Im Brunnen.

Eine Manövererinnerung.
Preishumoreske von Graf Günther Rosenhagen.
Mit Originalzeichnungen von R.Knötel.
In: „Deutscher Soldatenhort”, Band 5, 1894, S. 420.


Brunnen-1.jpg„Minsch, Krischan, seg' mi' mal, wo sünd wi hier eigentlich?”

„Achter'm Knick.”

„Döskopp, det weet ick ganz alleen; ick meen man, wo dat hier heet?”

„Tau de veelen Knicks.”

Ich drehte mich um und gebot meinen beiden Entfernungsschützen(1), die in der Schützenlinie dicht hinter mir lagen, Ruhe. So ganz unrecht aber hatte der tüchtige Gefreite Grodotzki nicht mit seiner Antwort: so weit das Auge schweifte, nichts als Knicks; es war wie vor Le Mans. Wenn wir einen Sprung gegen den Feind gemacht hatten und in Uebermacht gegen ihn anliefen, zog er sich aus seiner Stellung zurück, um sich hinter einem anderen Knick wieder festzusetzen — es konnte Einem ganz knickerig dabei zu Muth werden.

„Wenn ick man wenigstens noch 'nen Knickebein hedd'!” flüsterte Grodotzki leise seinem Kameraden zu, als wir uns athemlos abermals hinter einem Wall niederwarfen.

Endlich kam das Signal „Halt!” und der Befehl zum Abrücken. Die Gewehre wurden umgehängt, und wir zogen auf einem tiefen, staubigen Landweg unserem Quartier entgegen. Trotz der großen, überstandenen Anstrengungen waren wir Alle heiterer und munterer denn je: morgen war Ruhetag, und wir gedachten einen langen Schlaf zu thun. Dazu kam, daß die Quartiere, einem Gerüchte zufolge, ausgezeichnet sein sollten; die Leute hatten seit Jahren keine Einquartierung gehabt und würden nun natürlich Alles thun, was in ihren Kräften stand, um uns den Aufenthalt angenehm zu machen.

„Nun, wer darf sich so glücklich preisen, mich die nächsten 48 Stunden mit meinem Zuge zu beherbergen?” fragte ich den uns entgegenkommenden Fourier.

„Der Brunnenwirth, Herr Lieutenant, feines Quartier, wirklich ganz famos,” dabei flog ein freudiges Lächeln über sein Gesicht.

„Sie liegen wohl auch da?”

„Leider nein, Herr Lieutenant; der Herr Lieutenant liegen dort sogar ganz allein.”

Ich athmete auf. Endlich allein. Die letzten Tage hatten wir auf einem Pachthofe so eng gelegen, daß wir fünf Offiziere uns in eine ganz kleine, schmale Dachkammer theilen mußten, in der nur drei Waschtische Platz gehabt hatten. Die Folge davon war, daß wir jeden Morgen ausriethen, wer sich zuerst waschen sollte. Es war schauderhaft gewesen. Aber so geht's im Soldatenleben, heute schlecht, morgen gut, übermorgen besser.

Nach wenigen Minuten stand ich vor dem mir bezeichneten, mit grünem Efeu umrankten Wirthshaus „Im Brunnen”. Ich ging über die Diele und öffnete, da mir Niemand entgegenkam, um mir Bescheid zu sagen, auf gut Glück eine Thür. Ich befand mich in der Gaststube. Der Fußboden war mit weißem Sand bestreut, glatt gestrichene und sauber abgewaschene Wachstücher bedeckten die Tische, aber eine Todtenstille herrschte in dem Raum; vergeblich sah ich mich nach einer Fliege oder einem anderen lebenden Wesen um. Doch dort, hinten an dem großen Ofen, schien sich etwas zu bewegen; ich schritt näher und erblickte den Wirth, der seine beiden Hände tief in die weiten Hosentaschen vergraben, den breiten Buckel an dem eisernen Freunde scheuerte. Freundlich ging ich ihm entgegen.

„Guten Tag, Herr Wirth.”

„Goden Dag ok.” Die Hände blieben in ihrem Versteck, und besonders viel Liebenswürdigkeit war in dem Gesicht des Alten gerade nicht zu finden.

„Ich bin mit meinem Zuge auf 48 Stunden bei Ihnen einquartiert.”

„So, de Lieutenant sünd Sei?”

„Allerdings, wenn es Ihnen weiter nicht unangenehm ist. Besonders erfreut scheinen Sie aber über diesen militärischen Besuch nicht zu sein?”

„Nee.” Das klang so offen und natürlich, daß man merkte, es kam ihm von Herzen.

„Glücklich ist, wer vergißt, was nicht mehr zu ändern ist,” erwiderte ich, „vielleicht vertragen wir uns aber doch noch ganz gut; an mir soll es wenigstens nicht liegen.”

Er brummte irgend etwas vor sich hin, und da ich vorläufig noch nicht wußte, wohin ich mein müdes Haupt betten sollte, setzte ich mich auf das glatte Ledersopha und schaute meinen noch immer in derselben Stellung verharrenden Wirth an. Schließlich mußte ihm aber meine hartnäckige Beobachtung doch peinlich werden, denn er fragte plötzlich: „Sie hewwen wull noch nie 'nen Menschen seh'n?”

„Menschen genug,” antwortete ich, „aber ich besehe Sie, weil Sie nach der Aussage meines Unteroffiziers ein „famoses Quartier” sein sollen, und davon habe ich bis jetzt noch verdammt wenig bemerkt.”

Der Alte sah mich erstaunt an: „Wat verlang'n Sei denn eigentlich von mi?”

„Zunächst etwas zu essen; das ist mein Recht, dafür erhalten Sie bezahlt, und außerdem habe ich einen Mordshunger.”

„So, Hunger hewwen Sei? Na, det heddn Sei man glicks seggen könnt.” Er setzte seinen schwerfälligen Körper in Bewegung und verschwand in dem Nebenzimmer. Ich hörte ein lautes Poltern und Schelten, dann öffnete sich die Thür, ein junges Bauernmädchen erschien, deckte den Tisch und stellte ein Glas warmen Bieres vor mich hin. Dann brachte sie das Essen; zuerst die Suppe mit furchtbar viel dicken, harten Klößen und noch mehr Fettaugen und dann — „Allmächtiger im Himmel, hab' Erbarmen,” flehte ich — aber es geschah kein Wunder, sondern das Unglück kam gerade auf mich los und stand gleich darauf vor mir in seiner ganzen, reisverzierten Schönheit — als Manöveradler. Ich knickte wie eine gebrochene Lilie mit einem hörbaren Ruck zusammen. Waren denn die Hühner nur geboren, um mich unter die Erde zu bringen? Vierundzwanzig Tage war ich nun schon aus der Garnison fort, ebenso oft hatte ich im Quartier oder im Biwak gegessen und vierundzwanzigmal war mir der Manöveradler vorgesetzt.

Der Wirth mußte mein entsetztes Gesicht beobachtet haben: „Nun, is Sei det Eten vielleicht nicht god 'nog?”

„Aber ich bitte Sie, wie mögen Sie nur so etwas denken!” versetzte ich. Mit einem Eifer, als wenn ich mir mein Leben retten könnte, schlug ich meine Zähne in das Fleisch des etwas antiken Vogels: „In der Antike liegt der wahre Wert,” war das Lieblingscouplet des Charakterkomikers Wansemehr unserer Kompagnie. Aber während ich mir mit dem edlen Gerstensaft das zahme Thier herunterspülte, dachte ich darüber nach, worin denn eigentlich „das Famose” meines Quartiers bestände; ein unliebenswürdiger, um nicht zu sagen grober Wirth, eine Verpflegung, die nur den Vortheil hatte, daß sie wegen ihrer Zähigkeit lange vorhielt; was blieb noch übrig, um mir das Leben hier angenehm zu gestalten? — Da öffnete sich die Thür zum Nebenzimmer abermals und herein trat mit dem Kaffeebrett in der Hand ein junges Mädchen von vielleicht neunzehn Jahren, groß und schlank gewachsen, mit rothen Wangen, blauen Augen und dicken, schwarzen Zöpfen, ein Prachtmädel! Nun wurde mir Verschiedenes klar.

„Min Dochter,” sagte der Wirth.

Brunnen-2.jpgIch stand auf, gab dem jungen Mädchen die Hand und wunderte mich immer mehr, wie solcher Vater zu einer solchen Tochter käme. Na, das ging mich schließlich ja nichts an; in Familien­angelegenheiten mische ich mich grundsätzlich nicht; so freute ich mich denn darüber, daß sie überhaupt da war und nahm aus ihren schönen Händen den barbarisch schlechten und stark nach Cichorien riechenden Kaffee entgegen. Der schwächste Mokka kann aber durch eine gute Cigarre verschönt werden und umgekehrt. So griff ich denn in die Rocktasche, holte mein Etui heraus und bot auch dem Wirth eine an. Selbst die wildesten Wilden sollen ja durch eine Friedenspfeife zu civilisirten Menschen gemacht werden können, warum nicht auch dieser von der europäischen Kultur wenig beleckte Wirth?

„Ja,” sagte er, „nehmen thue ich sie wohl, aber schenken lat ick mi von Sei nicks.”

„Sie wollen mich doch nicht etwa bezahlen?”

„Nee, aber Sei möten een von mi smöken.”

Ich willigte ein, obgleich mir schon im Voraus schauderte. Der einzige Luxus, den ich mir nämlich gestatte, sind gute Cigarren, und vor allen Wald-, Feld-, Flur- und Wisencigarren, wie man sie hier zu Lande rauchte, hatte ich eine heilige Scheu. Die Tochter sprang auf und bot mir auf silbernem Teller eine verdächtig aussehende Giftnudel dar. Ich brannte mir den Tabak an und mein Wirth schaute bewundernd auf die lichten Wolken, die mich gleich darauf umgaben. Ich sah es ihm an, er wartete auf ein Lob.

„Ein hübsches Kraut,” sagte ich, „wie theuer verkaufen Sie denn die hier?”

„Je nun,” erwiderte er, „je nachdem, tau fiev oder tau teihn Peenn.”

„Wieso?” fragte ich.

„Ja,” antwortete er, „Herr Lieutenant, mit den Cigarren is det man so'n eigen Ding. Da hett doch Jedermann seinen besunderen Geschmack, und recht machen kann man das doch Niemanden nich. Deshalb hol' ick mi do ok garnicht lange mit up: Een Sort Cigarren heww ick öberhaupt man, aber in twei Kisten, de een mit 'nem Deckel un de andere ohne Deckel. Will nun Einer 'ne Cigarre to fiev Penn, denn lang ick in de opene Kist un giw sei em ut de la main, as de Franzos' seggt, will hei nun aber absoluten einen tau teihn Penn, dann nehm ick sei ut de andre Kist un leg sei em fin up so'n Praesentierteller, just as bi Sei.”

„Donnerwetter, das ist ja — höchst einfach,” sagte ich. „Betrug” hatte ich sagen wollen, doch ich verschluckte das beleidigende Wort.

Nun wurde es aber Zeit, daß ich ging; die Cigarre fing an, mich elend zu machen. „Na, Herr Wirth, nun will ich nach oben gehen und mich ein bischen auf's Ohr legen.”

Ich suchte mein Zimmer auf, zündete mir eine Echte an, zog mir mit Hülfe meines treuen Peter die Langschäftigen aus und übte „Garnisonklappdienst”. Ich besitze die Kunst, während des Nachmittagsschlafes zu rauchen und zu erwachen, sobald der Stummel mir meine Schnurrbart­haare sengt. Meine Cigarre brannte noch — lange konnte ich also noch nicht geschlummert haben, als mich ein gar sonderbares Geräusch störte. Es war gerade unter mir, und auf einmal kam mir die Erkenntniß, es wurde Klavier gespielt und dazu gesungen. Aus der unendlichen Menge falscher Töne eine Melodie herauszuhören, war unmöglich, aber nun verstand ich die Worte, die Sängerin war gerade bei dem Fortissimo angelangt: „Allein zu sein, o welche Himmelspein!” Um Gotteswillen, dachte ich, wenn die da unten nicht bald Gesellschaft bekommt, wird die Sache gefährlich; hoffentlich erscheint Jemand. Ich kroch unter die Bettdecke, band mir das Kopfkissen mit meinen Hosenträgern fest um die Ohren und versuchte weiterzuschlafen, denn ich war todtmüde. Vergebens: „Allein zu sein, o welche H i i i—m—melspein!” Ich vergaß alle Rücksichten der Höflichkeit, ich ergriff einen Stuhl und trommelte auf den Fußboden. Die Sängerin — wie ich an der Stimme erkannte, die Tochter des Hauses — mußte den Skandal, den ich da oben vollführte, für einen Beifallssturm halten, sie verdoppelte ihre Kräfte und sang mit fast übermenschlicher Anstrengung und Ausdauer: „Allein zu sein, o welche Himmelspein!” Ich sprang auf, ich konnte es nicht mehr ertragen, ich wollte zu ihr hinunterstürzen und sie anflehen: „Hab' Erbarmen mit mir Armen,” aber mein getreuer Peter hatte meinen Anzug zum Reinigen fortgenommen, mein Koffer irrte noch irgendwo im heiligen deutschen Reich herum, was sollte ich machen? Ich eilte ans Fenster, Hülfe zu erspähen, da ging gerade der Gefreite Grodotzki vorüber, ein tadelloser Soldat und ein bildhübscher Kerl. Ich rief ihn an, und wenige Minuten später stand er vor mir in meinem Zimmer, wo ich wie ein wildes Tier in seinem Käfig herumlief.

„Grodotzki, hören Sie dieses Geschrei und Gebrüll unter uns?”

„Zu Befehl, Herr Lieutenant.”

„Ich halt's nicht mehr aus, keine fünf Minuten mehr, dann ist es mit mir vorbei.”

„Soll ich das Thier todtschlagen, Herr Lieutenant?”

„Es ist kein Thier, es ist ein Weib, bildhübsch, jung, nett, überhaupt mit allen Vorzügen ausgestattet, die ein weibliches Wesen besitzen kann. Sie hat nur einen Fehler, sie kann das Alleinsein nicht vertragen, gehen Sie hin zu ihr, leisten Sie ihr Gesellschaft, machen Sie mit ihr, was Sie wollen, ist mir ganz egal, aber Ruhe will ich haben, Ruhe, Ruhe! Verstanden?”

„Zu Befehl, Herr Lieutenant.”

Grinsend und seine schneeweißen Zähne in ihrer ganzen Schönheit zeigend, verschwand er. Ich lauschte. Einen Augenblick später ertönte ein Schrei, der das Haus in seinen Grundmauern erbeben ließ, dann Todtenstille. „Ist ein verfluchter Kerl, der Grodotzki,” dachte ich, während ich mich wieder niederlegte, „hoffentlich hat er sie nicht ganz umgebracht.”

Als ich nach einem erquickenden Schlaf einige Stunden später das Gastzimmer wieder betrat, traf ich dort nur Grodotzki, der selig lächelnd hinter einem Glas Bier saß. „Na,” redete ich ihn an, „was haben Sie denn mit dem Mädchen gemacht, die schrie ja furchtbar.”

„Ich habe ihr — bautz — was auf den Mund gegeben, Herr Lieutenant.”

„Pfui, schämen Sie sich nicht, als Mann ein Weib zu schlagen?”

Freudestrahlend sah er mich an: „Herr Lieutenant, ich habe sie ja nicht geschlagen, ich habe sie ja man blos auf den Mund geküßt.”

„So, so,” erwiderte ich, „das ist allerdings etwas Anderes, aber was sagte denn Fräulein Julie zu diesem militärischen Ueberfall?”

„Sagen konnt' sie nichts, aber gekratzt und geschlagen hat sie mich, feste, sehen der Herr Lieutenant nur 'mal her,” und mit glücklichem Lachen zeigte er mir eine tiefe Kratzwunde an seiner Hand, „ja, ja, die versteht's.”

Nun kam der Wirth herein. Grodotzki trank sein Bier aus und entfernte sich. Ich war wieder mit dem Liebenswürdigsten aller Gesellschafter allein.

„Sagen Sie mal, Herr Wirth, haben Sie vielleicht eine Zeitung zu lesen?”

„Wat woll'n Sei denn lesen?”

„Was es Neues giebt in der Welt.”

„Nee, so'n Blatt heww ick nich, for so wat hewwn wi hier keen Sinn, wi sünd uns sülbsten 'nog.”

„Aber dann müssen Sie sich doch immer furchtbar langweilen, wenn Sie immer allein —”

„Allein zu sein, o welche Himmelspein!” tönte es gedämpft zu uns herüber, dann ein unterdrückter Schrei, und es war wieder still.

„Das war Grodotzki,” sagte ich halblaut vor mich hin.

„Nee,” erklärte der Wirth ganz stolz, „dat war min Dochter.”

„Ihre Tochter scheint sich zuweilen aber doch recht einsam zu fühlen; sie müßte heirathen, ist doch ein hübsches Mädchen.”

„Ja, ja, und dann das viele Geld, das sie mitkriegt.”

„Donnerwetter, das wäre 'ne feine Partie —” Den Schlußsatz „für Grodotzki” behielt ich für mich.

„Ja, ja, das will ich meinen,” fuhr der Alte auf einmal ganz redselig fort, „das wär' so 'ne Frau für Sie, 'ne bessere könn' Sei gar nicht finden.”

„Glaub's schon,” entgegnete ich, „aber auf mich dürfen Sie nicht hoffen, ich bin schon verheirathet.”

„I, det dheit mi aber leed.” Und nach einer langen Pause fragte er nachdenklich: „Un scheiden laten wulln Sei sick wul nich?”

„Ich glaube kaum, daß meine Frau damit einverstanden wäre, aber ich könnt' ja 'mal deswegen an sie schreiben.”

„Nee, nee,” meinte er, „dat loten Sei man wesen, Frugenslüd sünd in so was immer schwerfällig, dat weet ick von min eegen Fru.”

„Sie sind geschieden?”

„Gott sei Dank!” Und nun erzählte er mir ausführlich von seiner verstoßenen Ehehälfte, an der er kein gutes Haar ließ. Ich athmete erleichtert auf, als mehrere Gäste, darunter der Schullehrer und der Schulze des Dorfes, ins Zimmer traten und dem unerquicklichen Gespräch ein Ende machten. Ich setzte mich mit den Honoratioren zusammen, spielte mit ihnen einen Skat zum fünfundzwanzigstel Pfennig und pumpte mir den Magen voll entsetzlichen Bieres. Als es gegen zehn Uhr wurde, fing der Schulze an, unruhig zu werden und auf seinem Stuhl hin- und herzurutschen; ich konnt' es nicht mehr mit ansehen:

„Lieber Herr, wenn Sie 'mal herauswollen, bitte, geniren Sie sich meinetwegen nicht.”

Er verschwand, und gleich darauf erklang draußen das schöne Lied: „Hört, Ihr Leut', und laßt Euch sagen, die Uhr hat Zehn geschlagen.” Erstaunt sah ich mein Gegenüber an: „Es ist nur,” flüsterte dieser mir zu, „weil der Nachtwächter krank ist, da hat der Schulze für ihn das Absingen übernommen.” Mit einem etwas verlegenen Gesicht erschien der Sänger gleich darauf wieder und unser Skat dauerte ohne weitere Unterbrechung bis in die tiefe Nacht. Ich ging endlich mit der festen Absicht zu Bett, bis zum Mittag zu schlafen, aber unruhige Träume quälten mich, ich sah den Nachtwächter-Schulzen von einer Räuberbande überfallen, es kam zu einem furchtbaren Straßenkampf, mit meinem Zuge eilte ich zu Hülfe, da packten mich plötzlich von hinten starke Fäuste und schleppten mich in das leere Spritzenhaus. Draußen tobte der Kampf; ich war gefangen, gefesselt, allein: „Allein zu sein, o welche Himmelspein —”. Mit einem Fluch war ich aus dem Bett. Hatte auch sie, wie ihr Vater, Absichten auf mich, oder sang sie nur, um von Grodotzki geküßt zu werden? Denn er, der Rächer, war in der Nähe, ich hörte eine schallende Ohrfeige — das war sie — darauf einen gellenden Schrei — das waren sie und er — dann war es still. Ich stand auf, ließ mir von Peter den Morgenkaffee — etwa 24 Bohen auf 20 Tassen — bringen und schlenderte später, meine Morgencigarre rauchend, durch den Garten.

Brunnen-3.jpgPlötzlich sah ich Fräulein Julie vor mir und nicht fern von ihr, gebückt hinter dem Buschwerk, den Gefreiten Grodotzki. Fräulein Julie schien in tiefe Gedanken versunken, plötzlich blieb sie stehen, warf trotzig den Kopf in die Höh' und schrie, daß die Vögel erschrocken aus den Nestern fielen: „Allein zu sein —”. Da war Grodotzki aber auch schon heran, ein Aufschrei aus gequältem Mädchenherzen, dann stürzte sie, so schnell sie konnte, davon, immer geradeaus, ohne nach rechts und links zu sehen, und sank plötzlich auf der Bank in einer Laube nieder. Mit einigen gewaltigen Sätzen war auch Grodotzki heran, und ich beobachtete neugierig, wie dieses Zusammentreffen enden würde:

„So, Geliebte,” hörte ich Grodotzki zu ihr sagen, „nun ist Ihr Wunsch erfüllt, nun sind Sie nicht mehr allein.”

„Ich will aber allein sein!”

„Warum singen Sie denn immer: „Allein zu sein, o welche Himmelspein?”

„Weil es mir Vergnügen macht.”

„So, aber Sie kennen doch das schöne Wort: Wat dem Eenen sin Uhl, is dem Andern sin Nachtigall?”

„Frecher Mensch,” schalt sie, „wenn Sie mich nicht sofort gehen lassen und mich noch ein einziges Mal küssen, verklage ich Sie bei dem Herrn Lieutenant.”

„Um Gotteswillen, nur das nicht, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist,” bat Grodotzki, „der darf überhaupt gar nicht wissen, daß Sie noch leben.”

Erstaunt sah sie ihn an. „Jawohl, Fräulein Julie, das darf er gar nicht ahnen. Grodotzki, hat er zu mir gesagt, — ich heiße nämlich Grodotzki, Fräulein, — schlag' sie todt, hat er zu mir gesagt, schlag' sie todt, wenn sie immer singt, ich halt's nicht mehr aus.”

„Na warte man, mein Junge,” dachte ich, „das will ich Dir gedenken.”

Fräulein Julie brach in Thränen aus: „Ach, und ich habe ihm doch nur eine Freude durch meinen Gesang bereiten wollen.”

„Na, Fräulein, nehmen Sie sich das nur nicht zu sehr zu Herzen. Sie wissen ja, Undank ist der Welt Lohn. Kommen Sie, seien Sie nicht so traurig.” Er hatte sich ihr genähert, zog die sich mit Händen und Füßen Wehrende an sich und gab ihr — „bautz” — verschiedentlich was auf den Mund. Nun aber riß Julie sich los und eilte davon: „Sie Scheusal, Sie!”

Erstarrt sah Grodotzki ihr nach, dann lachte er laut auf: „Ich kriege sie doch noch,” sprach er vor sich hin, „wenn die Mädchen erstmal „Scheusal” sagen, dann ist es immer schon ein gutes Zeichen, aber wenn sie gar nichts sagen, dann ist die Sache faul — oberfaul.”

Erröthend folgte er ihren Spuren und ich setzte meinen Spaziergang fort, entschlossen, mir den Gefreiten gleich bei meiner Rückkehr zu „kaufen”. Als ich gegen Mittag heimkam und die Gaststube betrat, hörte ich einige Zimmer von mir entfernt ein fürchterliches Geschrei und Gejohle.

„Um Gotteswillen!” fragte ich den ruhig an seinem Ofen lehnenden Wirth, „was ist denn hier los?”

„Wenn mi dat nicks angeiht, geiht Sei det doch wull erst recht nicks an,” lautete die höfliche Antwort. Aber es ging mich doch was an, denn ich glaubte eine bekannte Stimme zu hören. Ich folgte dem Geräusch, öffnete eine Zimmerthür, entschlossen, dem Unfug ein für allemal ein Ende zu bereiten, und kam gerrade zur rechten Zeit, um zu sehen, wie Fräulein Julie zärtlich ihre Arme um den Hals des Gefreiten schlang.

„Oho,” rief ich, „was ist denn hier los?”

Mit seiner Linken wischte sich Grodotzki den von seiner Stirn herunterperlenden Schweiß, mit seiner Rechten führte er das züchtig erröthende Mädchen: „Herr Lieutenant, ich habe mich soeben verlobt.”

Ich dachte an die Scene in der Laube, aber heute wollte ich das Glück der Neuverlobten nicht stören: „Na, da gratulir' ich Euch, aber so weit hätten Sie Ihre Gefälligkeit nicht zu treiben brauchen. Das war nicht meine Absicht, als ich Sie gestern Mittag zu Fräulein Julie schickte.”

Ich ging davon, die beiden Glücklichen sich selbst überlassend, wandte mich wieder dem mürrischen Alten zu und wagte die bescheidene Anfrage, ob ich wohl etwas zu essen bekommen könnte: „Det Middag is all' lang baben,” lautete die tröstliche Antwort, und ich ging, um mich zum sechsundzwanzigstenmal an die Vertilgung des Manöveradlers zu machen. In dem ganzen Hause herrschte eine Todtenstille; da war der stumme Wirth, der nur Grobheiten sagte, Fräulein Julie, die nun, da sie des Alleinseins überhoben, sich weder sehen, noch hören ließ; es war grausig langweilig und die Minuten schlichen mir wie die Stunden dahin.

Am nächsten Morgen sollte ich mit meinem Zuge abrücken, um zur Kompagnie zu stoßen. Vorher aber übernahm ich von meinem freundlichen Gastgeber Abschied, den nicht einmal die bevorstehende Trennung aus der Ofenecke gelockt hatte.

„Adjüs ok,” antwortete er auf meine Danksagungen für das „famose” Quartier; „na, vorläufig kriegt wi doch wul keen Einquartierung wedder?”

„Wer weiß,” entgegnete ich und sah Fräulein Julie an, die mit rothgeweinten Augen neben mir stand, „Einer von uns wird hier doch wohl sein Zelt aufschlagen, und das wird sogar Sie erfreuen, denn Sie kennen ja auch das schöne Lied:

„Allein zu sein, o welche Himmelspein!”


Fußnoten:

(1) Gemeint sind wohl die „Entfernungsschätzer”. (Zurück)


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