aufzureißen versuchte, sie wußte, lange hielten ihre Kräfte nicht mehr stand und dann war sie verloren, dann würde er sie mit Gewalt besitzen.

Das Grausen packte sie, alles, nur das nicht, lieber sterben.

Ihre Augen irrten suchend durch das Zimmer — da, auf dem Schreibtisch —

Sie ließ die Tür los, gleich darauf hörte sie ihn fallen, er mochte ausgeglitten sein, als der Widerstand, auf den er bisher gestoßen war, so plötzlich nachgab.

Gott sei Dank, sie war gerettet. Drohend erhob sie den Revolver, als er nun in das Zimmer hineninstürzte: „Wage es nicht, mich anzurühren.”

Er taumelte zurück, jeder Blutstropfen war aus einem Gesicht gewichen. Nun erkannte sie ihn erst in seiner ganzen Feigheit und Erbärmlichkeit.

Und von diesem Mann trug sie ein Kind unter dem Herzen.

Und bei dem Gedanken an das Kind, das sie sich leidenschaftlich gewünscht hatte und dessen späteres Leben nun verpfuscht, zerstört und entehrt war wie ihr eigenes, wußte sie nicht mehr, was sie tat.

Mitten in die Stirn getroffen, fiel er lautlos vornüber.

Dann richtete sie, ohne zu zögern, die Waffe gegen sich selbst: Die Schande wollte sie ihrem Kinde doch ersparen, daß nicht nur sein Vater ehrlos, sondern daß seine Mutter sogar eine Mörderin war.

*   *   *

Am Abend desselben Tages brachten die Zeitungen der Stadt eine Notiz: Ein junges Mädchen hätte einen Offizier, zu dem es Beziehungen unterhalten habe, als dieser sich von ihr trennen wollte, erschossen und hätte nach der Tat Selbstmord begangen. Das so plötzliche Hinscheiden des jungen Offiziers, der sich bei den Kameraden und den Vorgesetzten gleicher Beliebtheit und Achtung erfreut hätte und dessen weiteres Leben noch zu den schönsten Hoffnungen berechtigt hätte, würde sicher nicht verfehlen, auch in den weitesten Kreisen der Stadt schmerzlichste Anteilnahme zu erregen.

Das Regimentsbureau hatte die Notiz versandt, obgleich natürlich allen Offizieren genau bekannt war, daß Borken sein Ehrenwort gebrochen hatte, aber schon um ihrer selbst willen mußte das Ansehen des Verstorbenen nach außen hin rein und makellos erhalten bleiben.


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© Karlheinz Everts