Der ehrgeizige Leutnant.

Militärhumoreske von Freiherrn von Schlicht.
in: „Zurück - marsch, marsch!”.


Seit drei Jahren war Leutnant Becker nun schon Offizier — er verstand seinen Dienst, er war beliebt bei den Vorgesetzten und bei seinen Kameraden, aber trotzdem hatte er nach Ansicht vieler vollständig seinen Beruf verfehlt. Er hatte bei seinen vielen guten Eigenschaften nämlich einen großen Fehler: er war ehrgeizig, viel zu ehrgeizig für so jungen „Dachs”, wie er es nach dreijähriger Dienstzeit doch noch war.

Beim Militär ist manches anders als beim „Zivil”. Je mehr im bürgerlichen Leben einer arbeitet, je fleißiger er ist, desto weiter bringt er es; — beim Militär thut der faule Leutnant genau so viel wie der fleißige. Ihnen wird befohlen: von acht bis zehn Uhr ist Exerzieren, und wenn die Uhr zehn ist, dann ist Schluß — keine Minute früher, aber auch keine Minute später. Das ärgerte den Leutnant Becker am allermeisten, er wollte nicht nur dasselbe thun, wie die andern, weniger ehrgeizigen Kameraden, sondern er wollte viel mehr thun — nicht nur zu Haus an seinem Schreibtisch, wenn er sich für die Akademie vorbereitete, sondern auch auf dem Kasernenhof.

Lange suchte er vergeblich nach einer Gelegenheit, auch dort seinen Eifer und seinen Ehrgeiz zu bethätigen, endlich fand er sie.

Die Kompagnie kam am Mittag auf Wache und der Herr Hauptmann hatte infolge dessen den Dienst angesetzt: „Von sieben bis acht Uhr Instruktion über den Garnison-Wachtdienst, von achteinhalb Uhr an Wachtdienstüben.”

Als der Leutnant Becker, der als alleiniger Offizier zu diesem Dienst kommandiert war, diesen Befehl las, rief er vor Freuden laut Hurra. War es Absicht oder Zufall, daß für die Dauer des Exerzierens keine Zeit bestimmt war?

Darüber zerbrach er sich weiter nicht den Kopf, er freute sich des etwas unklaren Befehls und stand am nächsten Vormittag pünktlich mit seinen Leuten auf dem Kasernenhof. In der Instruktionsstunde hatte er die graue Theorie gelehrt, nun kam die Praxis.

Das Ueben des Garnison-Wachtdienstes begann. Allzu geistreich und amüsant ist dieser Dienstzweig nicht. Zuerst wird das Ablösen der Wachen geübt, dann kommt der Tragödie zweiter und langweiligster Teil: die Leute ziehen mit ihrem Stiefelabsatz ein Quadrat auf die Erde, das das Schilderhaus markiert, und gehen vor diesem „Gebäude” auf und ab mit dem Gewehr unter dem Arm. Von Zeit zu Zeit nähert sich ihnen der Unteroffizier — er ist stets derselbe und doch jedesmal ein anderer; bald stellt er den Herrn Hauptmann, bald einen Invaliden mit dem eisernen Kreuz, bald eine Exzellenz vor, und Sache des Postens ist es dann, eine gute und vor allen Dingen die der betreffenden Charge zukommende Ehrenbezeugung zu erweisen.

Das hört sich sehr einfach an und ist im Grunde genommen auch nicht so sehr schwierig, aber es giebt doch zuweilen „dumme Kerls”, die in geistiger Beziehung von Gott und aller Welt so verlassen sind, daß sie bei dem Anblick einer Exzellenz vor Schrecken das Gewehr fallen lassen, anstatt es zu präsentieren. Ehre, dem Ehre gebührt, und darum werden die Ehrenbezeugungen geübt.

Leutnant Becker übte sie mit seinen Leuten sogar gründlich.

Als die Posten zwei Stunden vor ihren Sand-Schilderhäusern auf- und abgelaufen waren und als die Unteroffiziere, um eine Abwechslung in die Sache zu bringen, nicht nur als Exzellenz und als Oberst, sondern sogar als Kasernenwärter und Köchin des Herrn Hauptmanns erschienen waren, fing den beteiligten Kreisen die Sache an langweilig zu werden. Erst heimlich, dann immer offenkundiger und häufiger warfen sie einen Blick nach der großen Uhr, die über dem Portal hing und mit stummen, aber doch beredten Blicken zu ihrem Herrn Leutnant gewandt, baten sie: „Mach' End', o Herr, mach' Ende.”

Aber der dachte gar nicht daran.

Nichts auf der Welt ist vollkommen — ein Gewehrgriff, den der Musketier für seine zweiundzwanzig Pfennig tägliche Löhnung ausführt, ist es am allerwenigsten. Ein alter Korporal hat einmal gesagt: „Gute Gewehrgriffe giebt es überhaupt nicht.” Er hätte ruhig hinzusetzen können: wenigstens nicht nach Ansicht der Vorgesetzten.

Leutnant Becker fand die Griffe, mit denen die Leute ihn bei seinem Erscheinen dem Befehl gemäß begrüßten, zwar nicht unter jeder Kritik, aber doch „ziemlich hunds­miserabel” und darum ließ er weiter üben, daß die armen Gewehre gar nicht zur Ruhe kamen, sondern sich immer auf der Reise zwischen der linken Schulter und dem Koppelschloß der Leute befanden.

Als der Leutnant auch um zehn Uhr mit seiner Heldenschar sich noch auf dem Kasernenhof befand, erschien der Feldwebel.

„Nun, was giebt's?” fragte der Leutnant.

„Gestatten der Herr Leutnant, es wird Zeit zum Forttreten,” lautete die Antwort, „die Leute müssen ihren Anzug noch in Ordnung bringen.”

„Hätte gestern geschehen können,” erklang die Entgegnung.

Die Mutter der Kompagnie hielt es unter ihrer Würde, auf diese Worte etwas zu antworten. Was hätte gestern nicht alles geschehen können? Noch ganz andere Dinge als die Instandsetzung des Anzuges — aber es war nun einmal nicht geschehen. Beim Militär trauert man nicht lange um verlorene Zeit, sondern man holt nach, was verabsäumt worden ist — das hätte der Herr Leutnant auch schon wissen können.

„Die Leute müssen auch noch essen, Herr Leutnant.”

„Aber doch jetzt noch nicht — vor elf Uhr giebt es ja gar nichts.”

„Die Leute müssen sich auch noch anziehen, sich waschen und rasieren lassen.”

Aber trotz aller Einwände zog der Feldwebel unverrichteter Dinge wieder von dannen und zwar mit einem hochroten Kopf, denn der Leutnant hatte ihn mit den Worten entlassen: „Von einem Untergebenen lasse ich mir keine Vorschriften machen, Feldwebel, merken Sie sich das.”

„Na, warte,” dachte er, „dein Diensteifer soll dir schon vergehen. Wenn nachher bei dem Antreten der Wache etwas nicht in Ordnung ist, bekomme ich etwas für dich auf den Hut und dafür danke ich.”

Nach kurzem Zögern lenkte er seine Schritte nach der Wohnung des Herrn Hauptmann, um von diesem einen Befehl für die Beendigung des Dienstes zu erwirken.

Aber der „Häuptling” war nicht da, er war fortgegangen, um noch einige Besorgungen zu machen und hatte nur für den Fall, daß geschickt würde, die Nachricht hinterlassen, er würde um einhalb zwölf Uhr in der Kaserne sein. Als er den Kasernenhof wieder betrat, herrschte dort große Aufregung. Der Herr Major war auf der Bildfläche erschienen und hatte sich den Leutnant „vorgebunden”. „Herr,” donnerte er, „Herr Leutnant, solche Griffe verbitte ich mir bei Ihren Leuten, verstehen Sie mich? Es ist traurig genug, daß Sie sich so etwas gefallen lassen, ich aber lasse mir so etwas von den Leuten meines Bataillons nicht bieten und wenn ich hierher komme, wünsche ich bessere Leistungen. Verstanden?”

„Zu Befehl” wollte der Leutnant sagen, aber er kam nicht dazu — der Herr Major redete weiter und weiter, bis er gar nichts mehr zu sagen wußte und dann fing er wieder von vorne an.

Da, als die Verzweiflung des Leutnants ihren Höhepunkt erreicht hatte, erschien der Herr Hauptmann. Auf den schien der Major nur gewartet zu haben, denn kaum hatte er ihn entdeckt, da winkte er ihn zu sich heran:

„Ach bitte, Herr Hauptmann, kommen Sie doch einmal her — bitte, seien Sie so liebenswürdig — aber etwas schneller, wenn ich bitten darf, unser Leben währet nicht ewiglich und ich habe vor meinem Tode noch andere und wichtigere Dinge zu thun, als Ihnen meine Ansicht über die Bummelei in Ihrer Kompagnie auseinander zu setzen.”

Aber die anderen wichtigeren Dinge schienen doch nicht allzu wichtig zu sein, denn der Herr Major ließ sich bei der Aussprache sehr viel Zeit und war von einer Gründlichkeit, die nach Ansicht des Häuptlings einer besseren Sache würdig gewesen wäre.

Endlich ging er von dannen, mit langsamen, majestätischen Schritten, gleichsam als wolle er mit seinem Gang sagen: „Daß Ihr beide jetzt über mich schimpft, weiß ich, aber deshalb mache ich doch noch nicht, daß, ich schnell fortkomme.”

Als der Leutnant sich mit seinem Hauptmann allein sah, hätte er am liebsten um Gnade gebeten, denn die Vorgesetzten pflegen die Grobheiten, die sie durch die Schuld der Untergebenen zu hören bekommen, an diese meist mit Zins und Zinseszinsen zurückzugeben.

Merkwürdigerweise blieb der Hauptmann ganz ruhig, er wartete, bis der Major verschwunden war und ließ dann seine Leute forttreten.

„Ich danke Ihnen, Herr Leutnant.”

Der Leutnant war entlassen, aber er ging trotzdem nicht — ihm fehlte der „Anpfiff”; sollte er wirklich ohne den davon kommen? Die Ruhe kam ihm unheimlich vor.

„Ich danke Ihnen, Herr Leutnant,” wiederholte der Vorgesetzte noch einmal, und als Becker auch da noch nicht ging, setzte er hinzu: „Wie ich über Sie denke, brauche ich Ihnen wohl nicht erst zu sagen. Wohin Ihr Ehrgeiz Sie führte, welches Unglück er anrichtete, haben Sie selbst gesehen. Eins aber will ich Ihnen noch sagen: Der Soldat, der es weit bringen will, darf nur einen Ehrgeiz haben, nämlich den, seinen höheren Vorgesetzten möglichst aus dem Wege zu gehen. Thut er das nicht, so wird er gemordet. Merken Sie sich das.”

Und der Leutnant Becker merkte sich das, und daß er das that, war sehr weise von ihm, denn diesesmal hatte der Hauptmann, obgleich er ein Vorgesetzter war, wirklich recht gehabt mit dem, was er sagte.


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