Im nächsten Mai sind es zwanzig Jahre, daß ich als Avantageur beim 113. Infanterieregiment in Freiburg i.Br. in die preußische Armee eintrat. Ich hatte dort Beziehungen, die mir den Eintritt in das Heer erleichterten, denn ich war Gott sei Dank kein Kadett gewesen und mußte mir also selbst ein Regiment suchen. Freiburg ist eine hübsche Stadt, in der Armee ist sie berühmt wegen ihres landschaftlich wunderbar gelegenen Exerzierplatzes. Man hat dort eine wundervolle Aussicht auf die Berge. Wie manchen Anschnauzer habe ich bekommen, weil mich die Schönheit der Natur da draußen viel mehr interessierte, als das inzwischen glücklicherweise verschwundene Bataillonskarree.
Wenn wir da draußen auf dem Platz herumexerzierten, erschien sehr häufig als Zuschauer der junge Prinz Ludwig von Baden, ein Bruder des jetzigen Großherzogs. Er war ein großer, schlanker, auffallend hübscher und selten liebenswürdiger Mensch, der damals kaum fünfundzwanzig Jahre alt sein mochte. Er lebte in Freiburg, hörte an der Universität einige Vorlesungen, und da er sehr häufig bei uns im Offizierskasino aß, kamen selbst wir Fähnriche viel mit ihm in Berührung.
Eines Tages war er an Lungenentzündung gestorben.(1) Ganz plötzlich, allen unerwartet. Vor zwei Tagen hatte ich ihn noch auf der Straße gesehen, und als ich vor ihm Front machte, reichte er mir die Hand und richtete einige freundliche Worte an mich.
Sein Tod stimmte uns alle auf richtig traurig, wir waren wirklich erschüttert.
Ich stand mitten in der Front der Truppen, die bei der Beisetzung den Weg von der kleinen Villa, die der Prinz bewohnte, bis zum Friedhof absperrten. Durch einen Zufall stand ich in der allernächsten Nähe des Hauses selbst. Es war Abend, so viel ich mich erinnere, gegen zehn Uhr, und wir mußten lange warten, bis da drinnen die Trauerfeier vorüber war.
Endlich wurde der Sarg herausgetragen, das Gewehr wurde präsentiert und auf den dumpf abgestimmten Trommeln wurde der Trauerwirbel geschlagen.
Hinter dem Sarg erschien als erster der damals schon betagte Großherzog, der Vater des jetzigen, und es war wohl selbst unter den Mannschaften der Trauerparade nicht einer, der mit dem vollständig gebeugten Vater nicht das tiefste Mitgefühl hatte.
So jung und so plötzlich sterben müssen!
Wir Fähnriche aßen des Mittags regelmäßig im Kasino mit den Offizieren zusammen. Der Tod des Prinzen Ludwig bildete natürlich auch am nächsten Tage noch das ausschließliche Gesprächsthema, und wenn man sich auch in unserer Gegenwart in acht nahm, damit wir nicht mehr hörten als wir sollten, plötzlich wußten wir es doch: Der Prinz war garnicht eines natürlichen Todes gestorben, sondern im Duell gefallen.
Ich bin ehrenwörtlich verpflichtet, den Namen seines Gegners nicht zu nennen. Aber auch ohnedem weiß ja heute alle Welt, wer dem lebenslustigen und lebensfrohen Prinzen mit der Waffe in der Hand gegenübertrat, um von ihm Rechenschaft zu fordern für die Ehre, die er seiner Schwester geraubt.
*
Ich hielt es nicht lange in Freiburg i.Br. aus. Ich bekam wirkliches Heimweh nach meinem geliebten Schleswig-Holstein, um dessen Besitz in der Schlacht bei Idstedt elf meines Namens, vom General herunter bis zum Kriegsfreiwilligen, gegen die Dänen kämpften. Schon als ich in Hannover auf Kriegsschule war, richtete meine Mutter auf meine Bitten hin ein Immediatgesuch an den Kaiser. Ich wurde an das Infanterie-Regiment Nr. 76 versetzt, das mit zwei Bataillonen in Hamburg, mit dem dritten in Lübeck stand.
Unser kommandierender General, der seinen Wohnsitz in Altona hatte, wurde sehr bald Graf Waldersee, der spätere Chinamann.
An einem bitterbösen Wintertag traf er in Altona ein. Wenige Stunden später alarmierte er die Garnisonen Hamburg, Altona, Wandsbek zu einer großen Gefechtsübung. Das war namentlich für unsere berittenen Offiziere schmerzlich, denn in dem Regimentspferdestall war die Rotzkrankheit ausgebrochen. Nur der Adjutant hatte einen gesunden Gaul, die anderen berittenen Offiziere vom jüngsten Hauptmann hinauf bis zum Herrn Oberst mußten alle laufen und stundenlang durch den oft kniehohen Schnee keuchen. Sr. Exzellenz war das ganz einerlei, die kannte kein Erbarmen.
Der Alarm und die Art, wie Waldersee sich einführte, imponierte uns im 9. Armeekorps, das in Schleswig-Holstein liegt, ganz gewaltig. Wir bekamen Respekt vor unserem Kommandierenden, fürchteten für unsere Knochen und dachten, wenn das so weiter geht, kann es gut werden. Wir glaubten, Waldersee würde sich mit der Zeit zu einem zweiten Grafen Haeseler entwickeln und so wie dieser seine Truppen beständig in Atem halten.
Aber wir täuschten uns Gott sei Dank, Waldersee wurde ein ganz anderer, als wir alle dachten.
Bald führte er nur noch den Beinamen „Der König von Schleswig-Holstein".
Und das mit vollem Recht. Er liebte es, nach dem Vorbild seines kaiserlichen Herrn, in dessen unmittelbarster Nähe er ja lange genug gelebt hatte, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen und anfeiern zu lassen. Als er zum erstenmal zur Besichtigung nach Lübeck kam, brachte die Bevölkerung ihm einen Fackelzug, und ich sehe ihn noch ganz deutlich vor mir, wie er auf der Terrasse des Hotels Stadt Hamburg stand und die Huldigung entgegennahm, als wäre das etwas ganz selbstverständliches für ihn. Von selbst waren die guten und soliden Lübecker garnicht auf den Gedanken gekommen, sich mit Pechfackeln ihre Anzüge zu verderben, es war ihnen aber nahe gelegt worden, Waldersee, der für so etwas sehr empfänglich wäre, zu huldigen, und so machte man ihm denn die Freude.
Seine Eitelkeit wuchs von Jahr zu Jahr. Wenn er in eine Kavallerie- oder Artilleriegarnison zur Besichtigung kam, ließ er sich vierspännig in einem Krümperwagen des Regiments einholen und ein Unteroffizier in Paradeuniform mußte als Spitzenreiter voranreiten.
Das klingt kaum glaublich, aber ich habe es in meiner letzten Garnison Schleswig, in der auch die Kaiser-Franz-Josef-Husaren liegen, oft genug mit eigenen Augen gesehen.
Fortsetzung folgt.)
(Fortsetzung)
In seiner Eigenschaft als "König von Schleswig-Holstein" führte Waldersee, nach dem Beispiele von Berlin, auch in Hamburg die große Frühjahrsparade ein. Wäre es allein nach ihm gegangen, dann hätte er dazu sicher das ganze Armeekorps mobil gemacht, dem aber standen die hohen Unkosten entgegen. Aber die Infanterie-Regimnenter aus Hamburg und Altona, die Pioniere aus Harburg, die Wandsbeker Husaren und die Artillerieabteilung aus Bahrensfeld mußten auf dem großen Luruper Exerzierplatze antreten. Die Bürgermeister, der Hamburger Senat, die Spitzen der Zivilbevölkerung, die angesehensten Familien wurden offiziell zu der Parade eingeladen. Wie jetzt zu den Rennen in Horn, wenn der Kaiser da ist, gab sich damals das ganze elegante Hamburg auf dem Exerzierplatze ein Rendezvous, um Waldersee zu sehen.
Von seiner Suite umgeben, erschien er dann, um mit brausenden Hurrarufen begrüßt zu werden. Er ritt an der Wagenburg und an den Zuschauern vorüber, neue Hurras ertönten, Taschentücher wurden geschwenkt, und die Damen warfen ihm Blumensträuße zu. Dann nahm er die Parade ab und ritt später an der Spitze der Fahnenkompagnie zur Stadt zurück.
Er fühlte sich wirklich als König von Schleswig-Holstein.
Unsere Bewunderung für ihn schwand schnell dahin, die Untergebenen schätzen die Vorgesetzten sehr häufig nach ihrem wirklichen Wert ein.
Einmal erwarb er sich aber wirklich unsere Sympathie.
Wir hatten in unserem Regiment in Hamburg einen Leutnant v.S. Der arme Kerl hat sich vor einigen Jahren erschossen, weil er als Brigadeadjutant ein Aktenstück verbummelte und allen Grund zu der Annahme hatte, daß es nun mit seiner Adjutantenkarriere vorbei sei. Leutnant v.S. stand früher am Rhein und hatte dort das Unglück gehabt, nach einem heftigen Wortwechsel gegen einen Zivilisten die Waffe erheben zu müssen. Ein noch größeres Unglück wollte es, daß der Zivilist sofort an der erhaltenen Verwundung starb. Die Geschichte machte damals kolossales Aufsehen und ging durch alle Zeitungen. Auch im deutschen Reichstag kam der Fall zur Sprache, der arme Leutnant wurde Mörder, Schuft, Totschläger und ähnlich tituliert, ohne daß nur ein Mensch im Reichstag sich erhob, um zu erklären, daß Leutnant v.S. als Offizier garnicht anders handeln konnte, wie er es tat, wenn er Offizier bleiben wollte. Und jede Absicht zu töten oder gar zu morden, lag ihm vollständig fern, der andere lief ihm gewissermaßen in seinen zur Abwehr erhobenen Degen hinein.
Die Zeitungen brachten am nächsten Morgen den telegraphischen Bericht der Reichstagsverhandlung. Wenig später kam der Befehl, Waldersee wünsche uns alle im Offizierskasino zu sprechen. Und er kam nur, um dem im Reichstag angegriffenen Kameraden die Ehre wiederzugeben, die man ihm dort genommen hatte.
Waldersee war absolut kein Redner. Wäre er wirklich jemals Reichskanzler geworden, wie man es ja oft vermutete, dann würde er an seiner fehlenden Rednergabe sehr bald wieder Schiffbruch erlitten haben, aber an diesem Morgen fand er doch warme zu Herzen gehende Worte und als er dann zum Schluß etwa sagte: "Mag die Welt reden, was sie will, ich weiß es besser, Sie sind ein Ehrenmann vom Scheitel bis zur Zehe, das erkläre ich Ihnen vor Ihren Kameraden und Vorgesetzten. Ich habe bereits an Se. Exzellenz den Kriegsminister telegraphiert und von diesem verlangt, daß er Ihnen morgen im Reichstag volle Genugtuung gibt. Und nun geben Sie mir Ihre Hand, ein Ehrenmann dem anderen." Als er etwa so sprach, schlugen ihm unsere jungen Herzen wirklich entgegen.
Aber im allgemeinen hatte Waldersee, so weit ich ihn kennen gelernt habe, wenig Herz für andere. Wie alle eitlen Personen, dachte er in erster Linie nur an sich
Darüber, ob Waldersee ein guter Soldat war, gehen die Ansichten sehr weit auseinander. Ich kann nur sagen, daß wir Vertrauen zu seiner Führung hatten. Er stellte die größten Anforderungen an die Truppen, verstand es aber, mit einem Scherzwort wieder anzuspornen, wenn sie ermüdet und ermattet waren. überhaupt erfreute er sich bei den Mannschaften einer weit größeren Beliebtheit als bei den Offizieren. Als er dann nach Hannover ging, wurde ihm im 9. Armeekorps wohl kaum eine einzige Träne nachgeweint. Aber auch heute spricht man da noch von ihm als von dem König von Schleswig-Holstein. * In Hamburg habe ich im Jahre 1894 [sic! D.Hrsgb. - Die Cholera herrschte im Spätsommer 1892 in Hamburg!] auch die Cholerazeit mit durchgemacht. Das Regiment war im Manöver, ich war mit einem Oberleutnant von Holstein, der leider als Major vor einigen Jahren verstorben ist, bei dem Wachkommando zurückgeblieben. Es war eine Schullehrer-Kompagnie und eine Abteilung Schiffahrttreibender zu einer zehnwöchigen Übung eingezogen. Als die Cholera ausbrach, hatten wir alles in allem wohl 400 Mann in der Kaserne. Als Arzt stand uns ein Assistenzarzt der Reserve zur Verfügung; auf uns dreien ruhte die ganze Verantwortung. Ich wohnte damals "Im Laufgraben", der Kaserne unmittelbar gegenüber, nur durch einen kleinen kaum zweihundert Meter breiten Platz von ihr getrennt. Die Straße, die nur auf einer Seite bebaut war, bestand aus 12 Häusern. Vierzehn Tote und Kranke wurden in den ersten Tagen von dort fortgeschafft, auch in meinem Hause starb der Sohn des Portiers, wie leicht konnte da nicht die Cholera in die Kaserne kommen! Um uns herum war ein großes Sterben. Der Bäckerjunge erklärte einer mir befreundeten Familie, er könne das Brot des Morgens nicht früher bringen, er müßte nachts die Leichen auf seinem Handwagen mit fortschaffen. Die Menschen starben wie die Fliegen. Hamburg war tot, alles floh, die Häuser lagen leer und verlassen. Nur wir hatten die Kaserne voll, beinahe vierhundert Menschen. Alle Eisentore wurden geschlossen. Die Posten hatten strengsten Befehl, gegen jeden, der mit Gewalt aus der Kaserne heraus oder mit Gewalt hineinwolle, rücksichtslos mit der Waffe einzuschreiten. Nur so konnten wir es verhindern, daß die Mannschaften mit der Außenwelt in Berührung kamen, daß ihnen verbotene Eßwaren oder sonstige Sachen, die eine Ansteckung herbeizuführen vermochten, heimlich zugesteckt wurden. Das Essen und die Getränke wurden von dem Arzt und uns Offizieren fortwährend auf das sorgfältigste revidiert, vor dem Brunnen stand der Posten mit scharfgeladenem Gewehr, niemand durfte einen Tropfen ungekochten Wassers zu sich nehmen. Wir schwammen in Lysol und Karbol, wenigsten sechsmal am Tage mußten die Leute sich die Hände waschen. Aber die Arbeit, vierhundert junge, von Kraft und Gesundheit strotzende Menschen wochenlang, auch Sonntags, in der Kaserne festzuhalten, es zu verhindern, daß sie nicht des Nachts heimlich auskniffen, um zu der Liebsten zu eilen! Und die Liebsten lockten und winkten. Zu Hunderten standen sie des Abends manchmal vor der Kaserne und riefen dem Schatz, der am offenen Fenster stand, heiße Liebesworte zu. Die Versuchung war riesengroß, in die weitgeöffneten Arme der Schönen zu eilen. Wie oft wurden wir mit Bitten bestürmt: Nur einen Augenblick, nur fünf Minuten. Draußen flehten und jammerten die Mädchen, drinnen baten die Soldaten, aber wir mußten hart und unerbittlich bleiben. Wie manchesmal ließen wir von den Mannschaften der Wache den Platz vor der Kaserne von den Weibern säubern, aber nach einer halben Stunde waren sie dann doch wieder alle da. Vom Morgen bis zum Abend kamen wir Offiziere nicht aus der Kaserne heraus und des Nachts galt es fortwährend die Stuben und Betten zu kontrollieren, ob nicht doch einer der Kerls durchgebrannt wäre. Und ging man dann endlich totmüde nach Hause, um sich für ein paar Stunden hinzulegen, dann hörte man in der Stille der Nacht das laute Traben der Pferde, die den auf leisen Gummirädern rollenden Krankenwagen dahinzogen. Ein Wagen folgte dem anderen. Oft ging es in langen Zügen hinaus nach Eppendorf, wo das Militär-Feldlazarett aufgeschlagen werden mußte, weil die in dem großen Krankenhaus vorhandenen Plätze nicht halb ausreichten, um all die Kranken aufzunehmen, die da splitternackt, nur in wollene Decken gehüllt, von den Wärtern in den Saal getragen wurden. Es war ein grausiges Sterben um uns herum. Wie schon gesagt, hatten wir einen Assistenzarzt der Reserve, einen sehr tüchtigen Arzt bei uns. Seine Mutter hatte bei Ausbruch der Cholera aus Hamburg fliehen wollen, blieb dann aber doch aus Liebe zu ihrem Sohne, sie zitterte und fürchtete für sein Leben. Er hatte ihr sein Wort geben müssen, nicht die geringste Kleinigkeit zu verzehren, die im Kasino zubereitet worden wäre. Jeden Mittag erschien das Dienstmädchen und brachte ihm die von der Mutter selbstgekochten Speisen. Wohl zehnmal am Tage erkundigte sie sich nach seinem Befinden. Dann wurde er eines Tages, da es an Ärzten fehlte, in die Cholera-Baracken kommandiert. Die Mutter bekam einen Wahnsinnsanfall, von dem sie sich nur langsam erholte, der Sohn aber mußte als Soldat gehorchen. Als ich ihn nach vielen Wochen wiedertraf, glich er viel eher einem Toten als einem Lebendigen und das begriff ich, als er mir von den Schreckensszenen erzählte, die er mit hatte durchmachen müssen. Unser Regiment kehrte auch nach Beendigung der Manöver nicht gleich nach Hamburg zurück, sondern wurde für einige Wochen in der Stadt Flensburg einquartiert. Als die Truppe in langen Extrazügen Hamburg passierte, waren wir Offiziere auf dem Bahnhof, um uns zu melden. Aber schon, als man uns nur auf dem Perron entdeckte, winkte man uns, schnell wieder zu gehen, selbst die Vorgesetzten wagten nicht, die hochgezogenen Fenster des Coupees, hinter denen sie saßen, herunterzulassen und ein Wort mit uns zu sprechen. Schon unser Atem hätte sie ja anstecken können. Wir lachten über diese Ängstlichkeit, denn mit der Zeit stumpft man ja ab gegen die Gefahren, die uns umgeben. Aber wir waren doch mehr als froh, als endlich nach langen, bangen Wochen die Cholera als erloschen erklärt wurde und als das Regiment zurückkam. Was wir alle nicht zu hoffen gewagt hatten, war uns dennoch gelungen. Wir hielten die Cholera von der Kaserne fern und hatten in der ganzen Zeit nicht einen einzigen Erkrankungsfall, nicht einen einzigen. (Schluß folgt.) (Schluß) Viel lustiger war die mit größtem Pomp in Szene gesetzte Eröffnung des Nord-Ostsee-Kanals. Ich war damals nach Harburg zu den Pionieren abkommandiert, wurde aber gefragt, ob ich dienstlich für einige Tage abkömmlich sei, es fehlte an Offizieren für die Ehrenkompagnie. Ich wurde beurlaubt und traf bei meinem Regiment ein. Alles schwamm in Sekt. Im Hafen lagen die Kriegsschiffe der fremden Nationen, große Verbrüderungsfeste fanden an Bord und auf dem Festland statt, man kam aus dem Feiern gar nicht mehr heraus. Unterbrochen wurde das Trinken nur, wenn es galt, wieder einen hohen Gast am Bahnhof in Empfang zu nehmen. Jedem regierenden Fürsten wurde eine Ehrenkompagnie gestellt. Und wie viele regierende Fürsten gibt es nicht, und sie kamen alle, alle, alle. Vor dem alten Dammtorbahnhof, auf dem die hohen Gäste ankamen, wurde die Ehrenkompagnie aufgebaut. Auf dem Perron war feierlicher Empfang, dann Abschreiten der Front, zum Schluß ein strammer Parademarsch. Mit klingendem Spiel ging es dann zur Kaserne zurück, aber zuweilen taten wir auch nur so. Waren wir außer Hörweite des fremden Fürsten, dann kehrten wir schleunigst um und manchmal lief die Ehrenkompagnie im Laufschritt zum Bahnhof zurück, um rechtzeitig wieder zur Stelle zu sein, denn die Extrazüge folgten sich häufig in Zwischenräumen von nur zehn oder fünfzehn Minuten. Jeder Fürst brachte eine große Ordenskiste mit, und es regnete Orden über Gerechte und Ungerechte, auch für mich fiel einer ab.
Als die Festlichkeiten vorüber waren, lagen auf dem Generalkommando noch 4 oder 5 Orden zur Verteilung an unser Offizierkorps. Ein Generalstabsoffizier brachte uns die Dinger ins Kasino: "Wer will sie haben?" Jeder streckte die Hände danach aus. Schließlich bekamen diejenigen einen, die bisher noch keinen erwischt hatten. Der Rest wurde mit dem Würfelbecher ausgeknobelt und so kam es, daß mancher Herrscher einem Hauptmann oder Leutnant einen Orden verlieh, ohne daß er ihn je gesehen, und ohne daß der in der betreffenden Ehrenkompagnie gestanden hatte. Das war eigentlich sehr komisch, aber diejenigen, die durch die Entscheidung des Knobelbechers dekoriert worden waren, behaupteten allen Ernstes, sie hätten ihre Orden ebenso gut "verdient", wie wir anderen. Und da hatten sie ja auch recht. * Große Ereignisse und nun erst historische Weltereignisse werfen ihre Schatten voraus. Während meiner Hamburger Dienstzeit wurde ich eines Tages gefragt, ob ich ein paar tadellos hohe neue Lackstiefel besäße oder ob ich bereit wäre, mir solche auf eigene Kosten sofort anfertigen zu lassen. Ich versprach, sofort zum Schuster zu gehen, und in der Einfalt meines Herzens glaubte ich zuerst, es wäre, ohne daß die Welt etwas davon wüßte, Krieg erklärt worden. Denn große Dinge mußten in der Luft liegen, das schloß ich auch daraus, daß die Leute unserer Kompagnie das Seitengewehr aufpflanzen mußten, um die Griffe mit aufgepflanztem Seitengewehr zu üben. Wenig später erschien auch die schleunigst zusammengetrommelte Regimentsmusik auf dem Kasernenhof, und dann erfuhr ich, was los sei: Bismarck feierte seinen siebzigsten Geburtstag, und der Kaiser wollte selbst nach Friedrichsruh kommen, um dem Kanzler persönlich seine Glückwünsche zu überbringen. Und unsere Kompagnie sollte als Ehrenkompagnie nach Friedrichsruh befördert werden. Wie sind wir Bismarck zu Ehren mit den Parademärschen gequält worden! Und dazu kam, daß unser Hauptmann ein Leuteschinder war, wie man ihn sich nicht schlimmer vorstellen kann. Ich habe sogar Leutnants, die zu seiner Kompagnie versetzt wurden, weinen sehen - sie weinten wirklich wie kleine Kinder. Und ich habe selbst Zeiten bei ihm durchgemacht, die ich meinem schlimmsten Feinde nicht wünsche. Wir sollten nach Friedrichsruh, und der Tag des Abmarsches war schon bestimmt, da hieß es plötzlich, mein Kompagniekamerad und ich müßten zurückbleiben, zwei andere Leutnants träten für diese Tage an unsere Stelle. Und der Grund? Ein hohes Regimentskommando war nach einer schlaflosen Nacht zu der Erkenntnis gekommen, daß unser Leutnantsparademarsch nicht schön genug wäre, um an allerhöchster Stelle vorgeführt zu werden. Woraus man wieder einmal ersehen kann, daß die preußische Armee in erster Linie für den Krieg und in zweiter und dritter für Paradezwecke ausgebildet wird. Mein Kompagniekamerad war noch dümmer, als ich es ihm ohnehin schon zutraute. Er erklärte, wenn sein Parademarsch nicht gut genug sei, um auch Sr. Majestät gezeigt zu werden, könne er es mit seiner Ehre nicht vereinbaren, länger Offizier zu bleiben. Ich selbst nahm die Sache viel weniger tragisch und ärgerte mich in der Hauptsache nur darüber, daß ich nun völlig unnötig sechzig Mark für ein Paar hohe Lackstiefel schuldig geblieben war. Dann aber schlug ich Kapital aus der Sache, spielte auch meinerseits den tief in seiner Ehre Gekränkten und erklärte, ich wolle die mir zugefügte Demütigung ruhig hinnehmen, aber nur unter der Bedingung, daß die Mannschaften nie etwas davon erführen, weshalb plötzlich ein anderer Offizier in meine Stelle träte. Ich müßte deshalb nicht nur für die nächsten Tage, sondern für immer zu einer anderen Kompagnie versetzt werden. Was ich da redete, war natürlich ein Unsinn, aber die Vorgesetzten waren gottlob so klug, einzusehen, daß ich doch recht hatte. Ich wurde meinen Hauptmann, der inzwischen, wie es bei uns heißt, auch schon lange zur Schlackwurst verarbeitet worden ist, für immer und ewig los, und das war für mich die Hauptsache. Hinterher habe ich dann die Friedrichsruher Tage tausend Mal amüsanter erlebt, als wenn ich dort den Parademarsch hätte mitmachen dürfen. In Friedrichsruh hatten sich als Vertreter großer Zeitschriften und Zeitungen zahlreiche angesehene Schriftsteller eingefunden und in einer übermütigen Stimmung einen Klub gegründet, der den schönen Namen führte: "Was gibt es Neues?" Ich war fast täglicher Gast da draußen und habe dort viele feuchtfröhliche Stunden verlebt. Von den Mitgliedern des Klubs nenne ich nur Ludwig Pietsch, Eugen Zabel, Paul Lindenberg, Reinhold Cronheim und den bekannten Illustrator Emil Limmer, der als guter Dresdener so furchtbar sächselt, daß sogar sein Papagei, sein Jocko, in einem sächsischen Dialekt spricht, um den ihn jeder brave Sachse beneiden könnte. Auch der feinsinnige Poet und Schriftsteller Hans Hoffmann, der jetzige Sekretär der Schiller-Stiftung in Weimar, war dort, und eines Tages hatte ich alle Herren bei mir in Hamburg zu Gast. Ich war damals der glückliche Besitzer hervorragend schöner Zigarren, die ein befreundeter Marineoffizier mir direkt aus Havanna mitgebracht hatte. Wenn ich nicht irre, kostete die Zigarre drüben an Ort und Stelle zwei Mark das Stück. Und da geschah es, daß Hans Hoffmann, als die Zigarren in Brand gesetzt wurden, immer stiller wurde, bis er dann plötzlich sagte: "Das wäre so eine." Natürlich fragten wir ihn, was die Worte zu bedeuten hätten, und da erzählte er, er wäre von seiner Vaterstadt nach Friedrichsruh geschickt, um Bismarck den Ehrenbürgerbrief zu überbringen. Die Reisekosten sollten ihm aus der Stadtkasse ersetzt werden, wenn er bei seiner Rückkehr den Beweis dafür erbringen könnte, daß er Bismarck persönlich die Urkunde eingehändigt hätte. Das war geschehen, er hatte sogar mit dem Fürsten zusammen frühstücken dürfen und hatte hinterher eine wundervolle Zigarre erhalten. Die steckte er sich in die Tasche, um sie später in Frack und weißer Binde den Väter in geheimer Sitzung vorrauchen zu können. Wenn sie den Tabak rochen, würden sie nicht länger daran zweifeln, daß er wirklich bei Bismarck gewesen sei. Drei Tage lang trug er die Zigarre in der Tasche mit sich herum, dann unterlag er in einer schwachen Stunde der Versuchung, und jetzt war er auf der Suche nach einer anderen Zigarre, die er den Leuten als "Bismarck-Zigarre" vorrauchen könne. Meine gefiel ihm: "Das wäre so eine." Vorsichtshalber gab ich ihm nicht nur eine, sondern drei mit auf den Weg, aber auch das half nichts. Als er zu Hause ankam, waren auch die drei "Bismarck-Zigarren" in Rauch aufgegangen, aber, wie er mir hinterher schrieb, hat die Stadt ihm, auch ohne daß er ihnen blauen Dampf vormachte, die Reisekosten ersetzt. * Meine Vaterstadt Schleswig war meine letzte Garnison. Es war damals gerade für Schleswig-Holstein eine politisch ziemlich bewegte Zeit. Der jetzige Staatssekretär im Elsaß, v.Köller, führte damals als Oberpräsident oben im Norden das Zepter, und die Politik der Dänenausweisung, die er betrieb, machte viel böses Blut. Im Reichstag wurde das Thema tagelang erörtert. und Herr von Köller mußte sich die heftigsten Angriffe gefallen lassen, aber unbeirrt setzte er seine Politik fort, die er als richtig erkannt hatte und die sich später auch als richtig erwies. Es war eine feucht-fröhliche Zeit da oben, es wurde entsetzlich viel getrunken, ganz nüchtern waren wir eigentlich nie, und das Offizierkasino, das sich in dem ehemaligen Königsschloß Gottorp befand, könnte von mancher Sitzung erzählen, die wohl einen Anfang, aber kein Ende hatte. Am schönsten waren die "langen Nächte", die am Sonnabend mittag, wenn der Dienst vorüber war, begannen und bis zum Montagmorgen dauerten. Da kam mancher in der ganzen Zwischenzeit überhaupt nicht nach Hause, und manchmal wundere ich mich selbst darüber, daß ich aus der Jugendzeit her nicht die Gicht in allen Gliedern habe. Die Zeit meiner Schleswiger Leutnantsjahre ist für mich persönlich deshalb doppelt interessant, weil ich da das wurde, was ich heute noch bin, nämlich der Freiherr von Schlicht. Schon in Hamburg habe ich angefangen, zu schriftstellern.(2) Aber der richtige Erfolg meiner Arbeiten blieb doch aus, der stellte sich erst ein, als ich eines Tages in Schleswig, von einer sehr langweiligen Exerzierübung zurückkehrend, ein humoristisches Feuilleton "Der Zugführer" schrieb. Dem ersten folgten schnell viele andere, und ich nahm bald ein Jahr Urlaub, um in dieser Zeit ganz der Schriftstellerei zu leben und um zu sehen, ob ich dabei Seide spinnen würde. Aber wenn die Einnahmen auch die kühnsten Erwartungen übertrafen, so wäre ich vielleicht dennoch, den Bitten der Meinigen folgend, wieder als Leutnant in die Armee zurückgekehrt. Da aber stellten die Vorgesetzten mir die Bedingung, daß ich ihnen in Zukunft jedes Feuilleton, jeden Roman, überhaupt jedes Manuskript, bevor ich es veröffentlichte, zur Prüfung vorlege. Das war nun natürlich nicht möglich, denn meine harmlos satirische Ader entwickelte sich mit der Zeit immer mehr, und ich glaube, von allen meinen Büchern, die ich bisher geschrieben habe, wäre nicht das zehnte im Druck erschienen, wenn die hohen Vorgesetzten die Zensur darüber in Händen gehabt hätten. So zog ich den "bunten Rock" aus; mit Franz v.Schönthan zusammen habe ich ihn später zu einem Lustspiel verarbeitet, und offen gestanden, ist mir die Zeit des "bunten Rockes" in viel angenehmerer Erinnerung als die andere. Anmerkung 1: Anmerkung 2: Hier fehlt im vorletzten Absatz hinter „. . . zu schriftstellern” das Textstück: und fand namentlich in dem Wiener Schriftsteller Karl Erasmus Kleinert, dem damaligen Chefredakteur einer Hamburger Zeitung, der jetzt, wenn ich mich nicht irre, als kaiserlicher Rat in Wien lebt, einen warmen Förderer. (zurück) Dort fehlt der Absatz, in dem die wahre Todesursache von Prinz Ludwig erwähnt wird, von „Wir Fähnriche” bis „Schwester geraubt”. Anmerkung 3:Kieler Neueste Nachrichten Nr. 7
Aus meiner DienstzeitMilitärische Erinnerungen von Frhrn. v.Schlicht (Wolf Graf Baudissin)
Generalfeldmarschall Graf Waldersee vermerkt in seinem Tagebuch unter dem 23. Februar 1888 den Tod von Prinz Ludwig.
Wikipedia: Ludwig Wilhelm von Baden (* 12. Juni 1865 in Baden-Baden; † 23. Februar 1888 in Freiburg im Breisgau)
Genaues über diese Angelegenheit ist zu finden in der „Freiburger Zeitung” vom 24.2.1888 u.ff. (zurück)
Dieser Text ist — fast — identisch mit dem Text der Erzählung „Aus meiner Dienstzeit” in dem Band „Humoresken und Erinnerungen”.
In dem Roman „Im Laufgraben” - von Eva Gräfin Baudissin, in „Deutsche Romanbibliothek”, 34. Jahrgang, zweiter Band, Seite 889 bis 1033 - wird das Leben der Familie Fred und Lulu von Brieg beschrieben. Fred von Brieg ist Leutnant, sein Truppenteil liegt in der Kaserne, die der Wohnung der Briegs gegenüberliegt. Im Spätsommer 1892 - während der Manöverzeit, der Sohn des Ehepaars von Brieg ist einige Monate alt, genau wie der (erste!) Sohn der Familie Wolf und Eva Baudissin - sind Hauptmann Schönast und Leutnant Fred von Brieg zur Ausbildung der eingezogenen Ersatzreserve bestimmt. Eva Baudissin bringt in ihrem Roman nun die Beschreibung der Probleme, die die Cholerazeit - im Spätsommer 1892 herrschte in Hamburg die Cholera - der kleinen Familie aufbürdet.